Was ist Metaphysik?

Eine neue Antwort auf eine alte Frage

[Erstfassung]

von Helmut Walther, Nürnberg

Eine überarbeitete und gekürzte Fassung dieses Textes wurde in Aufklärung und Kritik 1/1997, S. 61 ff. veröffentlicht
und kann im Internet eingesehen werden.


Lesen Sie zur gleichen Thematik auch meine weiterführenden Beiträge aus dem Jahr 2009:
Metaphysik und Evolution
I. Der Zusammenhang beider Begriffe - II. Der Evolutionsgedanke
III. Metaphysik als Teil der Evolution IV. Richtige und falsche Metaphysik

Von Thales zu Einstein
I. „Thales“: Vom Verstand zur Vernunft - Odysseus und die Vorsokratiker
II. Die neuronale Grundlage - Schichtenaufbau der neuronalen Netzwerke
III. Ein Schnelldurchlauf durch die Rezeption und Reflexion der Vernunft
IV. Mit Einstein „über die Vernunft hinaus“?




Unter dem Begriff Metaphysik versteht heute wohl jeder etwas anderes – und niemand weiß so ganz genau, was sie ihrem eigenen Wesen nach sei; es bedarf daher zunächst der Bereitstellung einiger Bausteine, um uns der eigentlichen Aufgabe zu versichern; dies wird sein

– die eine oder andere Definition, was bislang unter Metaphysik verstanden worden ist.
– ein Schema der Funktion des menschlichen Geistes, der diese Metaphysik hervorbringt.
– eine psychologisch-geschichtliche Beschreibung der Entstehung von Metaphysik.

Zuletzt können wir versuchen, die Funktion des Geistes und die Entstehung von Metaphysik miteinander zu verbinden.

1. Eine brauchbare Definition soll uns Kant liefern, der als erster systematisch auf Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft aufmerksam geworden ist; dem wird gegenübergestellt eine rein metapyhsische Deutung von Metaphysik, wie Heidegger sie gibt, indem er ganz in der Tradition von Descartes, dessen 400. Geburtstag auf den 5. April des Jahres fiel, das Denken des Menschen völlig von seinen funktionalen Gegebenheiten und seiner entwicklungsgeschichtlichen Herkunft trennt. Zunächst also Kant:

„Das Feld der Philosophie ... läßt sich auf folgende Fragen zurückbringen:

1) Was kann ich wissen ? Das zeigt die Metaphysik.
2) Was soll ich thun ? Das zeigt die Moral.
3) Was darf ich hoffen ? Das lehrt die Religion
4) Was ist der Mensch ? Das lehrt die Anthropologie.“ (S. 3 f.)

„Die Philosophie, wie auch die Mathematik, kann in zwei Theile getheilt werden, nämlich in die reine und in die angewandte. – Die Metaphysik ist das System der reinen Philosophie. Das Wort Metaphysik bedeutet eine Wissenschaft, die über die Grenzen der Natur hinausgehet. (Natur ist der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung.)

Ein Principium ist eine allgemeine Regel, welche wieder andere Regeln unter sich enthält. Wenn wir alle reinen Begriffe, die ganz von den empirischen gesondert sind, zusammen nehmen; so bekommen wir dadurch eine Wissenschaft. Die philosophische Erkenntnis besteht aus solchen bloßen Begriffen a priori.

Die Physik ist die Philosophie über die Natur, insofern sie von den Principien aus der Erfahrung abhängt; die Metaphysik aber ist die Philosophie über die Natur, in sofern sie von den Principien a priori [!] abhängt. Die Moral [Ethik] lehrt uns die practischen Principien der Vernunft. Die Begriffe, worauf alles angelegt zu seyn scheint, ist der Begriff von einem höchsten Wesen und einer andern Welt.

Die Metaphysik ist nothwendig. Ihr Grund ist die durch empirische Begriffe niemals zu befriedigende Vernunft. Die Vernunft findet weder in der Betrachtung der Dinge Befriedigung, noch im Felde der Erfahrung, d. h. in der Sinnenwelt. Der Begriff von Gott und von der Unsterblichkeit der Seele, das sind die beiden großen Triebfedern, weshalb die Vernunft aus dem Felde der Erfahrung herausgegangen.“ Offenbar scheidet Kant hier also die empirische „angewandte“ Erfahrung des Verrstandes von der „reinen“ Metaphysik der Vernunft.

„...Die Hauptwissenschaften, die in die Metaphysik gehören, sind: Ontologie, Kosmologie und Theologie... Die Ontologie ist eine reine Elementarlehre aller unserer Erkenntnisse a priori, oder: sie enthält den Inbegriff aller unsrer reinen Begriffe, die wir a priori von Dingen haben können... Die Kosmologie ist die Weltbetrachtung durch die reine Vernunft... Die letzte metaphysische Hauptwissenschaft ist die rationale Theologie.“ Mithin: Ontologie ist Wesenserkenntnis der Vernunft, ihr Ziel ist die Erkenntnis des „Wesenswas“ als proton ousia, wie Aristoteles sagen würde, bzw. mit Platon die Erkenntnis der Ideen: dasjenige Sein, von dem alles „nur“ Seiende sein „wahres Sein“ herbezieht: die Vernunft erbaut sich ihr Feld über dem Verstand: Kant’s „Begriffe a priori“.

„...Die Ontologie ist der erste Theil, der wirklich zur Metaphysik gehört ... und bedeutet soviel als die Wissenschaft der Wesen, oder recht nach dem Wortverstande die allgemeine Wesenslehre. Die Ontologie ist die Elementarlehre aller meiner Begriffe, die mein Verstand a priori nur haben kann.“ (S. 11 ff.) Hier sehen wir sogleich die Kant’sche Begriffsverwirrung, denn hier hätte er Vernunft sagen müssen.

„Wollen wir daher wissen, wie eine Kenntniß vom Menschen a priori möglich ist; so müssen wir alle Kenntnisse a priori unterscheiden und untersuchen; alsdann können wir die Grenzen des menschlichen Verstandes bestimmen, und alle Chimairen, die sonst in der Metaphysik möglich sind, werden unter bestimmte Principien und Regeln gebracht.“

Kant fußt also ganz offenbar auf Aristoteles, wenn er wie jener den Unterschied von Verstand und Vernunft, Empirie und Ontologie, Physik und Metaphysik, erster und zweiter ousia, nous pathetikos und nous poietikos sieht; andererseits hält er diesen Ansatz nicht durch, wenn er Verstand und Vernunft wie Moral und Ethik im weiteren vermischt. Dennoch bildet sein statisch-metaphysischer Gedankenbau eine geeignete Basis für die späteren Überlegungen, weil er auf die wichtigsten Umstände wie die Schichtung des menschlichen Geistes und das Eigenständige der Metaphysik, insbesondere als Wesenslehre, aufmerksam geworden ist, wenn er diese Probleme auch noch nicht entwicklungsgeschichtlich lösen konnte.

Ganz anders Heidegger, der als Antwort auf unsere Frage wiederum nur Metaphysik bzw. Mystik gebiert: „Die Metaphysik verschließt sich dem einfachen Wesensverstand, daß der Mensch nur in seinem Wesen west, in dem er vom Sein angesprochen wird. Nur aus diesem Anspruch ‘hat’ er das gefunden, worin sein Wesen wohnt. Nur aus diesem Wohnen ‘hat’ er ‘Sprache’ als die Behausung, die seinem Leben das Ekstatische wahrt. Das Stehen in der Lichtung des Seins nenne ich die Ek-Sistenz des Menschen. Nur dem Menschen eignet diese Art zu sein.“ „Das, was der Mensch ist, das heißt in der überlieferten Sprache der Metaphysik das ‘Wesen’ des Menschen, beruht in seiner Ek-sistenz.“ ... „Der Mensch west so, daß er das ‘Da’, das heißt die Lichtung des Seins, ist. Dieses ‘Sein’ des Da, und nur dieses, hat den Grundzug der Ek-sistenz, das heißt des ekstatischen Innestehens in der Wahrheit des Seins.“ „Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst.“ „Die Sprache ist so die Sprache des Seins, wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.“

Tönt hier nicht die Wandlungsglocke des Mysteriums? Myrrhedüfte vernebeln das Denken, ungewollt von Weihwasser besprengt ergreift man die Flucht. Heidegger zieht sich verklärend auf das „Geheimnis“ der „lichtend-verbergenden Ankunft“ zurück, statt den Versuch der Erklärung des Wesens von Mensch und Sprache zu wagen, wie es Kant oben andeutete.

Metaphysik ist für ihn die Wurzel des Baumes der Philosophie, die jenen nährt als Wahrheit des Seins, ohne daß allerdings die Wahrheit des Seins selbst gedacht werde: „Ob und wie Sein solche Unverborgenheit mit sich bringt, ob und wie gar Es selbst sich in der Metaphysik und als diese anbringt, bleibt verhüllt... Die Philosophie versammelt sich nicht auf ihren Grund. Sie verläßt ihn stets, und zwar durch die Metaphysik.“ ... „Zur Entscheidung steht, ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit seinen Bezug zum Wesen des Menschen ereignen kann oder ob die Metaphysik in ihrer Abkehr von ihrem Grunde fernerhin verwehrt, daß der Bezug des Seins zum Menschen aus dem Wesen dieses Bezuges selber zu einem Leuchten kommt, das den Menschen zum Gehören in das Sein bringt.“

Wir sehen, der Wahrheitslieferant ist hier das Sein selbst, von dem her die „Lichtung“ in der „Ek-Sistenz“ allein für den Menschen in seinem „Hause“, der Sprache, erfolgen kann. Damit wird der Mensch völlig von der Natur abgeschnitten, Geist zu einem unverstehbaren Sondermedium, aus und mit dem das Sein den Menschen anspreche: „...alle darwinistischen Gedankengänge [müssen] aus dem Spiel bleiben. Vor allem meint Nietzsches Gedanke, Mensch und Welt überhaupt erst vom Leib und von der Tierheit aus zu sehen, keineswegs, der Mensch stamme vom Tier und genauer vom ‘Affen’ ab –, als vermöchte überhaupt eine solche ‘Abstammungslehre’ etwas über den Menschen zu sagen!“

Damit soll der Impetus der Naturwissenschaft abgewehrt werden, den Geist des Menschen als natürliches Produkt der Evolution erklären zu wollen, um allein der Philosophie die Erkenntnisbefugnis zuzusprechen. Unter einem solchen Ansatz muß auf ewig unverstanden bleiben, wie die Griechen die Vernunft aufdecken konnten – eben ein „Wunder“.

Doch hüten wir uns, vorschnell der Naturwissenschaft die Palme zu überreichen, die uns über ein Kurzes auch unseren Geist werde verstehen lehren: gerade auch die moderne Wissenschaft ruht – ohne dies expressis verbis kundzutun, sondern diese Tatsache meist bewußt verschleiernd – auf metaphysischem Grunde! Was anderes ist das moderne Weltbild der Physik, wenn der sogenannte „Urknall“ zum deus ex machina erklärt wird, als blanke Metaphysik? Wer kann sich die Welt im Stecknadelkopf zusammengedrängt wirklich vorstellen? Und die Wissenschaft selbst gibt zu, daß sie eine „Physik des Urknalls“ nicht zu geben imstande ist, daß sie daran versagt. Zwar zerschneidet sie nicht, wie Heidegger, Mensch und Natur in zwei unvereinbare Teile, aber das wirkliche Woher muß sie uns ebenso wie Heidegger in ihrem mechanistisch-zerlegenden Weltbild schuldig bleiben, und sie vermag weder das Lebendige an sich noch Leben als ganzheitliche Funktion zu erklären. Damit ruhen aber alle aus dem Urknall-Modell folgenden Annahmen ebenso auf unhinterfragbarer Metaphysik, wie einst die Annahmen des Verstandes vom Mythos getragen wurden.

2. Funktionsschema des menschlichen Geistes

Metaphysik als „System der reinen Philosophie“ ist nach Kant eine Wissenschaft aus „bloßen Begriffen a priori“; dies ist jedoch keine ontologische, sondern eine metaphysisch spekulierende Auffassung von Metaphysik, weil sie „über die Grenzen der Natur hinausgehende“ „Begriffe a priori“ als „reine Philosophie“ und doch gleichzeitig wissenschaftlich-philosophisch denken will, ohne uns zuletzt sagen zu können, woher der menschlichen Vernunft diese Erkenntnis kommen soll – als Grund und eigentliche „Triebfedern “, wie Kant oben meinte, werden uns heute Gott und Unsterblichkeit nicht mehr genügen. Metaphysik und Ontologie als deren einer Hauptbestandteil werden sich nur auf dem Boden der Anthropologie wissenschaftlich erklären lassen, weil nur die Lehre vom Wesen des Menschen einen Blick darauf erlaubt, wie der Mensch dazu kommt, solche „bloßen Begriffe a priori“ zu entdecken, und was diese eigentlich sind. Ontologie ist so gesehen eine ganz andere Weise der Metaphysik als diejenige metaphysische Beschäftigung, die sich mit den Fragen nach Gott und Unsterblichkeit herumschlägt. Um hier auf sicheren Boden zu gelangen, müssen wir daher zunächst die Frage nach dem menschlichen Geist, der diese Metaphysik hervorbringt und (wie auch immer) „bloße Begriffe a priori“ erkennen können soll, und insbesondere nach der Vernunft stellen.

Viele Naturwisschaftler und Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz vergleichen das Gehirn mit einem Computer; dies ist sowohl richtig als auch falsch: Am Modell des Computers können wir einerseits das Wesen von Informationsverarbeitung verstehen: wir hätten sicherlich niemals so etwas wie einen Computer erfinden können, wenn wir uns dabei nicht im Prinzip an ebendiejenige Vorgehensweise gehalten hätten, wie sie in unserem eigenen Gehirn selbst vorliegt. Andererseits ist unser Gehirn in seiner biologischen Gewachsenheit und Beweglichkeit, also in seiner realen Struktur, niemals mit einem Computer vergleichbar: jedes Gehirn ist ein Unikat an genetischer und epigenetischer Vernetzung, sodaß selbst eineiige Zwillinge über kein identisches Gehirn verfügen. Diese Vernetzung des Gehirns zwischen einzelnen „Karten“ und Funktionsschichten ist so hochkomplex und seine ineinandergreifende Arbeitsweise über die einzelnen Funktionsschichten hinweg derart integriert, daß ein reales Verständnis der Gehirntätigkeit etwa aus der Erforschung der Funktion von Neuronen sich gar nicht ergeben kann, weil erst das Zusammenwirken von axonal und dendritisch integrierten, oft weit auseinanderliegenden Neuronennetzen dasjenige bewirkt, was wir zuletzt „Geist“ nennen. Hinzukommt, daß „Geist“ immer in zweierlei Hinsicht zu verstehen ist: einmal als funktionelle Einheit, gleichzeitig ineins gesetzt mit einer wertenden „Zentrale“; alle Gehirnfunktion ist sinnlos, wenn dieser rezipierenden und reflektierenden Tätigkeit keine wertenden Parameter zur Verfügung stehen, an denen entlang sich das Lebewesen verhalten soll. Diese Werte sind in der Epigenese der Lebewesen aber nicht statisch, sondern ebenso dynamisch wie die Epigenese der Gehirnfunktion durch Rezeption und Reflexion selbst. Solche dynamischen Leistungen, bei denen Funktion und Bewertung „reziprok“, also wechselwirksam ineins gesetzt sind und sich gegenseitig vertikal höher treiben, kann ein Computer nie erbringen.

Einige Zahlen zum Kortex: Man schätzt etwa 100 Milliarden bis eine Billion Nervenzellen; jede Nervenzelle steht über bis zu 10.000 Synapsen mit anderen Nervenzellen in Verbindung. Im Kortex gibt es ca. 1015 Verbindungen, also eine Billiarde. Zählte man pro Sekunde eine Synapse, wäre man erst nach 32 Mio Jahren damit fertig. Ein anderes Bild: jeder Streichholzkopf Gehirnmasse enthält etwa eine Milliarde Verbindungen. Bedenkt man die Vielfalt der möglichen Verbindungen, wird die Anzahl der Kombinationen hyperastronomisch: in der Größenordnung einer Eins mit Millionen Nullen. Die Anzahl der positiv geladenen Teilchen im ganzen bekannten Universum ist etwa eine Eins mit achtzig Nullen!

Was wir benötigen, um nicht von vornherein in Metaphysik zu verfallen, ist eine Verbindung des funktionellen Aufbaus des Gehirns mit den geistigen Leistungen, die es zu erbringen in der Lage ist, die also auf die Funktion des Gehirns zurückgeführt werden müssen. Wie sich in der Phylo- wie Ontogenese beobachten läßt, haben sich im Wege der Evolution durch Mutation und Selektion die Fähigkeiten der Lebewesen, was ihre Kommunikation mit ihrer Umgebung anlangt, ständig gesteigert. Diese Steigerung der nach außen wirkenden Verhaltensweisen drückt sich in einer Steigerung der Repräsentation im Gehirn aus: ebenso, wie sich die Vermögen der Arten zunächst quantitativ ausdifferenzieren, entspricht dem eine horizontale Vermehrung der Vernetzung im Gehirn; und ebenso, wie sich die qualitativen Verhaltensleistungen steigern über genetischen Instinkt, Empfindung und Ratio, entsprechen diesen qualitativen Sprüngen vertikale Repräsentationsleistungen im Neokortex. Beispiel: die Ausbreitung des Verstandes in der menschlichen Population und dessen Ausdifferenzierung bewirkt eine horizontal-dendritische Vernetzung des individuellen Neokortex in seiner je eigenen Epigenese; die phylo- wie ontogenetische Eröffnung der Vernunft bedeutet eine vertikal-axonale Vernetzung einer neuen Funktionsschicht auf der Basis der vorhandenen Neuronenschichten. Hand in Hand geht damit eine Erhöhung der Werte, weil jede Funktionsschicht nach ihrer Rezeption die Bewertung aus ihrem eigenen „Lichte“ durchführt.

Auch beim Computer wird die horizontale Ausdifferenzierung stets abgelöst von einer erneuten Vertikalisierung, die auf der jeweiligen Vorebene aufbaut. Wollen wir den Computer benutzen, so müssen wir ihn zunächst „einschalten“, und bevor wir irgendeine Ein - oder Ausgabe tätigen können, muß der Computer erst „hochgefahren“ sein, d.h., BIOS, Betriebssystem und Verarbeitungsprogramme müssen erst „geladen“ sein; ganz ebenso das menschliche Bewußtsein, also „Geist“ in funktionellem Sinne: wenn der Mensch nach dem Schlaf erwacht, „kehrt das Bewußtsein in ihn zurück“, indem sich die verschiedenen Funktionsebenen von unten nach oben nacheinander miteinander vernetzen, und so ist das Aufwachen ein zeitfordernder Prozeß, an dessen Ende sich der Mensch „wiederfindet“.

So, wie im Computer sich das aktuellste und „oben“ laufende Programm aus Vorentwicklungen und Wissenssammlungen (sog. Bibliotheken) bedient, ebenso die Vermögen (Funktions­schichten) des Menschen, indem sie sich zum eigenen Vorverstand der Ein- und Ausgaben des jeweils darunter liegenden Vermögens bedienen: versichert sich die Vernunft über den Verstand, so leistet dies die Emotio ebenso für den Verstand wie wiederum die instinktive Programm-Ebene für die Emotio.

Was wir im eigentlichen funktional „Geist“ nennen, sind Verstand und Vernunft. Manche halten diese Unterscheidung ähnlich derjenigen zwischen Moral und Ethik für eine spitzfindige Haarspalterei; die vorliegende Theorie macht aber gerade diesen kategoriellen Unterschied zu ihrem eigentlichen Fundament, mit dessen Erkenntnis erst einsichtig wird, was Metaphysik ist, und wie sie entsteht. Der Verstand bildet sich heraus aus der eigenständigen vertikalen Konditionierung von sinnlicher Repräsentanz, gebildet aus kategorisierender Mustererkennung, also dem Piktogramm, mit der sprachlichen Repräsentanz als einer Eigenleistung des Gehirns: der Begriff. Sprache, Grammatik und Verstand sind untrennbar ineins gebaut, denn Grammatik ist die Bemächtigung von Welt mittels Sprache als Verstand. Verstand entwickelt und rückversichert sich notwendig auf Basis der Empfindung: wir können keinem Kind erklären, was „heiß“ oder „rot“ ist, sondern wir müssen es das Kind selbst fühlen lassen, was dieser „Begriff“ bedeutet. Verstand ist die bewußte interaktive Kommunikation zwischen Mensch und Umgebung, in der aktuelle sinnliche Reize im Verstandesgedächtnis abgelegte Muster und deren Bewertungen seitens Emotio oder des reflektierten Verstandes aufrufen und mit der aktuellen Wahrnehmung untrennbar ineins setzen: das Bewußtsein des Verstandes, das immer sowohl aus einer sinnlichen wie aus einer sprachlichen Komponente zusammen mit einer instinktiven, emotionalen oder verstandesgemäßen Vorbewertung besteht. Die Sinneszentren speichern in geschichteten und gegenseitig vernetzten Repräsentationsfeldern die ihnen zugehörigen Wahrnehmungen und Bewertungen, um schließlich mit Emotio, Verstand und Vernunft eigenständige Repräsentanzfelder auszubilden, in denen Speicherungen aus der Eigentätigkeit dieser Vermögen abgelegt werden. Bewußtsein als helles Verstehen der Umwelt ist ein fließender Vorgang im Zusammenwirken der verschiedenen Sinnesorgane, geschichteten Repräsentationszentren und Bewertungen. So, wie sich der Verstand die Gedächtnisleistungen der Emotio zunutze machte und daraus eine vertikale Neu-Konditionierung von Sprache und Piktogramm eröffnete, indem die Konditionierung von Laut, Einzelwahrnehmung und Wert verschoben wurde zur Gesamtwahrnehmung, Laut und Wert, womit denn das „Ding“ im Bewußtsein erscheint – wo für die Empfindung das Seiende lediglich Eigenschaften hergibt! –, ebenso die Vernunft: sie isoliert das durch den Verstand in dessen Gedächtnis bereits vorhandene Piktogramm von der aktuellen Wahrnehmung und konditioniert diesem auf einer neuen vertikalen Neuronalebene ihre eigenen Begriffe zu und erhält so das Wesen der Dinge. Wie es schon Aristoteles sagte: mit dem Begriff findet der Übergang vom nous pathetikos zum nous poietikos statt – und mit diesem Übergang beginnt die Metaphysik als Auswicklung der Vernunft.

3. Eine psychologisch-geschichtliche Beschreibung der Entstehung von Metaphysik

Hat das Tier Metaphysik? Doch nein; folglich muß die Metaphysik auf demjenigen beruhen, was uns vom Tier unterscheidet, und was wir als „Geist“ bezeichnen. Wir müssen aber noch eine weitere wichtige Frage stellen: hat der Mensch vor den alten Griechen so etwas wie Metaphysik? Nun, er hat zwar religiöse Vorstellungen, aber diese sind offensichtlich nicht in gleicher Weise getrennt von der „Physik“ wie späterhin die metaphysischen Vorstellungen. Erst mit der griechischen Philosophie von den Vorsokratikern bis hin zu Aristoteles wird man sich der Dinge bewußt, die „nach der Physik“ kommen. Der Verstand entdeckt die Dinge als seiende, die Vernunft das Wesen der Dinge als Sein. Allein schon aus dieser einfachen Beobachtung muß zwingend geschlossen werden, daß wir zwischen Verstand und Vernunft des Menschen zu unterscheiden haben. Immer, wenn ganz neue Werte im Seienden erscheinen, so läßt diese neue Verwiesenheit darauf schließen, daß sich ein neues Vermögen als neuronale Funktionsschicht rezipierend eröffnet hat. In diesem Zusammenhang möchte ich auf meine Arbeit „Was ist Dialektik?“ in der in Kürze erscheinenden Nr. 2/1996 von „Aufklärung und Kritik“ verweisen, in der ein Überblick über die Entwicklung der Wesensschau als Rezeption der Vernunft gegeben wird: Dialektik ist die Vorbereitung der Wesenserkenntnis der Vernunft mittels Vergleichen und reflektierendem Untersuchen des wesensmäßig Gleichen oder Ähnlichen unter Abtrennung des Zufälligen als Durchsicht auf das „Wesenswas“.

Zur Klärung des Wesens der Metaphysik bedarf es also einer Theorie über den menschlichen Geist. Im Gegensatz zu mythischen Welterklärungsversuchen des Verstandes sind Theorien Wesensinterpretationen der Vernunft. Eine Theorie soll nicht geglaubt, sondern auf dem ihr angemessenen Feld überprüft werden. Sogenannte Naturgesetze, die auch lediglich Interpretationen, also Theorien sind und sich derselben vernünftigen Wesensschau der Vernunft auf die physikalischen Erscheinungen verdanken, überprüft man sinnlich - empirisch mittels des Verstandes. Wesensmäßige Erkenntnisse, und dazu gehört die hier vorgelegte Theorie als Wesenserkenntnis des menschlichen Geistes, können allein auf dem Terrain der Vernunft und deren Evidenz unter ständigem Hinblick auf die real beobachtbaren Fakten überprüft werden. Sie müssen diese wie jede andere Theorie nicht annehmen, aber Sie sollten sie nicht aus Vorurteilen heraus ablehnen, sonst verhalten Sie sich wie die römische Amtskirche gegenüber Galilei, der die moderne Physik mittels Anwendung der Wesenserkenntnis der Vernunft auf die naturwissenschaftlichen Ergebnisse des angewandten Verstandes begründete. Natürlich will sich die vorliegende Theorie nicht mit den Erkenntnissen eines solchen Genies auf eine Ebene stellen; aber ebenso wie es jede Theorie soll – aus diesem Grund wird sie aufgestellt –, erklärt sie bisher Verstreutes und Unverstandenes in sich schlüssig und in einem Zusammenhang. Sie eröffnet mit ganz wenigen Grundannahmen, die mit der traditionellen Sehweise sowie mit den bislang dazu bekannten Fakten in Übereinstimmung stehen, neue Einsichten, unter anderem auch diejenige in das Wesen der Metaphysik. Dabei kommt es weniger auf die Inhalte dessen an, was als Metaphysik bezeichnet wird, als vielmehr auf die funktionelle Klärung, was dieses Phänomen denn sei und woher es uns kommt.

Was ist Metaphysik?

In der Rezeption der Vernunft mit den epochalen Höhepunkten der griechischen Troika und den Hochreligionen füllte dasjenige, was wir a posteriori Metaphysik nennen, den Zwischenraum, der zwischen dem Sich-Selbst-Bewußtwerden der Vernunft in der Übertragung der Führungsfunktion an sie und der maximalen Ausreflektierung ihrer Potenz besteht, als philosophische Lehre für die Ratio und als religiöse Lehre für die Existentialität. Nicht umsonst sprechen wir hier auch von einer „Zeitenwende“. Was also ist Metaphysik? Metaphysik ist, wenn die Vernunft in ihrer Rezeption und Reflexion in das Seiende „Wesentliches“ einträgt: die „Ideen“ und „ewigen Formen“, die sie in der von der Wahrnehmung des Verstandes isolierten Mustererkennung als „Wesen“ der Dinge ins Unverborgene der Vernunft erhebt und sich unter eigenem Begriff zukonditioniert, und damit das erstkategorielle Dasein des Verstandes in der Erhebung zum zweitkategoriellen Sein der Vernunft ethisch, ideell und in neuer Religiosität mit eigener, zweitkategorieller Intensität auflädt. Diese Aufladung ist zu unterteilen in

a) richtige qualitative Bezugserhöhungen durch die Vernunft in der Kommunikation des Seienden als Wesensaufdeckung.
b) phantastische Idealisierungen, sei es in Richtung auf Religion, sei es in Richtung auf „Geist“ als Selbstüberhebung der Vernunft.

Diese Unterteilung ist insbesondere deshalb wichtig, als meist angenommen wird, daß bei einem Wegfall phantastischer Systeme in Religion und Philosophie auch die rational richtigen Wertsysteme entfallen müßten, da letztere tatsächlich meist auf erstere gegründet werden. Man meint nämlich aus der hierin falschen Vernunftperspektive, zuallererst das summum bonum ermitteln zu müssen, um daraus alle anderen Werte abzuleiten; anstatt zu sehen, daß dies summum bonum lediglich eine metaphysische Abstraktion aus vorher bereits via Vernunft entwickelten Werten ist. Das Eine ist nicht das Erste, sondern das Letzte in der Rezeption der Metaphysik. Die dialektischen Stufen des Besseren sind es, die zum Besten führen, zum Zentrum des „Wahren, Schönen und Guten“; erst in der Umwendung der die Leitungsfunktion übernehmenden Vernunft gewinnt das summum bonum sein Eigenleben.

Sprache ist das Mittel des Menschen zur Kommunikation; Kommunizieren heißt, auf etwas bezogen sein; das Was des Bezuges nennt der Mensch einen Wert. Die Rezeption der Vernunft bringt mit der Ethik neue Werte in die Welt, die Reflexion fügt diese in den Bestand des Menschlichen ein und fragt zugleich nach der Ordnung aller Werte in der Welt; ein Wert, und deshalb wertvoll, ist dasjenige, worauf Seiendes in seiner Kommunikation mit dem Umseienden mittels eines funktionalen Vermögens und dem mit diesem verbundenen lebendigen Innenzentrum aktiv verwiesen ist. Mithin: je mehr und differenziertere Vermögen Seiendes in der aktiven Kommunikation anzuwenden vermag, desto mehr Werte wird es in der Welt entdecken.

Der Wert des Seienden seit dem Umschlagpunkt der Rezeption zur Reflexion der Vernunft durch das Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles ist das Sein als Teilhabe am summum bonum, dem Zentralbegriff des Wertumgriffs. Die Werte sind nun nicht mehr identisch mit den Zwecken des Verstandes, die im Mythos vergöttert wurden, sondern sie erheben sich als Ideale über diese; im Mythos hat der Mensch sich selbst und die Welt vergöttert, wie ihm diese aus der Verstandessicht erscheint, in der Metaphysik der Vernunft vergöttert der Mensch sein eigenes Idealbild und das Wesen der Welt, wie es sich der Vernunft zeigt. Der erste Ausdruck für diese Bewegung ist die griechische Kunst, in der Menschentum und Idealität vereinigt erscheinen. Der zweite Schritt ist das alleinige Setzen auf die Innerlichkeit, hervorgerufen durch das Erleben der Leitungsübertragung an die Vernunft, die sich hier phylogenetisch als ganz neue Eigenlebendigkeit und Andersartigkeit gegenüber der Sehweise des Verstandes geltend macht. Im dadurch bedingten Absolutsetzen der Wesensschau der Vernunft sinkt über Platon, die Stoa, das Christentum und den Neuplatonismus die Vernunft (als Vermögen) vor dem summum bonum zusammen in der Hochreligion: das geschaute Absolutum Gott ist jenseits dieser Welt. Das klassische griechische Denken geht noch von einer diesseitigen Teilhabe am Absoluten aus, sei es als Anähnlichung in der Teilhabe an der Idee (Platon), sei es als Verwirklichung der „Form“ als Entelechie (Aristoteles); auf Teilhabe-Stufen steigt der Mensch zu göttlicher Schau empor. Im Gegensatz dazu verwandelt sich im Durchbruch der Innerlichkeit als des Sich-Selbst-Bewußtwerdens der Vernunft, das sich im individuellen Durchbruch einem Überlegen-Überirdischen zu verdanken scheint, da sich der Mensch diesen Durchbruch nicht selbst zuzurechnen vermag, der Abstand zwischen summum bonum und Mensch in einen unendlichen: alles Diesseitige verhindert die Verbindung zwischen beiden, weil es sich auf die konzentrierende Liebe, die einzige und wahre Kommunikationsweise der Innerlichkeit mit Gott, störend auswirkt – auch hier setzt sich die Vernunft ausschließend, als begeisterte Innerlichkeit, wie sie sich später am Gegenpol bei Hegel als reines Vermögen ausschließlich setzen wird. Das Diesseits wird von einem solchen Standpunkt aus, der bereits in der Sophistik und bei Platon als privatio des Seienden angelegt ist, zwangsläufig als nichtswürdiger Schein abgewertet, welche Auffassung bei Buddha, Jesus und im Neuplatonismus für die Innerlichkeit schließlich zur herrschenden wrd. Für die damit um ihren eigenen Wert gebrachte Welt bleibt nur das „Mitleid“, weil aus dieser Sicht alles Seiende in der gleichen nichtswürdigen Situation steht. Der „wahre Wert“ des Lebens wird in ein Außerhalb zu dieser Welt verlegt. Zwar wird auf diese Weise richtig gesehen, daß die Welt an sich keinen Wert hat; aber diese Entwertung des Seienden übersieht völlig die reale Konstitution des Seienden in seiner Diesseitigkeit: daß seine Kommunikation innerhalb des Seienden, als Welt, sich als wertgeprägte und wertauswickelnde konstituiert.

Die vorliegende Theorie versucht keine Vereinigung von Physik und Metaphysik, sondern sie entkleidet letztere ihrer phantastisch-irrealen Gehalte, nimmt ihr das „meta“, um die Ergebnisse der Metaphysik, soweit sie einer rechtmäßigen Anwendung der Vernunft entstammen, dem physischen Werden hinzuzuzählen. Dabei bleiben selbstverständlich alle richtigen qualitativen Bezugserhöhungen in der Kommunikation des Seienden als Wesensentdeckung etwa der Ethik erhalten; und sie werden zusätzlich unterfüttert durch eine entsprechende Gründung und Begründung aus der Erhöhung der Ratio in die zweite Kategorie, welche die mit ihren eigenen Verfahren ermittelten Werte ins Dasein und dessen Tradition einträgt. Mit dieser Eintragung erhalten diese Werte eine ebensolche Realität, wie es die utilitaristischen Gefühlswerte der ersten Kategorie erfuhren. Letztere werden noch heute so apriorisch als „richtig“ und „lebendig“ erfahren und angesehen, daß die Emotio-(Vor-)Urteile des Verstandes die Vernunfturteile allzumeist überwiegen.

Ein bedeutsamer Beleg für diese kategorielle Auffassung und Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft ist das Erscheinen des Gewissens, welcher Begriff zuerst bei Demokrit als syneídesis (wörtlich: Mitwissen) begegnet und vorher völlig unbekannt war, weil so etwas wie ein Gewissen vor der Rezeption der Vernunft noch gar nicht existieren konnte! Denn dies „Mitwissen“ als Gewissen bezeichnet das Vorhandensein von zwei verschiedenen „Stimmen“, die hinsichtlich einer bestimmten Sachlage zu gegensätzlichen Urteilen kommen: es ist die Vernunft in ihrer Wesensschau, die sich als neueres und höheres Vermögen meldet, und damit die Wünsche der Emotio nach Lust bzw. des Verstandes nach Macht und Nutzen überlagert und sie ihren eigenen Wertvorstellungen, also dem „Schönen, Wahren und Guten“, unterwirft. Mit den berühmten „zwei Herzen in einer Brust“ ist nichts anderes gemeint als diese Selbstwahrnehmung von zwei verschiedenen Wertebenen, deren eine ihre Werte aus der Konditionierung von Emotio und Verstand bezieht, wohingegen die andere auf der Aufnahme der Tradition der Vernunft beruht.

Soweit allerdings Ergebnisse der Metaphysik phantastische oder selbstüberhebende Irrtümer der Vernunft sind, müssen sie abgewiesen werden. Spricht sich in ihnen jedoch ein lebendiger Konnex des Menschen zur Transzendenz aus, sei dies als Religion für die Existentialität beziehungsweise als Philosophie für die Rationalität (wobei erstere zuletzt in letztere übergehen muß), müssen solche metaphysischen Aussagen der Vernunft analogisiert werden, um diese Innenbewegungen in ihrer wesensgemäßen Bedeutung verstehen zu lernen.

Überraschenderweise gelingt Heidegger bei seinem Nachdenken über das Wesen der Metaphysik eine Einsicht, mit der er seine gesamten vorhergehenden Überlegungen transzendiert: „Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, daß die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.“ Auch nach längerem Nachdenken ist nicht zu sehen, wie sich diese Aussage als ein Schließen auf vorhergehende Ausführungen zurückbeziehen soll – sie steht plötzlich und unvermittelt da, eher schon einem Gegensatz denn einem Schluß ähnelnd. Die Gegensätzlichkeit zu Heideggers sonstigem Denken erhellt daraus, daß er diese Erkenntnis nicht wirklich anwendet, anwenden kann, sondern ununterbrochen metaphysisch weiterdenkt; warum über-denkt er dann nicht das metaphysische Denken der Vernunft? Weil er diese Erkenntnis nicht wirklich hat! Er kann das scheinbar darin enthaltene Paradox nicht lösen, weil er nicht kategoriell denkt. Diese letzteren Überlegungen lassen fragen: woher eigentlich nimmt Heidegger diesen Satz so plötzlich? Der Grund kann nur Verzweiflung sein: die Verzweiflung an der Vernunft selbst, welche die Urheberin der Metaphysik ist und als solche über diese nicht hinaus kann. Die Vernunft rebelliert gegen sich selbst und ihre Begriffe, ihren „Gott“, gegen ihre Erstarrung als Vermögen. Damit ist der Mensch heute um eine Erkenntnis reicher als Sokrates, wenn er im Stand der Doppelreflexion gleichzeitig Teil der Menschheitskarawane ist, und doch neben ihr steht. Diese Paradoxie ist darauf zurückzuführen, daß sich in allem Seienden das „Vermögen“, die leitende Funktion, und der élan vital, die lebendige Innerlichkeit, zueinander verhalten müssen. Dieser Spalt ist Lust und Last all dessen, was ist. Die höchste „Lust“ ist auf all den Stufen dieses Auseinandertretens zwischen élan vital und Funktion das Erleben der Vereinigung beider. Sokrates ahnte diese Vereinigung, und so konnte er sich vertrauensvoll auf sein Daimonion verlassen; seither wurde in 2400-jähriger Arbeit die lebendige Einlösung dieser Ahnung durch Platon, Aristoteles und Jesus als Reflexion der Vernunft zur Erstarrung gebracht, und so ist der Mensch heute ärmer als der ahnende Sokrates. Totenblaße Tradition umstellt ihn und starrt ihn an als die Wüste seiner Vernunft. Wie einst Midas alles zu Gold wurde, was er anfaßte, sodaß er elendiglich verhungerte, ebenso geht es jetzt der Vernunft: alles wird ihr zu selbstgefertigter steriler Metaphysik.

Heidegger übersieht mit der Kategorialität der Vernunft auch deren doppelte Funktion: daß sie in ihrem funktionellen Mittelcharakter ganz bestimmte Inhalte hervortreibt, daß aber das Ende der Inhalte nicht das Ende der Mittelfunktion bedeutet. Die Aufarbeitung der Metaphysik als des ureigenen Gebiets der Vernunft ist weder in der Vernunft selbst möglich noch in einer weiteren Aufgipfelung als Über-Metaphysik (s. etwa Spinoza: das Wesen des Wesens) noch neben der Metaphysik als Fundamentalontologie, die quasi eine Konkurrenz zur alten Metaphysik bilden würde. Wie der Alkoholiker möchte Heidegger mit seiner „phänomenologischen Fundamentalontologie“ den Kater der Vernunft mit noch härterem Schnaps überbieten – und gießt doch nur längst vergorenen Wein in neue Schläuche. Das Wesen der Metaphysik kann nur von einem Standpunkt außerhalb derselben gesehen werden; das heißt aber auch, außerhalb der Vernunft, denn diese beiden sind insoweit identisch. Diese Wesensschau auf die Metaphysik verläuft ohne existentielle und vorgreifende Wertsetzungen der Vernunft, bedient sich aber weiterhin des Mittelcharakters der Vernunft, denn Vernunft bleibt geradeso wie der vernunftbasierende Verstand nach wie vor ein probates Mittel des Denkens; das Problem des Denkens ist für diesen Fall nicht das Mittel, sondern der Mittel-Punkt! Ob Vernunft als Vernunft auf sich selbst steht, oder ob sie ihren Werkzeugcharakter erkennt und die Doppelreflexion akzeptiert – und damit erst offen wird: offen etwa für das „An-Wesen“ des Neuen, das sich er-eignen will, das er-eignet werden soll.

Mit dieser Sehweise wird die hier vertretene Auffassung nicht Anthropologie, jedoch nähert sie sich dieser an und geht mit dieser um, indem sie deren Ergebnisse auslegt. Im übrigen, und dies scheint Heidegger nicht absichtslos zu übersehen, befaßt sich doch gerade auch die Anthropologie mit dem Wesen des Menschen, nicht zwar, wie sie es „denkt“ – dies ist das Gebiet der Metaphysik –, sondern so, daß sie ihre Funde hinsichtlich des Bestandes des Menschlichen vergleicht: erst auf der Grundlage des Vergleiches vermag sie Wesentliches und Bedeutsames für das Wesen des Menschen bereitzustellen – aber dies ist ja das dialektische Grundverfahren auch der Metaphysik selbst! Mit dem Unterschied, daß letztere sich in den „reinen Geist“ verläuft, aus dem Brunnen der Vernunft den „Sinn“, das „Wahre“ zu schöpfen hofft, wo erstere sich bewußt an die Gegebenheiten der Natur hält und die Vernunft ausschließlich funktionell als Werkzeug einsetzt. Dies aber ist diejenige Arbeitsweise der Vernunft, die auch und gerade in der Doppelreflexion zur Verfügung steht – folglich ist die Anthropologie ein legitimes Mittel zur Wesensfeststellung des Menschen, soweit dies der Vernunft obliegt. Noch gar nichts ist damit gesagt über den Sinn und Zweck von Mensch und Natur, weder über Gegenwart noch über Zukunft. Anthropologie als vergleichende Wissenschaft befaßt sich immer mit der Geschichtung des Menschlichen; die Gegenwart als Insgesamt ist für sie zu nahe, um etwas zu sehen, in der Zukunft findet sie nichts zu greifen. Die Eule der Minerva fliegt erst bei Dämmerung im Grau des Abgelebten, sie vermag nur nach hinten zu schauen. Die Auslegung ihrer Funde über das vergleichende Zuordnen hinaus kann wiederum nicht Sache der Anthropologie sein, als hier insbesondere außer- beziehungsweise überwissenschaftliche Gesichtspunkte mitherangezogen werden müssen, welche aus einer anderen Sphäre stammen als der der Wissenschaft: aus der perspektivischen Existentialität des Menschen, die sich in Philosophie und Religion ausdrückt. Dies hat seinen Grund in der Doppelnatur des menschlichen Geistes als Funktion und Existenz-Grund; das Funktionale des Geistes gehört zum Gebiet der Anthropologie (ebenso wie die Tatsache, daß der Mensch so etwas wie Religion „braucht“), ihre vornehmste Aufgabe ist die Aufdeckung dessen, was den Menschen zum Menschen macht, also die Untersuchung desjenigen, was funktional Geist sei – sonst hätte sie ihren Namen nicht verdient. Ohne Phantasterei soll und kann dies Vernunft nur dann leisten, wenn sie sich zuvor zu sich selbst in Doppelreflexion begibt. Dieser „Punkt“ der Doppelreflexion kann jedoch ausschließlich in der Existentialität gefunden werden, und von dort aus mögen dann Physik, Anthropologie und Metaphysik zusammengeführt werden: in der Erkenntnis der Natur des menschlichen Geistes, wie und was er sei bis einschließlich hin zur Vernunft. Diese Doppeltheit und die Grenze zwischen Anthropologie und Metaphysik, Funktion und Grund, Mittel und Zweck ist mithin ständig im Auge zu halten: daß die anthropologischen Untersuchungen zum Wesen der Vernunft einerseits objektiv-wissenschaftliche Erkenntnisse an sich sind (oder doch sein können), andrerseits für die Existenz des Menschen ausgelegt werden müssen. In dieser Auslegung wird der objektiv-funktionale Rahmen transzendiert; die Perspektive wechselt, als nunmehr in der Doppelreflexion nicht die hinter ihr liegende Geschichtetheit des Geistes untersucht wird, sondern vielmehr dieser Geist selbst lebendig werden muß, seinen eigensten Gehalt der Realität entgegen- beziehungsweise zur Verfügung stellen muß.

Existentialphilosophie zielt folglich darauf, den Menschen zu erkennen, was er sei, um den Erkennenden selbst sinnvoll Mensch werden zu lassen. Wenn dieses „sinnvolle Werden“ hin zum sinnhaften Sein schichtendes Werden ist, wie alle Prozesse in der Zeit, so gilt es, die Bedingungen und das Ziel dieses Werdens zu ermitteln – nicht um des Wissens für die Vernunft willen, sondern um jede ermittelte Bedingung selbst nachzuvollziehen in der Existenz. Soweit es sich beim erkennenden Aufdecken des Geschichteten um vergangene Bedingungen des Menschseins handelt, ist hierfür die Vernunft als Anthropologie und Philosophie zuständig; der Einbau in die Existenz wird vom élan vital durchgeführt: als Ent-Schluß in lebendig-innerlicher Konzentration auf eine vernünftige Erkenntnis hin, diese Erkenntnis in Zukunft selbst zu sein, diese dem eigenen Selbst anzuverwandeln. Diese Existentialität ist es, welche das eigene Selbst schließlich zur Doppelreflexion zwingt, in welcher vom Ich-Ich her mittels der Vernunft die Vernunft sich selbst vorsetzt: nicht um an diesem Punkt zu erkennen, daß Alles Nichts sei (Nihilismus), sondern daß es mit der Vernunft als auf sich selbst stehender nichts sei; daß die Vernunft als Wertmaßstab nichts taugt; daß sie wie anfangs notwendig so auch in Zukunft letztlich immer nur untaugliche Metaphysik gebären kann, wo es um den Sinn des Seins geht. Und daß so Vernunft ohne Doppelreflexion der Feind des Denkens ist, wenn sie sich nicht lozulassen vermag und nicht auf das Wertesetzen verzichten kann. Dieser Durchbruch ins Ich-Ich der Doppelreflexion erbringt jene Gleichzeitigkeit mit sich selbst, die das Individuum erst in die Lage versetzt, sich von der eigenen Geschichtetheit durch rationale Tradition und emotionale Konditionierung zu lösen, um eigenständig in lebendiger und existentieller Kommunikation das Umseiende zu umgreifen. Nur aus solcher Perspektive kann von der Vernunft als einem Feind des Denkens die Rede sein, wenn diese sich einmengt in sie transzendierende Belange: dort mehr als Mittel zu sein, wo von der Existenz her der Sinn gestiftet werden muß. Auf ihrem eigenen Gebiet kann sie sich nicht selbst Feind werden, sondern nur dann, wenn sie sich selbst – wie etwa in allen Ideologien einschließlich des Kapitalismus – mit élan vital verwechselt; dann allerdings vermag sie mit ihren Mitteln die Welt in den Ruin zu treiben. Was not tut, ist nicht die Vernunft zu ersetzen, so wenig es der richtige Weg in der Metaphysik war, „Gott“ etwa durch „Geist“ ersetzen zu wollen (Hegel); vielmehr geht es darum , die gesamte Stelle neu zu finden, an welcher zunächst „Gott“ und später die Vernunft (als Weltvernunft) stand; „Gott ist tot“ heißt vor allem: die Vernunft ist am Ende. Eher noch tötete sie Gott, als selbst abzudanken, und mit ihm tötete sie das Leben, ohne es zu bemerken; denn in Gott hatte sie das Lebendige und Sinnspendende aufbewahrt, das sie nun vermessen und vermessend selbst sein wollte. Im Aufholen des Zwischenraumes des Vor-Wurfes durch die Reflexion löst die Vernunft das (funktionell) mit sich selbst gesetzte Gegenüber auf, zu dem sie vordem als existentiellem Gegenüber in lebendiger Innerlichkeit sinnfindend und -spendend hinstrebte, und so fand sie sich im Nihilismus und Materialismus wieder.

Die Unfähigkeit dieser Vernunft zur Wertesetzung springt ihr zuletzt selbst ins Auge, und so muß sie die Werte von einem Anderen her beziehen, wobei sie die von ihr selbst entworfene Metaphysik in der nun erkannten Leerheit als Nihilismus verwerfen muß. Um sich dann entweder in einem verzweifelten Trotzdem selbst als Wille zur Macht in einer ständigen Übersteigerung des Machbaren zu setzen: die schlimmste Weise, und die heute gültige, in welcher sich Vernunft trotz des Bewußtseins der Leere als Nihilismus setzt – damit aber gleichzeitig die in ihr liegende Potenz der Machbarkeit erst so „richtig“ freisetzt. Hüten wir uns jedenfalls vor einem ethischen Urteil gegenüber der Ausdifferenzierung der materialistischen Potenz der Vernunft; denn dieser gegenüber geht es nicht um ein Urteil, sondern um Verständnis, um auch dies noch als zum Seienden im Ganzen gehörig in die Erkenntnis des Seins im Ganzen hineinzunehmen. Auch die Wahrnehmung dieser „Machenschaften“ gehört noch zu jenem „Wachsein“, das sich in der Innerlichkeit mit dem Anwesen des Seins im Ganzen befaßt. Ein Abweisen des Seienden, etwa als Technikfeindlichkeit, was und wie immer es sich zeigen mag, ist ein Vorgriff, und ist gleichzeitig ein unzulässiges Urteil, weil diesem Abweisen keinerlei begründete Urteilskriterien zur Verfügung stehen. Vielmehr sind dann wiederum Schätzungen eben dieser Vernunft und deren Metaphysik am Werke, die man soeben noch als Nihilismus verworfen hat. Der Satz Heideggers, daß die Philosophie am Ende und nur noch ein Gott zu helfen imstande sei – auch er weist noch auf die Gleichsetzung von Vernunft und Metaphysik und die Nichteinbindung dieses Denkens in die Kontinuität des Seienden: deshalb muß ein Wunder gefordert werden, deshalb diese Dramatik aus dem Erzittern vor dem Ende der Vernunft. Wenn sie selbst als Vernunft die neue Beziehung zum Sein im Ganzen nicht gebären kann, so konstatiert sie lieber das Ende der Philosophie, als selbst abzudanken, und sie bleibt damit in Wirklichkeit nihilistisch: das Warten auf ein Wunder, auf Gott, auf Godot!

4. Versuch einer Verbindung der Funktion des Geistes und der Entstehung von Metaphysik.

Eine Theorie der Metaphysik muß vor allem zeigen, was Metaphysik im System des menschlichen Geistes ist, und daß sie notwendige Tätigkeit dieses Geistes ist: sie ist das Gefäß, wie sich in einem jeweiligen Status des Rezeptions- und Reflexionskreises der Vernunft die Verfassung des Seienden im Ganzen und die offenen Fragen aus der Nichtfestgestelltheit der Art der Vernunft zeigen, und sie ist damit eine Parallele zu den Mythen des Verstandes. Der Mythos hat die nämliche Funktion für den Verstand wie die Metaphysik für die Vernunft: ein ahnend-vorwerfendes Schließen der Offenheit des Zwischenraumes, den die rezipierende Eröffnung des Neuvermögens sichtbar macht und füllt (Naturphilosophie und Dialektik), der sich in der Übertragung der Leitungsfunktion als eigenständiges Zentrum erfährt (Platon/Aristoteles, Hochreligion/Zeitenwende), und der sich in der Reflexion des Vermögens entleert (reflexive Philosophie seit Descartes).

Metaphysik ist aber vor allem zugleich die „Reichsgründung der Vernunft“, wie das Reich des Verstandes das der Geeignetheit und des Nutzens ist. Metaphysik deckt sich also insbesondere mit jenem mysteriösen „Reich der ewigen Wahrheiten“ objektiver Natur, von Wahrheiten, die nicht an ein Subjekt gebunden sind, sondern immer gelten. Denn all dies sind Wesensentbergungen der Vernunft; deren objektive Evidenz beruht auf der Gleichheit der piktographischen Abstraktion, in der die Vernunft das gleiche Wesen von den Individualitäten des Verstandes reinigt und sich dieses Wesen unter eigenem Begriff zukonditioniert. Daher stammen alle übertragenen Bedeutungen von Begriffen, weil die Vernunft, wo immer es geht, mit dem Begriff des Verstandes, also dem Individuellen, operiert, diesem Begriff aber nun ihren Wesensgehalt überträgt und damit sich selbst als Vernunft erbaut.

Ethik sind diejenigen Regeln, die sich als Kommunikation der Menschheit untereinander wie mit allem Seienden seit Beginn der Vernunftentwicklung herausgebildet haben, um die Bezogenheiten von Mensch und Welt gerade auch unter dem Gesichtspunkt der verschiedenartigen Ausstattung alles Geschaffenen, also auch des Menschen, in einer der Vernunft entsprechenden Weise zu gestalten. Daher wird man jede fehlerhafte Metaphysik sofort auch daran erkennen können, wenn in die aus ihr folgende und mit ihr begründete „ Ethik“ Werte eingetragen werden, die mit der vernunftgemäß in der Phylogenese ausgewickelten Ethik in Widerspruch stehen. Denn im Zeitalter der ent-wickelten Vernunft als Doppelreflexion (oder auch des Nihilismus – dies bleibt sich insoweit gleich, nur daß letzterer Verzweiflung am Grunde hat) stehen die ethische Werte unverrückbar fest, denn sie sind Vernunftwerte, geradeso wie unsere Gefühlswerte feststehen, die Verstandeswerte sind. Hier läßt sich eine direkte Proportionalität zwischen Ethik und Metaphysik angeben: je weiter ein philosophisches System der reflektierenden Vernunft sich von den ethischen Errungenschaften des Vermögens Vernunft entfernt, desto mehr an fehlerhafter Metaphysik hat ein solches „System“ in sich. Man besehe daraufhin die Ansichten von Nietzsche, Marx oder Heidegger. Auch sei in diesem Zusammenhang auf meine Arbeit in Nr. 1/1995, S. 137 ff. von „Aufklärung und Kritik“ verwiesen, in der die Widersprüchlichkeit der „utilitaristischen Ethik“ eines Peter Singer aufgedeckt und wahre Ethik auf die Wesensschau der Vernunft gegründet wird.

Das Metaphysische der Wesensbestimmungen in Ethik, Logik, Mathematik und Physik ist nur deshalb nicht mehr sichtbar, weil wir im Stadium der Reflexion diese Bereiche im Gegensatz zu den rezipierend-aufdeckenden Griechen als Vermögensleistungen zu Recht unserer Vernunft zurechnen und nicht mehr in die Metaphysik einbeziehen. Hier wird das sich rezipierend/reflektierend entschließende Neuvermögen Vernunft auf das Seiende angewandt, wie es sich für sie vorfindet. Das Staunen, das der Anfang aller Philosophe ist, entstammt der neuen Ausmeßbarkeit des Seienden mittels des Neuvermögens, das in seiner kreisförmigen Auswicklung immer wieder Neues am Seienden entdeckt und schafft – die Kultur des Verstandes und der Vernunft. Jede Kulturleistung der menschlichen Vermögen ist hinsichtlich des Vorbestandes zunächst metaphysischer Natur: ein hypothetischer Versuch des Vermögens, Vorfindliches im Seienden neu zu deuten beziehungsweise dem Bestand des Seienden Unentdecktes hinzuzufügen (griech.: a-letheia: in die Unverborgenheit bringen als Wahrheit). Es handelt sich um funktionale Leistungen des aktuellen Vermögens, die im Falle des Funktionierens in den Traditionsbestand eingehen und der Metaphysik entzogen werden. Es ist offensichtlich, daß hier die Grenzen zwischen kulturell-wissenschaftlichem Traditionsbestand und Metaphysik fließend sein müssen, etwa deshalb, weil Erkenntnisse des reflektierenden Verstandes zunächst durchaus „funktionieren“, sich mithin der Vor-Anschauung des rezipierenden Verstandes gegenüber als überlegen erweisen, nichtsdestoweniger durch die Erkenntnis der Vernunft als Aberglaube abgewiesen werden müssen (die Erde als Scheibe, die Bewegung der Sonne um die Erde). Entsprechendes wird für eine weitere Auswicklung des Geistigen über die Vernunft hinaus gelten müssen.

Anders steht es mit der Seinsfrage und der Sinnfrage: erstere fragt nach dem „wirklichen“ Sein des Seienden – was also „eigentliches“ Sein alles Seienden einschließlich des Menschen sei über die empirische Ansicht des Verstandes und die Wesensschau der Vernunft hinaus: es wird nach dem Sein gefragt mit dem Bewußtsein, daß Sein mehr ist, als sich unseren begrenzten Vermögen in der normalen Kommunikation des Seienden zeigt – womit denn Ontologie ebenfalls zu Metaphysik wird, die im Fall der rechten Antwort in den Bestand des Seienden eingeht. Ontologie bemüht sich um Seiendes, wie es ist. Nicht so, wie es die Wissenschaft tut, indem sie die Eigenschaften des Seienden nebeneinanderstellt und aus der Addition der Teile ein Ganzes zu erhalten hofft, sondern so, daß sie das Seiende ganzheitlich, als Ganzes „weltend“, anwesen läßt. Damit soll die alltägliche Kontext-Abhängigkeit des Bewußtseins als stetes Mitbewußtsein reflektiert werden, daß sich Seiendes im Bewußtsein nur in vorhandenen Bezügen zeigen kann. Denn die piktographische Mustererkennung und die wertende Konditionierung des Gedächtnisses bilden immer die Voraussetzung, daß für uns etwas ist, und wie es ist. Das Sein der Vermögen ist immer ein Gleich-Sein, das Sein des élan vital ist immer Kommunikation als Verwiesen- bzw. Ausgesetzt-Sein. Daher ist die erstere Form des Seins immer prädikativ, weil jedes Vermögen des Seienden darin besteht, die Gleichheit, Ähnlichkeit oder Ungleichheit von Wahrnehmung und Konditionierung zu konstatieren. Das Sein des élan vital ist die Ek-Sistenz: das aktive und passive Hinausgestelltsein in die Kommunikation des Seienden, das sich des prädikativen Gleich-Seins der Vermögen bedient.

Und so zielt die Sinnfrage auf den Menschen und über dessen Kommunikation mit der Welt auch auf alles Seiende: wozu es ist. Daher wird die Sinnfrage a priori immer eine metaphysische sein, weil sich der Sinn des Seienden für begrenzte Vermögen des Seienden – und nur so ist Seiendes seiend – niemals letztgültig zeigen kann. Die Antwort auf die Sinnfrage ist immer ein hypothetisches Wagnis, ein existentielles darauf Setzen, mithin ein Glaube. Der „Glaube“ an die Vernunft, sei es als Glaube an deren „Gutes“, sei es als Glaube an die „kritische Vernunft“, ist allerdings Idealismus und Nihilismus zugleich! Die Sinnfrage ist keine originäre Vermögensfrage, sondern sie wird gestellt durch den élan vital selbst vermittels des jeweiligen höchsten Vermögens. Dabei ist die Sinnfrage wiederum in zwei Bereiche zu unterteilen:

– wozu das Vorfindliche des Seienden da ist, und wie diese Vorfindlichkeit entsprechend dem fragenden Vermögen „am besten“ einzurichten sei (Vermögenskommunikation: Ethik).
– wozu das Seiende im Ganzen überhaupt da sei, was also der Grund des Seienden sei, wobei „Grund“ hier im doppelten Sinne, also als Grund des Herkommens wie des Zieles, mithin des Werdens, gemeint ist (existentielle Kommunikation: das „Heilige“).

Die erstere Sinnfrage ist also gerichtet auf die Immanenz, die zweite auf die Transzendenz. Bei der Untersuchung der immanenten Sinnfrage muß immer das Seiende im Ganzen herangezogen werden, wie es sich objektiv vor aller Wertung zeigt; sobald man etwa auch nur einen in der Tradition bedeutenden Philosophen meint ausschließen zu müssen, gibt man sich selbst an, daß man das Ganze der Philosophie der Vernunft nicht verstanden hat, denn dazu bedarf es der Zusammenschau aller Bausteine zu einem Mosaik: der Auswicklung der Vernunft. Man mag daher noch so „kritisch“ sein – letztendlich treibt man mit einer solchen Eklektik noch immer Metaphysik innerhalb der Vernunftkategorie und mittels der Vernunft, man wiederholt bzw. variiert lediglich schon dagewesene Standpunkte (s. etwa die Monotonie der sich gleichbleibenden Kirchenkritik von Celsus bis Deschner), insofern die zweitkategorielle Philosophie ihr Ende bereits hinter sich hat. Auf diese Weise kommt man niemals oberhalb zu stehen, wo erst der Blick auf’s Ganze zu gewinnen ist. „Negative“ Metaphysik sind solche Systeme, die reale Ergebnisse der zulässigen Metaphysik, also etwa Logik und Ethik, als angeblich fehlerhafte Metaphysik verkennen und sie vom Wesen des Menschen abtrennen wollen; so etwa Hume und der Utilitarismus, der Positivismus, der Materialismus, aber auch Nietzsche. Die Vermögen des Menschen verbinden ihn mit der Weise und Verfaßtheit der Immanenz, wie diese zu gestalten sei; mit dem Grund und Ziel des Werdens – und damit der Transzendenz, also demjenigen, was heute oberflächlich meist unter Metaphysik verstanden wird, verbindet den Menschen sein élan vital.

Transzendenz heißt Überschreiten, Überschreiten aber ist, physisch ausgedrückt, erhöhende Funktionsübertragung; was zu dieser Erhöhung treibt, wird hier élan vital genannt, und die transzendierende Übertragung der Leitungsfunktion auch als e.v.-migratio bezeichnet, deren bislang letztes Produkt die Metaphysik in all ihren Formen ist. Nachdem jedoch bei Begriffen allzuleicht die Gefahr besteht, daß sie sich verselbständigen, wie etwa der Begriff „Seele“, und man gar den „Sitz“ solcher materiell mißverstandener Verselbständigungen sucht, soll hier élan vital und dessen migratio mittels eines Bildes dargestellt werden; denn dieser läßt sich gerade so wenig fassen und finden wie die Seele. Vielmehr ist dasjenige, was hier élan vital genannt wird, immer und untrennbar verbunden mit „Vermögen“. Jedes Vermögen ist eine synthetische Reaktions- und Aktionsweise des Innen gegenüber dem Außen, vom Innen dem Außen abgelernt, weil das Außen in seiner gleichen oder ähnlichen Wiederholung sich aufgrund dieser zwei Faktoren etwas ablernen läßt. Da aber die Synthetik der Kommunikation von Außen nach Innen zunimmt, und dadurch der Zusammenhang zwischen dem Außen und dem Kommunikationszentrum indirekt wird, muß die lebendige Verbindung zwischen Außen und Innen gewahrt bleiben mittels einer synthetischen Mittelpunktsfiktion auf Basis neuronaler Funktion: die in der Abgrenzung von anderem Seienden gegebene Einheit eines Seienden erfordert notwendig, daß das führende synthetische Kommunikationsvermögen mit der synthetischen Mittelpunktsfiktion in Eines gesetzt ist. Das Bild für dies In-Eins-Gesetztsein ist die Kugel; deren zweidimensionale Vorform ist der Kreis, der als mystische Idealform bereits bei den Pythagoräern, Platon und Aristoteles begegnet.

Was wir „wissenschaftlich nachweisend“ für Galaxien, Sterne, Planeten und die Gravitation behaupten, das nämliche gilt für uns selbst: das Wesen der Kugel ist es, mit ihrer äußeren Hülle in das Umgebende für sich abgegrenzt hineinzuragen; ihre Wirkungen auf das Umgebende und die Wirkungen des Umgebenden auf sie fallen so aus, „als ob“ sie aus dem inneren Zentrum als dem Mittelpunkt der Kugel stammen beziehungsweise auf dieses wirken – Zentrum und Oberfläche sind so zwei Bestandteile der Kugel, und doch ist die Kugel Eines, eine in sich geschlossene Einheit – ebenso verhält es sich mit jedem Vermögen des Seienden und dem élan vital. Die geschichteten Vermögen vom Instinkt bis zur Vernunft als nach außen verbindende und mit diesem kommunizierende ver-mitteln dem Zentrum das Außen. Das e.v.-Zentrum ist nichts anderes als jener Wirkungsmittelpunkt der Kugel, beim Menschen „Ich“ des Verstandes, „Ich“ der Vernunft beziehungsweise „Ich-Ich“ (Doppelreflexion) genannt, auf welches der Organismus Mensch mittels seines jeweils führenden Vermögens seine Handlungen bezieht, aus dessen Konzentration er seine „Kraft“ gewinnt, und aus dem heraus er seine Handlungen wirkt. Dieses e.v.-Zentrum ist ein ebensolches „Als Ob“, eine ebensolche Fiktion, wie es das Massezentrums eines Sternes ist – und doch sind beide in ihrer Weise ganz real: als Wirkungszentren. Alles, was ist in dieser Welt, ist in übertragenem Sinn von solcher Kugelform, und damit von solcher Zweiheit in der Einheit: nur aus Zwei wird Eins! Um einen vielleicht etwas kühnen Vergleich aufzustellen: diesen zwei grundsätzlichen Ausprägungsmöglichkeiten des Seienden, wie sie etwa Platon (als Künder des „göttlichen Funkens“ und der Idealität: das existentielle Zentrum der Vernunft – élan vital) und Aristoteles (als der Ordner des Seienden: die Aktivität der außengrenzenden Oberfläche der Vernunft – das Vermögen) im Moment der e.v.-migratio in die Vernunft vorstellen, dieses Schwanken zwischen den beiden Polen der Einheit exerziert exemplarisch bereits das Licht, indem es sich teils als Welle (Energie – élan vital), teils als Korpuskel (Masse – Oberfläche) verhält – was bis heute noch nicht in eine einheitliche Auffassung gebracht ist, sondern nur und gerade in dieser Zusammensetzung verstanden werden kann.

Vier Faktoren bestimmen die individuelle Vernetzung: Rezeption – e.v.-migratio – Reflexion – e.v.-Konzentration.

a) Die Rezeption und Reflexion der Emotio des Menschen geht weite Strecken zusammen mit der Rezeption des Verstandes und seiner Begriffe sowie dessen objektbezogenem Spracherwerb; denn die reaktionsauslösenden „Muster“ für die Emotio werden über die Sinne vermittelt, die Muster aber erbauen sich gleichzeitig in Eines mit dem Verstand – daher diese starke und meist unlösbare Vernetzung zwischen Emotio und Verstand.

b) Nach Abschluß der emotionalen Reflexion und dem grundsätzlichen Erwerb der begriffsbildenden Sprachfähigkeit erfolgt die e.v.-migratio in den Verstand als Übertragung der Leitungsfunktion, wie wir eine solche etwa auch beim Embryo beobachten können, wenn nach ihrer Ausbildung Herz und Gehirn die Leitung des eigenen Organismus übernehmen. Die Funktionsübertragung an den Verstand äußert sich als Subjekt-Objekt-Spaltung, Einüben der Situationsauffassung im Zusammenstellen von Begriffen, als Grammatik und (mittels Empfindung) urteilende Aussagen über die Dinge. Die Feststellung des fließenden Zusammenhanges aus dem Mittelpunkt des Subjekts als und im Verlaufe der e.v.-migratio ergibt das Bewußtsein des Verstandes. Diese Übertragung ist kein blitzartiges Wunder, sondern eine tastende Tätigkeit, die sich entlang der Kontrolle über das Vorvermögen in die Rezeptionen des Neuvermögens einzunisten versucht, immer zurückblickend auf das durchreflektierte Vorvermögen, ob der Tastversuch auch in das Reale paßt, wie sich dies Reale dem durchreflektierten Vorvermögen erschlossen hat.

In phylogenetischer Hinsicht und im Hinblick auf die e.v.-migratio in die Vernunft läßt sich dies gut mit den Versuchen des Dreigestirnes vergleichen: Das Erspüren der migratio des neuen Innen (daimónion) durch Sokrates, wo die Sophisten nur über die rezipierte Technik ohne Mittelpunkt verfügen. Das tastende Suchen der platonischen Dialoge mit all ihren Aporien. Das Sich-Setzen der migratio mit Aristoteles.

c) Das korrekte Sich-Setzen des Ich ist gleichzeitig der Beginn der Reflexion des Verstandes: der „Einzug ins neue Heim“ ist gelungen, nun muß von dort aus, vom neuen „Sitz“ und Mittelpunkt aus die „Umgebung“ erforscht werden: die Reflexion wendet sich vom neuen Mittelpunkt aus aktiv um und versucht das Umgebende, nämlich die „Welt“ des Vorvermögens und der eigenen Rezeption, von sich aus, im eigenen Licht zu erfahren. Die auf diese Weise in der Reflexion des Verstandes gemachten Erfahrungen werden mit dem Kriterium der Geeignetheit am Maßstab des Nutzens gemessen, wobei der Verstand die Realitätsprüfung anhand der Emotio durchführt (wie die Vernunft sich über den Verstand rückversichert).

Wie bildet sich der Nutzen des Verstandes (und damit das, was Recht ist) als Maßstab heraus? Sicherlich parallel wie das Gute der Vernunft (das Richtige – und die Gerechtigkeit, die etwas ganz anderes ist als das Recht des Verstandes, an der sich vielmehr das Recht messen lassen muß!): die Emotio lädt in den Aussagen über Situationen die „ausgesagten Dinge“ mit positivem oder negativem Wert auf, Dinge werden als zu- oder abträglich zunächst empfunden (dies ergibt die Skala der Gefühle), in der migratio wird schließlich auch die Bewertung gewußt. Das Wissen um die Zuträglichkeit ist der Nutzen, was nützt, ist Recht; der Verstand vermag nun von sich selbst aus die ihm zugehörigen Dinge in analoger Weise zu bewerten (wiederum: unter Überprüfung durch die Emotio ). Verläßt sich das Verfahren des neuen Vermögens der Bewertung nach Geeignetheit und Nützlichkeit in dieser Erfahrung der Selbstbewegung und Selbstbewertung innerhalb des migrierten Vermögens zu sehr auf sich selbst, unabhängig vom Vorvermögen, gebiert es Mythos und Aberglauben (Verstand) oder Metaphysik (Vernunft).

d) Die Reflexionstätigkeit vom neuen e.v.-Sitz aus führt zur Konzentration des élan vital; diese Konzentration setzt den Objektivierungsprozeß und damit gleichzeitig die Synthetisierung fort. Konzentration meint hierbei zunehmende Hinwendung des Mittelpunktes auf sich selbst, indem er das reflektierend-durchmusterte Umgebende der eigenen Rezeption aus sich selbst ausscheidet – oder daran hängenbleibt: weil die Übereinstimmung von Ich-Vorstellung und entgegenkommendem Traditionsmuster gefunden ist. Dieses Finden der Übereinstimmung ist ein Abgleichen, das im Falle der Gleichheit jene e.v.-Bewegung auslöst, die dem Individuum anzeigt, daß es hier entsprechend seiner individuellen Entelechie, die genetisch beziehungsweise als vernetzungsverstärkende Epigenese vorgegeben ist, mit seinem inneren Kern (élan vital) verbunden ist. Solche Bewegungen können sich äußern als sexuelle Ekstase, als emotionale Lust, als Machtgefühl des Verstandes, als rationale Befriedigung, als ethische Freude, als ideale Begeisterung, als „Weihen der Erkenntnis“ oder in der unio mystica. Dieses „Hängenbleiben“ als Ich-Feststellung ergibt den Typus und folgt wie alles Seiende aus einer Mischung von genetischer Anlage, Umweltangebot, Epigenese und Konzentrationsfähigkeit. Die Bewegung in Gang halten diejenigen Individuen, die aus innerer Anlage trotz Konzentrationsdrucks aus der Tradition nichts Entgegenkommendes zur Vollendung der eigenen individuellen Entelechie finden, und so sind sie zum Suchen verurteilt. Wer trotz Mangels eines entsprechenden Angebots hängenbleibt, weil seine Veranlagung ihn nicht weiter „nach oben“ führt, wird entweder zum Ironiker (zwischen Verstand und Vernunft) oder zum Zyniker (zwischen Vernunft und Doppelreflexion).

Ein solch Suchender des Verstandes ist Odysseus, der „schlaueste der Menschen“: als vollendeter Verstandesmensch hat er alles auf den Nutzen hin durchreflektiert, aber ihn bewegt innerlich nichts mehr, wie etwa den Achill der Ehrgeiz oder einen Paris die Frauenliebe, nein, kein Trieb, nichts Angenehmes und nichts Nützliches vermag ihn mehr ein- und gefangenzunehmen, frei bewegt er sich zwischen all solchen intellektuellen Grenzwerten. Sein élan vital als durchreflektierter ist völlig „nackt“ und konzentriert – und einsam. Das einzige, was er hat, ist seine Freiheit des Ich, an der er unter allen Umständen festhält. Zwar gönnt er sich den Gesang der Sirenen, aber zu seinen Bedingungen: er will nicht rückfällig werden in die Bewußtlosigkeit des Angenehmen, in die Abhängigkeit vom Nützlichen (und den Meinungen), und doch will er darauf auch nicht verzichten. So sichert er zuerst die Freiheit seines Ich, dann erst setzt er sich der Wirkung des Sirenengesanges aus – und beobachtet sich dabei. Als „Nacktem“ steht ihm alles Angenehme und Nützliche gegenüber, er steht nicht mehr in ihm, es bewegt seinen Kern nicht mehr, sondern nur seine „Sinne“. Er aber löst sich von der e.v.-Verbundenheit der Emotio (als des Überprüfungsvermögens seines Verstandes), indem er die eigene Emotio-Bewegtheit vom reflektierenden Ich des Verstandes aus beobachtet. Denn solange der Verstand zur Bewertung seiner Ergebnisse die Emotio benutzt, vermag er nicht frei und selbstbewußt zu werden. Gerade dies aber will, muß und kann der Verstand, wenn er völlig durchreflektiert ist – die emotionale Überprüfung ist dann überflüssig. Und so steht er einer entwerteten Welt gegenüber: die Durchreflektierung und Nacktheit hat dazu geführt, daß sich die emotionalen Bewertungen für das Ich nicht mehr bestimmend melden und die Welt in ihr Licht tauchen – als entwertete steht die Welt in neuer Weise offen. Eine offene Welt aber verlangt nach einem neuen Wert, denn sie „west“ nach wie vor, sie wirkt nach wie vor als An-Wesende, nunmehr auf das nackte Ich; die Vernunft ent-deckt sich als Wissen, das sich von der Emotio ablöst. Die Dinge werden freigegeben, weil ihnen ihr feststehender Wert entzogen wird, in ihrer Entwertung gewinnen sie ihr eigenes Aussehen (das Ding an sich des Verstandes). Das Ding wird zum Begriff, und mit dem Begriff findet der Übergang statt (s. die Aussage des Aristoteles, daß bereits der nouV paqhtikoV über diesen verfügt, aus welchem der nouV poihtikoV die Definition macht). Gleichzeitig geht die Durchreflektierung des Verstandes Hand in Hand mit der Befreiung von mythischen Vorstellungen und führt so ebenfalls auf das Wissen hin. Die Reflexion verwandelt den lebendigen Mythos der e.v.-migratio in den Verstand um in einen reflektierten Mythos und entzieht ihm seinen lebendigen Bestand (ebenso, wie es mit den Hochreligionen geschah für die Vernunft). Je mehr sich der Verstand reflektierend entmythifiziert, desto mehr erfährt er, daß die Dinge der Welt für ihn selbst da sind. Damit zerfällt in einem langen Weg – als Reflexion und Hervorbringen der ersten Hochkulturen – die festgefügte Ordnung der Welt und der Dinge aus der e.v.-migratio des Verstandes, die Dinge stellen sich dem Menschen mehr und mehr zu seiner Verfügung, und so erbaut er aus ihnen seine Zivilisation.

Wie einst Odysseus nach der Durchreflektierung des Verstandes so stehen wir Heutigen nach der Durchreflektierung der Vernunft an einer kategoriellen Nahtstelle:

Wo sich das Ethische als heilbringendes Handeln in seiner e.v.-geschauten Teleologie einst heiligte und so Religion und Ethik in Eines setzte, verbleibt nach der Reflexion nur mehr das ethische Verhalten, das der Perspektive der Vernunft als Vermögen entspricht. Indem der Vernunftperspektive das Lebendig-Heilige durch die Reflexion entzogen wurde, gehört die Vermögenskommunikation zum Bestand des Seienden; das Heilige hingegen ist „unterwegs“ – was sich für die heutige Perspektive der Doppelreflexion wie ein Abtauchen ausnimmt... – um über einzelne Individuen das Umgreifen der Kommunikation zu erweitern. In dieser Phase zeigt sich das Heilige nur indirekt, als Not und Stachel, seine Entbergung voranzutreiben.

Fassen wir zusammen: Was Metaphysik ist, können wir nur verstehen aus der Weise des menschlichen Geistes in seiner funktionellen Vermögensschichtung und seiner existentiellen Dynamik. Unter dieser Voraussetzung ist Metaphysik einerseits die auf dem Verstand und dessen Vorvermögen basierende Wesensschau der Vernunft, mit der im Gang der griechischen Philosophie Ethik und Logik, und schließlich in der Anwendung der Wesenserkenntnis der Vernunft auf die Physik (seit Galilei und Descartes) die Naturwissenschaften ausgewickelt wurden. Diese Form der Metaphysik als heute zum Wesensbestand des Menschen gehörende sollte man begrifflich von denjenigen Gebieten trennen, die sich mit der Sinnfrage und der Transzendenz befassen, also etwa Religion und Philosophie. Die Antwort auf diese Fragen können nicht mit dem Vernunftvermögen, sondern nur aus der lebendigen Innerlichkeit vermittelt von der Vernunft gegeben werden, wobei solche Antworten natürlich nicht hinter die festgestellten Wesenserkenntnisse des Vernunftvermögens zurückfallen sollten, wie dies heute so oft zu beobachten ist.

Ein Blick auf die Religion lehrt uns, daß der kategorielle Durchbruch der Vernunft ein globales Ereignen ist, das sich in allen Hochreligionen beobachten läßt. Hochreligionen sind immer auch Weltreligionen, weil sich die Vernunft in der Erkenntnis des gleichen Wesens immer auf alle Menschen bezieht: Der Buddhismus erscheint einige Jahrhunderte früher als das Christentum, ausgehend von der gleichen durch die Vernunft umgewälzten Welterkenntnis – aber nur den Griechen war es gegeben, über die Naturerklärung der Vorsokratiker, die sophistische Aufklärung und die eigentliche Philosophie die Metaphysik der Vernunft funktionell und regelgerecht zu eröffnen und auf den Begriff zu bringen. Von dieser Metaphysik gehen die Wesensentbergungen in der Anwendung auf das Seiende einschließlich des Menschen als die vernunfteigene Weltsicht in den Bestand der Tradition ein, insbesondere also die Ethik und die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft, während die existentielle Metaphysik der Vernunft durch die Reflexion entleert worden und am Nihilismus gestrandet ist. Dieser letzteren Metaphysik, in welchem Religions- oder Vernunftkleide auch immer – denken Sie einerseits an das Unwesen von Sekten und Esoterik, andererseits an die „-ismen“ und Ideologien – haben wir uns allerdings zu entschlagen, ebenso wie die Vernunft selbst einst dem Mythos des Verstandes den Boden entzog. Dieses Entschlagen ist der Weg der Reflexion der Vernunft selbst, auf dem sie begreift, daß die Bebilderung der metaphysischen Transzendenz aus dem Zusammenspiel der Funktionserhöhung des Geistes zur Vernunft mit der lebendigen Geistigkeit des Menschen stammt, der sich getragen von diesem Geist in seinen beiden Bedeutungen als Funktion und élan vital in der Welt einzurichten hatte – der Zwischenraum des Vor-Wurfes der Metaphysik ist durch die Vernunft selbst eingeholt.

Schließen möchte ich ... mit Metaphysik: Wenn wir über das Sein denken, sind wir in unserem heutigen Status nach wie vor auf die metaphysische Begriffswelt der Vernunft angewiesen; aber wir können aus der Doppelreflexion heraus versuchen, mittels der metaphysischen Bildsprache über die Metaphysik hinauszudeuten, um deren Weltsicht zu transzendieren.

Élan vital ist das Grundprinzip alles Seins: daß überhaupt Seiendes ist. Das „Sprechen des Wortes durch Gott“ (physikalisch und ebenso metaphysisch „Urknall“ genannt), bewirkt das Umschlagen „Gottes“ in seine zweite Natur als élan vital; durch dieses „Sprechen“ ist „Gott“ ausschließlich in dieser Welt des Seienden und diese selbst, oder „er“ ist überhaupt nicht. Diese Welt konstituiert sich als drängende und sich ent-wickelnde, weil sie élan vital ist, der sich als Zentrum des jeweils Verschieden-Seienden stets selbst in der Entwicklungsreihe der Vermögen des Seienden transzendiert. Dies verführte Nietzsche etwa zu dem falschen Bild, daß alles Seiende Wille zur Macht sei als stete Selbstübermächtigung; aber das ist nur ein Aspekt dieses Transzendierens, wie es ebenso verkehrt wäre, élan vital mit Energie zu verwechseln. All dies, wie alles Seiende, das ist und noch werden will, sind Sublimationsformen dieses einen élan vital, der durch das „Sprechen des Wortes“ sich als Welt ausgegossen hat und im Spiel mit sich selbst diese Welt ausdifferenziert. Dies meint auch keinen statischen Pantheismus im Sinne Spinozas, in dem sich die menschliche Vernunft der Göttlichkeit der Substanz bewußt wird. Daß wir über so etwas wie „Gott“ reden, treibt dieser nämliche élan vital im Spiel mit sich selbst erst hervor – und dies durchaus nicht mit Notwendigkeit, sondern als eine derjenigen Möglichkeiten, in denen sich jener élan vital im Seienden seiner selbst bewußt wird und sich selbst zu begreifen lernt – das aber ist seine höchste Lust. Diese Lust der Einung mit sich selbst schildern uns die Mystiker aller Hochreligionen ebenso wie die Ekstasen der Naturreligionen und die Vergottungen der Volksreligionen. Im Menschen und in seiner Entwicklung spiegelt sich jenes Spiel des élan vital mit sich selbst, der mit dem Menschen nicht nur ungeahnte Möglichkeiten des Seienden in der Potenz von Verstand und Vernunft aufdeckt, sondern seine eigene Natur entdeckt als den Willen zur Transzendenz im Seienden als Seiendes.


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