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I. „Thales“: Vom Verstand zur Vernunft - Odysseus und die Vorsokratiker
Bei meinem letzten Referat am 25.02.2009 mit dem Titel "Evolution und Metaphysik" hatte ich Ihnen sowohl phänomenologisch als auch funktionell die Entwicklung des Wesensdenkens der Vernunft darzustellen versucht; dabei hatte ich darauf hingewiesen, dass mit der Auswicklung der Metaphysik das Ende der epigenetisch-kulturellen Koevolution des Menschen noch keineswegs abgeschlossen sein müsse. Vielmehr wäre es merkwürdig, wenn nun ausgerechnet in diesem unseren Zeitalter das Ende der Fahnenstange dieser kulturellen Evolution erreicht sein sollte – wie viele Generationen haben sich nicht jeweils schon als unübersteigbaren Höhepunkt gesehen, und sind doch überholt worden: Warum sollte dies heute anders sein? Dann muss es aber erlaubt sein, einen Blick über den Tellerrand hinauszuwerfen, indem wir versuchen, diese Entwicklung bis zu uns hin sowohl in ihren Äußerungsformen als auch die funktionellen, diese tragenden Grundlagen dafür zumindest hypothetisch herauszufinden, um auf dieser Basis dann diese Bewegung spekulativ nach vorne in die offene Zukunft hinein zu verlängern. Genau dies wollen wir heute versuchen; dazu darf ich Sie an meine Grafik vom letzten Vortrag erinnern, die ich Ihnen heute (Abbildung 3) nochmals mitgebracht habe, an Hand derer sich die phylo- und ontogenetische Entwicklung wie der Gesamtzusammenhang der interpretierenden und wertenden Vermögen der Lebewesen einschließlich des Menschen sowie die damit verbundenen Fähigkeiten und kulturellen Phänomene veranschaulichen lassen. Geklärt haben wir damals, was Metaphysik innerhalb dieses Gesamtzusammenhanges sei; heute nun geht es darum, wie es wohl zur Ausbildung dieser "Wesensschau" gekommen sein könnte, weil sich vom damaligen Übergang vom Verstand zur Vernunft vielleicht eine Parallele ziehen lässt bzw. auf Analogie basierende Überlegungen anstellen lassen, wie am "Ende der Metaphysik", in dem wir uns nach Analyse der meisten bedeutenden Denker seit rund 100 Jahren befinden, ein Übergang zu einer neuen Epoche menschlichen Interpretierens aussehen bzw. auf Grund welcher funktionaler Weiterentwicklungen eine neue – und vielleicht sogar welche? – Form der Neuinterpretation von Welt und Mensch heraufziehen könnte. Dazu ein Zitat unserer Mitherausgebers Gerhard Vollmer: "Vielleicht erreichen wir ja dabei noch eine weitere, eine fünfte Weltbildstufe, eine Stufe etwa, auf der – wie in den Mythen – Fakten und Normen wieder zusammengehören ..."(2) Heute soll also zunächst die Entstehung dieser Vernunft an Hand der uns überlieferten Phänomene aus der griechischen Geistesgeschichte gezeigt werden – dazu wenden wir uns im ersten Teil den sogenannten Vorsokratikern zu. Dafür steht "Thales" im Titel meines Referates. Im zweiten Schritt wechseln wir wieder auf die funktionelle Innenseite des menschlichen Gehirnes, wozu ich Ihnen reichlich Material mitgebracht habe; dies alles mit dem Zweck, um auf die schichtweise und wechselwirksam rückgekoppelte Vernetzung und Verarbeitung innerhalb dieses Gehirnes hinzuweisen, wie sie in meiner Grafik schematisch dargestellt ist. Diese schichtweise Vernetzung zeigt sich einerseits an den Großsystemen der Informationsverarbeitung im Gehirn selbst, aber ebenso auf Neuronenebene am Neokortex und dessen geschichteter Kolumnenstruktur. Im dritten Schritt soll ein Schnelldurchlauf an Hand der geistesgeschichtlichen Phänomene die Rezeption und Reflexion der Vernunft bis zum Ende dieses "Kreisbogens der Metaphysik" kurz aufzeigen, an dessen Ende wir selbst stehen. Und da heute wie damals bei den Vorsokratikern die Welt, statt uns nunmehr vollständig erschlossen zu sein, ganz im Gegenteil immer unbekannter wird, wenn wir an Makrokosmos und Mikrokosmos denken, wie diese etwa von Planck und Einstein erschlossen wurden, diese neuen Sehweisen der Welt mit unserer mesokosmischen Anschauung nicht mehr zusammengehen wollen; da wir andererseits überall Auflösungstendenzen und ein Nichtmehrweiterwissen dieser unserer Vernunft konstatieren können (der "Nihilismus", das "Ende der Metaphysik", der "Tod Gottes"), gibt es plausible Gründe für die Annahme, dass wir in einer zur Zeit der Vorsokratiker parallelen Phase leben, in welcher neue Aspekte der Welt entdeckt und interpretiert werden, die wiederum in der Lage sein könnten, in ihrer Rückwirkung auf unsere interpretierenden neuronalen Netzwerke eine ebensolche rezeptive Steigerung zu bewirken, wie dies einst die Vernunft im Verhältnis zum Verstand war. Deshalb nennt der Titel meines Referates als zweiten Namen Einstein. I. "Thales": Vom Verstand zur Vernunft Schon Ludwig Feuerbach hat in seinen Überlegungen zur Religionspsychologie die Parallelisierung von Phylo- und Ontogenese in der Menschheitsentwicklung vorgedacht, wenn er die Religionen mit der Kindheit der Menschheit zusammenstellt; er schreibt: "Die Religion hat ihren Ursprung, ihre wahre Stellung und Bedeutung nur in der Kindheitsperiode der Menschheit, aber die Periode der Kindheit ist auch die Periode der Unwissenheit, Unerfahrenheit, Unbildung oder Unkultur." ... "Eine neue Zeit bedarf auch einer neuen Anschauung und Überzeugung von den ersten Elementen und Gründen der menschlichen Existenz, wenn wir das Wort "Religion" beibehalten wollen – einer neuen Religion!" (Das Wesen der Religion, 23. Vorlesung) Diese Not eines neuen Anfangs und einer "neuen Religion" besteht nicht nur heute, sondern sie war auch am Übergang des Menschen vom Verstand zur Vernunft gegeben, und so kann man diese "Achsenzeit" mithin im Bilde auch als die Pubertät der Menschheit bezeichnen. Nicht nur in der Ontogenese aller jungen Menschen ist dieser Übergang vom Verstand zur Vernunft eine schwierige Phase, bedingt durch einen genetisch und epigenetisch bewirkten Umbau der neuronalen Gehirnstruktur, in der sich der einzelne Mensch selbst nicht recht kennt – vielmehr dürfte dies auch phylogenetisch gelten, denn die ersten Anfänge der Vernunft, der konkrete Übergang dahin im 8./7. Jahrhundert vuZ. liegen ebenfalls in einem merkwürdigen Dunkel, aus welchem heraus in mythischer Erzählung die ersten Schritte der Vernunft in der Dichtung Homers (750-700) und des ihm zeitlich folgenden Hesiod sichtbar werden: "Homer und Hesiod haben den Griechen die Götter geschaffen.", schreibt Herodot bereits nicht viel später (490-425 vuZ). Odysseus als Überleitungsfigur Wilhelm Nestle(3), einer der bedeutendsten Altphilologen des vorigen Jahrhunderts, beschreibt allgemein das Besondere dieser "Achsenzeit" in Griechenland folgendermaßen: "Schon die Tatsache, daß die Griechen philosophiert haben, hebt sie über viele, die Art, wie sie es getan haben, über alle Völker des Altertums empor. Wohl gab es auch in Indien und China eine philosophische Spekulation, aber sie verließ nie den Boden der Religion, sondern hielt sich stets innerhalb der Grenzen des Dogmas. Persien begnügte sich mit Zarathustras religiöser Reform, und das israelitisch-jüdische Volk in seiner großartigen religiösen Einseitigkeit dachte nie daran, an die Stelle der göttlichen Offenbarung die menschliche Erkenntnis zu setzen.(4) ... Nur sie [die Griechen] haben eine Philosophie im modernen Sinn geschaffen. Dies erklärt sich aus dem eigentümlichen Doppelcharakter des hellenischen Geistes. Wir finden hier kein Überwuchern der Phantasie über den Intellekt wie in Indien und kein Zurücktreten des Gemüts hinter den nüchternen Verstand wie in China. Instinktive und rationale Kräfte sind im griechischen Wesen eine wunderbare harmonische Verbindung eingegangen. Hellenische Religion, Dichtung und Kunst bergen ohne Zweifel ein enthusiastisches Element, aber es wird durch eine rationale Strömung geklärt; und in den Schöpfungen des Verstandes, der Philosophie und Wissenschaft, klingt umgekehrt ein Ton der Begeisterung mit." Unschwer erkennen wir hier das Apollinische und das Dionysische wieder, wie es Nietzsche bereits in seiner "Geburt der Tragödie" beschrieb. Dieser Übergang zu rationaler Helle kündet sich bereits in der ersten großen Dichtung der Griechen, Homers Ilias und Odyssee an. Nestle schreibt weiter: "Ernsthafter als zu den olympischen Göttern schaut der homerische Mensch zu der Macht empor, der er die Unsterblichen ebenso wie die Sterblichen unterworfen glaubt: zur Moira, in der das Bedürfnis nach einer einheitlichen Zusammenfassung des Weltregiments Befriedigung sucht und in der sich eine erste dämmerhafte Ahnung der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens ankündigt."(5) Noch deutlicher wird diese Tendenz in der Odyssee: "während dort [in der Ilias] der ‚schnellfüßige‘ Achilleus der gefeiertste Held ist und der Ruhm noch durchaus auf Taten beruht, deren Voraussetzung physische Stärke ist, erscheint hier der ‚vielgewandte‘ Odysseus, wenn er auch noch nicht so heißt, schon als der Prototyp des ‚Weisen‘, der durch seinen überlegenen Geist auch die schwierigsten Lebenslagen beherrscht und überwindet."(6) Soweit Nestle. Was ist der eigentliche Grund der "Listigkeit" des Odysseus?(7) Er sieht sich auf sich allein gestellt; nicht er hat seine Götter, seine Götter haben ihn verlassen! Er muss einen Ausweg suchen, wo die mythische Orthodoxie keinen Weg mehr zeigen kann. Denn er steht am Ende der Verstandesauswicklung (wie wir am Ende der Vernunft und ihrer Metaphysik), wo die Götter keine Antwort mehr geben! Deshalb schaut er zurück bis zu den Lotophagen, die in tierisches Vergessen sinken (wie manche Heutige sich mit Rauschmitteln zudröhnen). Er muss "an den Mythen vorbei", sich "neben" ihnen, als auf sich gestellt, vorbeiarbeiten, wie wir auch. ... Auch wir Heutigen sind ja doch "listig"; "vernünftig über die Vernunft hinaus", mit der Vernunft, und sie doch fahrenlassend, ebenso wie sich Odysseus verständig verhielt über den Verstand hinaus. Versuchen wir nicht, wie es jedenfalls die Religionen sagen würden, uns mit "Vernünfteln" an "Gott" "vorbeizudrücken"?! Und damit "Gott" ebenso aus der Welt zu drücken wie einst Odysseus die Götter? Offenbar ist damals der Verstand global an das Ende seiner Fähigkeiten gelangt, er wird nur mehr intrumentalisiert, erschöpft sich in den bisherigen Hochkulturen im Nahen Osten in Machtkämpfen, kulturellen Rückgriffen und Wiederholungen – eine Situation, die der heutigen am Ende der Vernunft funktionell sehr ähnelt. 2. Bedeutung der Vorsokratiker Aus diesem "pubertären Dunkel" tauchen nunmehr in Griechenland nacheinander und in schneller, sich steigernder Reihenfolge jene ehrwürdigen Denker auf, die wir als Vorsokratiker bezeichnen: Thales steht im Titel meines Referates für die Reihe dieser Geister, mit denen die Rezeption der Vernunft und die Entwicklung der abendländischen Geistesgeschichte beginnt. Ein Beiblatt mit einem Überblick in zeitlicher Reihenfolge samt den jeweiligen wichtigsten Aussagen habe ich Ihnen zur Verfügung gestellt. Daher kann ich mich hier – ganz im Sinne dieser phylogenetischen Entwicklung ... – auf das Wesentliche beschränken. Denn darum geht es hier: Als Vernunft werden die wesentlichen Eigenschaften der Dinge im Wege der Abstraktion unter Rekurs auf die typisierende Interpretation des Verstandes ermittelt. "Hinter den Dingen" wird das "Eigentliche" gesucht und gefunden. Kein Wunder, dass so zunächst eine "Hinterwelt" entstehen musste, wie Nietzsche dies später genannt hat, aus deren Denken des Seins sich dann Metaphysik und Jenseits entwickelt haben. Tabellarischer Überblick über die verschiedenen Vorsokratiker und ihre Lehren Es werden nun die frühesten wissenschaftlichen Schriften verfasst, die sich alle "Über die Natur" betiteln: Den Vorsokratikern geht es um das richtige Verständnis der Natur und deren Erscheinungen, die kausal verstanden und der falschen Mythifizierung entrissen werden sollen. Man ist auf der Suche nach dem "wahren Sein" im Gegensatz zum bloßen Schein, man unterscheidet nunmehr zwischen bloßer Meinung und der Wahrheit, die als alétheia aus ihrer Verborgenheit herausgeholt werden muss. So betreiben vor allem Xenophanes, Heraklit, Anaxagoras und Demokrit Erkenntniskritik, indem sie zwischen Wahrnehmung und deren Interpretation unterscheiden und so die Bedeutung der Verstandestätigkeit für die Wahrnehmung thematisieren und reflektieren. Es liegt auf der Hand, dass dabei dem Denken des Seins, der Erkenntnis der Erkenntnis, wie Aristoteles sagen wird, und damit dem "wahren Sein" ein höherer Stellenwert zugemessen wird als den bloßen Erscheinungsformen der Dinge. Auf diesem Wege, der nach wie vor dem Verständnis der Natur gilt, – und weniger dem Menschen selbst, diesen Weg beschreiten erst die Sophisten, Sokrates und nach ihm Platon und Aristoteles – werden aufeinander aufbauend und sich steigernd unterschiedliche Weltmodelle entworfen, indem im verschieden Seienden das eigentlich wirksame Sein festzustellen gesucht wird, wofür wechselnd die vier Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde bzw. deren Mischungen benannt werden. Die Reihe dieser Überlegungen kulminiert schließlich in Demokrit, der das erste Atom-Modell entwirft, welcher Gedanke bis hin in die modernen Naturwissenschaften prägend gewirkt hat. Die These dieses Referates lautet, dass dieser Übergang vom Verstand zur Vernunft – also das Eröffnen einer weiteren "Vermögensschicht" als einer Datenauswertung durch eine übergeordnete Vernetzungsstruktur – nicht das letzte Wort der epigenetisch-kulturellen Koevolution im menschlichen Gehirn gewesen sein muss; vielmehr wäre es wohl eher verwunderlich, wenn diese rezipierende und reflektierende neuronale Netzstruktur mit der Durchreflektierung der Vernunft und dem heutigen "Ende der Metaphysik" zum Stillstand gekommen sein sollte. In einer Prolongation dieser Entwicklung wäre vielmehr zu erwarten, dass mit neuen Assoziations- und Auswertungsstrukturen, die sich der Vernunft überlagern parallel wie die Vernunft im Verhältnis zum Verstand, neue Erkenntnisbestände zunächst rezipiert werden können. Um dies plauibel zu machen wenden wir uns nun wieder dem Funktionellen zu: II. Die neuronale Grundlage Vernunft wird hier, wie es soeben an deren Erkenntnisphänomenen gezeigt werden sollte, verstanden als Reflexion der Verstandesdaten durch eine diesem sich überlagernde neuronale Netzstruktur, welche also ihren "Input" allein vom Verstand bekommt und dessen Daten in einer neuen Weise in sich selbst auswertet. Wie wir alle es selbst an uns wahrnehmen können, ist Vernunft an sich und ihre Logik selbst "ganz leer", sie benötigt stets diesen Input des Verstandes. Damit geht sie auf ihre eigene Weise um, indem sie das unbewusst durch die Sinne erfasste Typische, mit dessen Zusammenfassung sich der Verstand die Dinge erschuf, zum "Wesen" der Vernunft erhebt und in der bewussten Abstraktion und Reflexion der Verstandesdaten die eigene Sehweise der Vernunft hervorbringt: die Erkenntnis des gleichen Wesens in den Dingen und schließlich der globalen Wesensgleichheit der Menschen. Hier wollen wir also zu klären versuchen, was denn funktional in der fortschreitenden Entwicklung des menschlichen Denkens die Grundlage für diese völlig neuen Erkenntnisse sein könnte. Starke Indizien für eine solche schichtweise Überlagerung von Netzstrukturen liefern nicht nur die Großsysteme des Gehirns in ihrem phylo- und ontogenetisch sich entwickelnden und strukturellen Netzaufbau, sondern auch die Säulenstruktur der Neuronen im Neokortex und deren ebenso schichtweiser und aufeinander projizierender Aufbau. Dazu müssen wir wieder auf meine Grafik zurückkommen, welche diese sich übereinander schichtenden Interpretations- und Auswertungssysteme schematisch zu verdeutlichen sucht. Steigerung der Informationsverarbeitung durch Vergrößerung des Neokortex Setzen wir zunächst das Größenwachstum des Gehirns mit den Leistungen des Gehirns des Menschen zueinander ins Verhältnis, so sehen wir eine Zunahme der Gehirnmasse in drei Schritten von ca. 600 ccm auf 1.000 ccm zu 1.400 ccm des heutigen homo sapiens sapiens, die sich mit der Zunahme seiner Fähigkeiten parallelisieren lässt.
übersichtstabelle:
* Sowohl h. neanderthalensis als auch h. sapiens sapiens werden als Nachfahren eines archaischen homo sapiens gesehen, der sich aus dem h. erectus entwickelt hat; andererseits geht man jedoch davon aus, daß sich der h. neanderthalensis in Europa entwickelt haben soll, während h. sapiens sapiens wiederum aus Afrika stamme und sich von dort aus erneut über die Erde ausbreitete, sodaß er teilweise (Palästina) parallel und zusammen mit dem h. neanderthalensis lebte und diesen schließlich verdrängte. Auf neuronaler Ebene bedeutet das: Man schätzt etwa 100 Milliarden bis eine Billion Nervenzellen (Neuronen); jede Nervenzelle steht über bis zu 10.000 Synapsen mit anderen Nervenzellen in Verbindung. Im Kortex gibt es ca. 1015 Verbindungen, also eine Billiarde. Zählte man pro Sekunde eine Synapse, wäre man erst nach 32 Mio. Jahren damit fertig. Bedenkt man die Vielfalt der möglichen Verbindungen, wird die Anzahl der Kombinationen hyperastronomisch: in der Größenordnung einer Eins mit Millionen Nullen. Die Anzahl der positiv geladenen Teilchen im ganzen bekannten Universum beträgt etwa eine Eins mit achtzig Nullen.(8) Am Ende dieser Entwicklung steht der homo sapiens vor uns, der mittels Sprache in der Vernetzung der Einzelsinnesergebnisse zu Dingen seinen Verstand als der Emotio übergeordnete Struktur rezipiert und dabei natürlich auf den gesamten vorliegenden Aufbau zurückgreift, insbesondere auf die Bewertungsspeicherungen des Limbischen Systems. Lassen wir zu diesem Sachverhalt Gerhard Neuweiler zu Wort kommen, einen in München lehrenden Neuobiologen und Tierphysiologen; dessen Buch "Und wir sind es doch – die Krone der Schöpfung", 2008 kurz vor seinem Tod erschienen, kann ich nur wärmstens empfehlen; er schreibt: "Wandert man im präfrontalen Cortex von hinten nach vorne, so verlagert sich die neuronale Kontrolle vom Wahrnehmen und Handeln in der äußeren Welt hin zur abstrakten, kategorialen Repräsentation und zu internen, emotionalen Befindlichkeiten. Entscheidungen treffen und die Aufmerksamkeit auf eine innere oder äußere Situation lenken sind zwei verschiedene Vorgänge, die von unterschiedlichen Cortexarealen ausgeführt werden: Im präfrontalen Cortex kontrollieren die hinteren Bereiche, die unmittelbar vor motorischen Zentren liegen, die Aufmerksamkeit auf äußere Ereignisse. Sie haben enge Verbindungen zum hinteren Teil des Neocortex, wo die Wahrnehmung der äußeren Welt und bei Primaten und beim Menschen die wichtige visuelle Steuerung von Handlungen repräsentiert sind. Im Gegensatz zu diesen Aufmerksamkeitszentren haben die frontopolaren Entscheidungsnetzwerke keinerlei Verbindung zu dieser sensorischen hinteren Cortexhälfte. Sie stellen stattdessen durch reziproke Projektionsschleifen den Dialog mit dem Hörcortex, wo die Welt durch Sprache begrifflich erfasst wird, und dem vorderen oberen Schläfenlappen her, wo die Informationen der fünf Sinne schon zu einer kohärenten, komplexen Welt integriert sind. Die Entscheidungsareale bekommen also sowohl verbale als auch sensorische und konzeptuelle Informationen über die Außenwelt und nehmen ihrerseits Einfluss auf diese Art der Welt-Repräsentation. Die beiden dorsalen Areale interagieren auch mit den Amygdalae, dem vorderen Cinguluscortex und dem orbitofrontalen Cortex, die über die innere emotionale und Motivationswelt des Individuums informieren. In den frontopolaren Feldern fließen beide Welten, die innere gefühlte mit der äußeren, kognitiv wahrgenommenen zusammen."(9) Eben diesen Sachverhalt, den Neuweiler hier in seiner corticalen Verteilung schildert, möchte Ihnen meine Grafik schematisch zeigen: Das jeweils vorausliegende System wird durch die Dazwischenschaltung des überlagernden Systems gehemmt und neue Auswertungsschritte der Informationen dazwischengeschaltet. Und dies nämliche Verfahren der überlagernden Vernetzung und Projektion wird sich ebenso in der Struktur des Neokortex selbst zeigen! Übrigens liegt gerade in diesen Hemmungen der vorgegebenen Abläufe und in der dadurch ermöglichten Steigerung der verschiedenen Informationsauswertungen das, was wir als die zunehmende Freiheit des Menschen beschreiben. Willensfreiheit bedeutet ja nicht, völlig unabhängig von den Vorsystemen zu entscheiden, sondern durch diese überlagernde Informationsverarbeitung hindurch "zur Vernunft zu kommen", sich die Entscheidungsumstände bewusst zu machen und nach rationalen Kriterien zu beurteilen. Auf diese Weise kann das Individuum auch noch das Bewerten selbst in den Griff bekommen, in dem das natürlich nach wie vor beteiligte Limbische System als Bewertungssystem nunmehr in den Dienst dieser rationalen Beurteilungsform gestellt wird. Daher rührt etwa aller Idealismus, dessen starke Motivationskraft genau aus dieser Verbindung von Limbischem System und vernünftig-ethischen Kriterien herstammt. Hier haben wir es mit einer ähnlichen Übertragung der Leitungsfunktion an das "höchste Vermögen" zu tun, wie wenn etwa im Embryo die Steuerung des Kreislaufes von dessen eigenem zu schlagen beginnenden Herz übernommen wird. Ja, selbst Leben selbst lässt sich als solch ein Übergang der "Energiesteuerung" von den Teilen des präbiotischen Systems auf das System selbst verstehen. Parallel dazu fand natürlich auch bereits beim Übergang von der Emotio zum Verstand eine solche Leitungsübertragung und Indienststellung der Emotio statt: Für viele ist noch heute der Utilitarismus die wichtigste Form der Philosophie, und zwar deswegen, weil das Bewertungskriterium des Verstandes die Nützlichkeit ist. Was nützt, wird von der Emotio positiv bewertet und umgekehrt – und so sehen wir hier die Vermögen wiederum schichtweise aufeinander aufbauend tätig. Das Sein überlagert das Haben, wie dies das wohlige Empfinden überlagert, und gleichzeitig stehen alle drei Formen in einem aufeinander aufbauenden und unlöslichen Zusammenhang. Schichtenaufbau und neuronales Säulenkonzept Wie schon angedeutet, finden wir diesen schichtenden Aufbau auch direkt im Nekortex und in der Vernetzung der Neuronen selbst wieder. Auch dazu habe ich Ihnen entsprechende Grafiken mitgebracht (s. Abb. 1,2, 4-7) Die Abbildungen 1 und 2, die Sie mit den angegebenen Links im Internet finden, zeigen einmal den Aufbau der Gehirns im Überblick (Abb. 1) sowie die Verteilung der verschiedenen neuronalen Netze des Neocortex (Abb. 2).
Die beiden Abbildungen 4 und 5 zeigen, wie im Laufe der Entwicklung die Großhirnrinde in den ersten 24 Monaten sich durch Epigenese zunehmend vernetzt; interessant ist nicht nur, wie das Synapsenwachstum im Stirnlappen etwa gegenüber demjenigen im visuellen Cortex zunächst stark "hinterherhinkt" – erst müssen wir eben sehen und hören, bevor wir die "Dinge" mittels Sprache in den rationalen Bereichen des Cortex vernetzen können; wichtig ist vielmehr auch die unterschiedliche Myelinisierung der Axone, durch welche die Verbindungen im Cortex fest installiert werden, die erst nach der Pubertät bis zum 20. Lebensjahr ihren vorläufigen Abschluss findet.
Bereits Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte man im Cortex von Säugern winzige Säulenstrukturen aufgespürt, die sich durch einen einheitlichen Aufbau auszeichnen. Sie reichen von der Oberfläche bis zur weißen Substanz, ihre Sockelfläche mißt nur wenige Mikrometer. Die Großhirnrinde ist aus Hunderttausenden solcher nebeneinanderstehenden Zellkolumnen aufgebaut.
Die Auszählung der Neuronen in diesen Zellaggregaten ergab, ganz gleich ob bei Ratten, Katzen, Makaken oder Menschen, in jeder Cortex-Kolumne im Durchschnitt 108 Nervenzellen – eine Biokonstante, die mit sehr geringen Abweichungen bei allen Landsäugern gleich groß ist.(10) Henry Markram, der Leiter des Blue-Brain-Projekts beim EPFL Lausanne, sagt über die Bedeutung dieser Strukturen: „Die neokortikale Säule ist wie der Heilige Gral.“(10a) Diesen schichtweisen neuronalen Aufbau bei der Ausbildung des Neokortex veranschaulichen wiederum die Abbildungen 6+7; es zeigt sich eine nach und nach gebildete vertikale Vernetzungsstruktur von Schicht VI bis I, wobei interessanter Weise in der zuletzt gebildeten Schicht I keine Neuronen mehr vorkommen. Die Schichten vernetzen sich untereinander bei ihrem Aufbau, worauf die später gebildeten Zellschichten nicht direkt von den Sinnen hier ihren Input bekommen, sondern von den vorgeschalteten rezipierenden Neuronenschichten – also auch hier eine Form der reflexiven Auswertung. Konkret lässt sich dies etwa an Hand des Sehvorgangs zeigen.(11) Halten wir als Ergebnis fest: Sowohl bei den Großsystemen des Gehirns als auch in der Struktur des Neokortex selbst können wir eine schichtweise Verarbeitung von Information beobachten, die phylo- und ontogenetisch aufeinander aufbaut und im Wege der sowohl rückgekoppelten seriellen und parallelen wie auch der rezipierenden und reflektierenden Interpretation einerseits stets "indirekter" wird, andererseits damit nicht nur stetig "genauer" die Umwelt erfasst, sondern auf diesem Wege auch entsprechend diesen Vermögen in kategoriell aufsteigender Weise bewertet: Empfindung und Gefühl, Nutzen und Macht, Gleichheit und Idealität sind solche von den Vermögen des Menschen an Natur und Umwelt herangetragene Qualitätsmaßstäbe, die ihre "Lebendigkeit" aus der jeweiligen Verbindung mit dem Limbischen System erhalten. III. Ein kurzer Gang durch die Rezeption und Reflexion der Vernunft Seit etwa 50.000 Jahren können wir die "kulturelle Explosion" des homo sapiens beobachten als die Rezeptionsphase seines Verstandes, die frühen Hochkulturen seit etwa 10.000 vuZ in Ägypten und dem Nahen und Fernen Osten lassen sich als dessen Reflexionsphase auffassen, die mit dem "Gottkönig" Pharao ihr Maximum erreicht und überschreitet. Wie geschildert setzt mit den Vorsokratikern, aber auch in China und Indien die Rezeption der Vernunft ein, kulminierend in dem Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles; die Breitenwirkung dieser Gedanken und deren Übernahme in die Tradition bewirkt die allmähliche Umformung der Religion zum Monotheismus im Hellenismus bis hin zur "Zeitenwende". Diese Breitenwirkung und den Eingang in die Tradition der Menschheit "bezahlt" die "reine Vernunftlehre" natürlich mit der Übernahme von Elementen aus den vorlaufenden Verstandesauffassungen – dies lässt sich in allen Religionen ja sehr schön bis heute beobachten ... Und so fällt über lange Zeitläufte die Herrschaft dieser neuen Sehweise der Welt nicht besonders "ideal" aus – was angesichts der Verfasstheit des Normalmenschen zu allen Zeiten kein Wunder ist. Ohne dass dies den Akteuren recht eigentlich bewusst ist, wird das "neue Heilige" instrumentalisiert und im Wortsinne naturgemäß zu oft ganz anderen Zwecken missbraucht. Erst der Rückgriff der Scholastik und vor allem der Renaissance auf das antike Gedankengut gibt der Ratio gegenüber dem Glauben wieder eine Chance, von Meister Eckehart über Luther führt ein direkter Weg zu René Descartes: Im "cogito ergo sum" gelangt das Individuum und die Vernunft selbst zur Selbstreflexion ihrer eigenen Rezeptionsphase. Die "Aufklärung" führt über Deismus und Pantheismus zum Idealismus, aber den Dualismus und den Vorrang des Metaphysischen ist man bis dahin von Ausnahmen abgesehen noch nicht losgeworden. David Hume, die französischen Materialisten, und in Deutschland etwa Feuerbach und Nietzsche dringen auf eine einheitliche Weltsicht: Das "Ende der Metaphysik" und damit des Kreisbogens der Rezeption und Reflexion der Vernunft ist eingeläutet, denn nichts anderes will uns Nietzsches Wort "Gott ist tot" sagen.
Friedrich Nietzsche: Der tolle Mensch Sendung: 3SAT Kulturzeit im Jahr 2000 Sowohl in den Worten Nietzsches wie in den 100 Jahre späteren Bildern wird das "Ende der Metaphysik" inszeniert, mit der Folge der Instrumentalisierung der Vernunft, wie sie Adorno und Horkheimer in der "Dialektik der Aufklärung" thematisiert haben. Nietzsche hat davon bereits ein konkretes Bewusstsein, wenn er sagt: "Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?"(12) Und weiter: "Der Glaube an die Vernunftkategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen. ... alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschaftsgebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge."(13) Aber damit schüttet er das Kind mit dem Bade aus, denn er unterscheidet nicht zwischen richtiger und falscher Metaphysik – ich hoffe, Sie erinnern sich diesbezüglich an mein vorhergehendes Referat –, sondern verdammt die Ergebnisse der Vernunft in Bausch und Bogen. So wie einst Platon in seiner grandiosen Einseitigkeit der Vernunft den Homer in seinem Staat verbieten lassen wollte, ebenso nun Nietzsche in der Umkehrung: Sein "Fluch auf das Christentum" soll ja nicht nur dieses treffen, sondern vor allem die Vernunft und ihre Sehweise selbst, und nicht zuletzt Platon – welch eine Ironie der Geistesgeschichte.(13a) IV. Mit Einstein "über die Vernunft hinaus"? Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht, jedenfalls wenn wir im dunklen Tunnel nicht rückwärts gehen, wie uns so viele Glauben machen wollen – selbst noch ein Nietzsche im Bild der "blonden Bestie"; nein, wir müssen dem Licht am Ende des Tunnels nach vorne entgegen gehen. Mit dem Seinsdenken der Vernunft haben wir die Wesensstrukturen des Seienden erkannt, sind dadurch aber auch in eine Art statisches Denken geraten, das "Sein des Seienden" ... – es könnte nun gelten, auch diese Strukturen zu dynamisieren und in dieser Form in unser Denken aufzunehmen. Und dazu zeigen sich nicht nur mit den Relativitätstheorien Albert Einsteins – daher figuriert dieser im Titel des Referates als der wegweisende Denker über das Ende der Vernunft hinaus – bereits erste Schritte: "Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist durch einen ungewöhnlichen Aufschwung der Physik gekennzeichnet, der eine der glänzendsten Epochen der Geschichte der Wissenschaft darstellt. In diesen Jahren hat die Wissenschaft neue Gebäude errichtet, die die kommenden Jahrhunderte überdauern werden: die Relativitätstheorie und die Quantentheorie. Die erstere ist ganz allein dem schöpferischen Gehirn Albert Einsteins entsprungen. Zur zweiten hat Planck die ersten Fundamente gelegt, dem Denken Einsteins aber verdankt sie einige ihrer bewundernswürdigsten Erweiterungen. Nur mit Staunen und Ehrfurcht kann man ein Werk betrachten, das zugleich so tiefgründig und so außerordentlich originell ist."(14) So der Physiker Louis de Broglie. Erinnert das zuletzt Gesagte nicht stark an die eingangs zitierten Worte von Nestle über die Vorsokratiker? "Erst Einsteins Konzeption der allgemeinen Relativitätstheorie schuf die Voraussetzung einer grundsätzlichen Neufassung der Theorie der Gravitation, die die vorangegangenen Anschauungen überwand. Seine allgemeine Relativitätstheorie ist keine Korrektur der Newton‘schen Mechanik, sondern eine grundlegende Umgestaltung der bisherigen naturwissenschaftlichen Anschauungen. Das gesamte Gebäude der traditionellen Physik, das Newton auf den Begriffen der "Kraft", der "Beschleunigung" und das "absoluten Raumes" errichtet hatte, mußte neu konzipiert und auf gänzlich anderen Fundamenten wiederaufgebaut werden."(15) Unsere mesokosmisch-sinnliche Anschauung sieht sich jedoch dadurch überfordert, und wir dürfen hinzufügen, dass diese Überforderung vor allem für die Interpretation dieser sinnlichen Anschauung durch Verstand und Vernunft gilt! Auch dies ein Hinweis darauf, dass es nach wie vor offene und unbekannte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation der Welt und ihrer Zusammenhänge gibt, der wir uns womöglich mit einer Weiterentwicklung unserer Interpretationsvermögen weiter annähern können, so wie es die "Achsenzeit" im Gang vom Verstand zur Vernunft vormachte. Diese Schwierigkeiten der Einsteinschen Relativitätstheorie mit ihren schiefen Winkeln, gebogenen Bahnen, unterschiedlichen Zeitverläufen usf. (was aus der Beschränkung der Lichtgeschwindigkeit folgt): Dies rührt wohl daher, dass wir auf das statische und dreidimensionale Seinsdenken der Vernunft, aus der die Physik Newtons hervorgegangen ist, die neue dynamische und damit über die Vernunft hinausgehende Sehweise anwenden, indem wir die 4. Dimension mit der Zeit einbinden. Entsprechendes zeigt sich, wenn wir den Mythos der christlichen Religion mit der Evolutionstheorie zusammensetzen wollen: Das knirscht und quietscht ganz genauso an allen Ecken und Enden ... Parallel zu den Vorsokratikern ist es auch heute: Diverse neue Versuche werden angesetzt, um ins Unbekannte vorzustoßen; damals wurden als Urstoffe Wasser, Luft, Erde oder Feuer angenommen, heute versuchen wir es mit der Stringtheorie, den Wurmlöcher- bzw. verschieden dimensionierten Universen(15a) und anderem, um wieder ein schlüssiges Weltbild herzustellen, eine "neue Theorie von allem", ganz so, wie es einst die Vorsokratiker anstrebten. Und so gilt heute auch für das Universum selbst der Grundsatz der Evolution, wir spekulieren über dessen Zukunft, die für uns "noch" dunkel ist, wie jene "Dunkle Materie", von deren Eigenschaften diese Zukunft abhängen könnte.(16) Einen neuen Ansatz bietet hier inzwischen die Theorie der Schleifen-Quanten-Gravitation, die ohne eigentlichen Urknall auskommt und eine Erklärung für die Inflationsphase des Alls liefern könnte.(17) Rüdiger Vaas(18) konstatiert denn auch etwa anlässlich einer Rezension von "Hawkings neues Universum": Das Buch "erklärt die Theorien der ewigen und chaotischen Inflation, geht der Frage nach, ob es ein Universum vor dem Urknall gab, und schildert die Diskussion der Wissenschaftler darüber, warum die Zeit nur in eine Richtung verläuft. Viele der vorgestellten Hypothesen sind reine Spekulation und werden sich in absehbarer Zeit nicht nachprüfen lassen – himmlische Glasperlenspiele gewissermaßen." Jedenfalls, die Parallelität des "Stocherns im Dunklen" zwischen den Vorsokratikern und den heutigen Wissenschaftlern ist in einer bestimmten Hinsicht unübersehbar: Es gelingt derzeit nicht, die Wissensbestände, die sich aus der sinnlichen Wahrnehmung, den Daten des Verstandes und deren Vernunftinterpretation ergeben, in ein stimmiges Gesamtbild zu bringen – und doch hatte man Ende des 19. Jahrhunderts noch gedacht, dass es eigentlich nichts mehr zu erforschen gäbe, da bereits alles bekannt sei ... Wie nun könnte die weitere Entwicklung zu denken sein, was könnte diese vorantreiben? Ausgangspunkt ist dabei die nämliche Feststellung, wie sie etwa Nietzsche, Heidegger oder Robert Musil übereinstimmend auf je eigene Weise treffen: Dass die Vernunft des Menschen am Ende sei, und dass zunächst mit diesem "Ende der Metaphysik" das Zeitalter des "Nihilismus" heraufgezogen sei. In einer evolutionär zurückbezogenen Sicht meint dies, dass offenbar das Rezeptions- und Reflexionsvermögen Vernunft sich ebenso wie einst der Verstand, über den sie selbst sich in diesem doppelten Gang erbaute, als Systemvernetzung durchreflektiert hat und diesen Zustand ihres eigenen "Endes" als "Nihilismus" interpretiert, da sie aus sich selbst nichts Neues im Hinblick auf eine übergreifende Interpretation des Seienden hervorzuziehen vermag. In diesem Stadium sollten wir nicht als Renegaten hinter die Vernunft zurück, sondern unter striktem Festhalten an ihr über sie hinaus – und dazu können wir bei den Alten etwas lernen, wie diese in der Lage waren, die Vernunft über den Verstand hinaus zu eröffnen: Mit den hellen Augen der Neugier des konzentrierten Verstandes fuhr Odysseus, der "schlaueste aller Menschen", zwischen Skylla und Charybdis – zwischen Tradition und phantastischem Denken – hindurch, löste der Hellene die erratische Direktbedeutung der Dinge auf, und entdeckte mittels einer rezipierenden Interpretation, die nur einem offen einlassenden und unvoreingenommenen Hinschauen möglich ist, in der Naturphilosophie das Wesen der Dinge und schließlich das gleiche Wesen aller Menschen, die Grundlage der Menschenrechte bis heute. Dass heute unter allen Umständen das konzentrierte Festhalten an der Vernunft nötig ist, zeigt uns wiederum ein Blick auf die Alten: Das Ent-Decken der Vernunft war nur möglich unter ständigem Festhalten des Verstandes, und so lautet noch heute das Hauptgesetz aller vernünftigen Aussagen und damit aller Wissenschaft, dass sich die Aussagen der Vernunft durch den Verstand überprüfen lassen müssen. Ebenso wird eine Transzendenz der Vernunft als überlagerndes neues neuronales Netzwerk nur unter ständigem Hinsehen auf diese Vernunft (und eben damit im zweiten Schritt auch auf den Verstand und im dritten auf die Emotio) möglich sein. Es ist die Not und die Angst des Abendländers, der sich als der Typus der auf sich selbst beharrenden Vernunft als "Später" erlebt. Gleichzeitig aber erfährt sich der Mensch aus einem unbestimmten inneren Drängen heraus als das "unfestgestellte Tier", wie Nietzsche diese Selbstwahrnehmung des Fortzeugend-Lebendigen im Individuum nennt. Und so zeigt sich das Neue bereits überall herandrängend: Die Unvoreingenommenheit der Wissenschaft, wie sie sich in einem Einstein manifestiert – und die derjenigen des Odysseus so ähnlich ist –, hat längst auf Phänomene im Seienden hingewiesen, die das Denken der Vernunft als Vernunft übersteigen, ebenso wie die rastlose Fortentwicklung der Technik Ergebnisse zeitigt, die neue Sehweisen und Erfahrbarkeiten des Seienden ermöglichen. Die Relativität von Zeit und Raum (Einstein), das Denken in synergischen Zusammenhängen und deren Versinnlichung in der Computer-Simulation, die mediale Verfügbarkeit und Gleichzeitigkeit des Wissens mittels Fernsehen und Internet, das Aufklären von Strukturen als zeitgeschichteten Systemen, all diese Offenheiten des Seienden verweisen darauf, dass in ihm noch mehr verborgen ist, als sich unsere Vernunft träumen läßt. Damit wird aber keinesfalls einer fröhlichen Wissenschaftsgläubigkeit und einem blinden Setzen auf Technik oder blankem Utilitarismus das Wort geredet. Denn eine solche Entwicklung, wenn sie denn eintreten sollte, bedarf des ständigen und schärfsten Hinsehens auf die Vernunft – was aber heißt das? Dass vor allem die Regeln der Ethik, die das Verhaltensgerüst der Vernunft allem Mitseienden gegenüber ausmachen, beobachtet werden müssen, weil sonst das Ausgreifen über die Vernunft hinaus ohne tragfähige Basis dastünde, sondern vielmehr, wie noch heute, viele Ergebnisse der Wissenschaftstätigkeit zu im Hinblick auf die Vernunft unterkategoriellen und damit inhumanen Zwecken missbraucht werden: ohne globale Ethik keine Transzendenz der Vernunft. Die vielgescholtene mediale Vernetzung und Berieselung – deren negative Seiten keineswegs übersehen werden sollen – bietet hier ebenfalls eine Chance: das Ethische im ständigen globalen Vergleich unausweichlich zu machen. Der Utilitarist und der Ethiker, sie benötigen einander in gleicher Weise, wie der Verstand und die Vernunft im einzelnen Menschen aufeinander angewiesen sind. Die Zukunft wird davon abhängen, ob es der Menschheit in ihren führenden Schichten und in der Tradition gelingt, das Ethische ebenso zu verinnerlichen, wie der verstandesgemäße Nutzen jedem Menschen evident einleuchtet. Genau dies ist der Punkt, um der "Unsichtbaren Hand", der wir nicht nur den Markt, sondern auch die Traditionsbildung überlassen, in den Arm zu fallen, um das Bild des Humanen, wie es der Vernunft entspricht, bewußt in die Tradition einzuschreiben und mittels Vorbildern und Bildung allen Mitgliedern der Spezies zu vermitteln. Der Humanismus ist mithin keineswegs etwas, das wir als "vergilbten Brief" zu den Akten legen und den Archivaren überlassen können, wie dies Peter Sloterdijk meinte konstatieren zu sollen.(19) Für das Verhältnis von Wissen und Glauben hat Robert Musil weiterführende Schlüsse längst gezogen: "Ohne Zweifel war er [der "Mann ohne Eigenschaften"] ein gläubiger Mensch, der bloß nichts glaubte: seiner größten Hingabe an die Wissenschaft war es niemals gelungen, ihn vergessen zu machen, dass die Schönheit und Güte der Menschen von dem kommen, was sie glauben, und nicht von dem, was sie wissen. Aber der Glaube war immer mit Wissen verbunden gewesen, wenn auch nur mit einem eingebildeten, seit den Urtagen seiner zauberhaften Begründung. Und dieser alte Wissensteil ist längst vermorscht und hat den Glauben mit sich in die gleiche Verwesung gerissen: es gilt also heute, diese Verbindung neu aufzurichten. Und natürlich nicht etwa bloß in der Weise, dass man den Glauben ‘auf die Höhe des Wissens’ bringt; doch wohl aber so, dass er von dieser Höhe auffliegt. Die Kunst der Erhebung über das Wissen muß neu geübt werden. Und da dies kein einzelner vermag, müßten alle ihren Sinn darauf richten, wo immer sie ihn auch sonst noch haben mögen."(20) Soweit der Dichter – geben wir als Kontrast nochmals der Naturwissenschaft das Wort; Gerhard Neuweiler schreibt: "Man muss die Augen krampfhaft verschließen, um den Fortschritt in der Evolution nicht zu sehen. [sie] führt ... ihre Geschöpfe seit den ersten enzymatischen Reaktionen, den ersten Zellen, den ersten Organismen bis zum Aufblühen der Wirbeltiere vom Einfachen zum Komplexen. Dieses stetige Fortschreiten zu komplexeren Systemen beruht auf der wachsenden Flexibilität und Lernfähigkeit, die komplexeren Organismen mehr Freiräume und Anpassungsmöglichkeiten eröffnen. Die Gehirne, die den ständigen Dialog zwischen Außenwelt und Innenwelt der Organismen führen, werden zum wichtigsten und erfolgreichsten Substrat der Evolution. Wachsende Komplexität wird umgesetzt in zunehmende Befreiung aus den Fesseln einer gnadenlosen Natur. Dieser Fortschritt gipfelt im menschlichen Gehirn, dem kompliziertesten Organ, das dieser Erdball je gesehen hat. Im Menschen emanzipiert sich die Evolution, denn er ist das einzige Lebewesen, das die Werkzeuge der natürlichen Evolution in die Hände nehmen und der natürlichen Welt eine eigene, humane entgegensetzen kann. Mit dem Menschen ist die Macht der natürlichen Evolution gebrochen, sie wird heute von einer schnelleren, kulturellen Evolution überlagert. Wohin gehen wir? Es wäre unredlich zu behaupten, auf diese Frage gäbe es eine verbindliche Antwort. Entwicklungsgeschichtlich steckt die Menschheit noch in den Kinderschuhen und wird aus ihren Irrtümern in bitterer Erfahrung lernen müssen. Die technisch-naturwissenschaftliche Zivilisation ist gerade einmal 250 Jahre alt und führte in eine rauschhafte, weltumspannende Materialismusorgie. Es ist an der Zeit, dass wir die aus unserer Freiheit erwachsene Verantwortung für die gesamte Biosphäre aktiv und gestalterisch wahrnehmen ... Unsere gestaltungsmächtige Freiheit ängstlich und selbstanklagend als Hybris zu verteufeln, führt genauso in die Hölle, wie der Ausbeutung von Mensch und Natur freien Lauf zu lassen."(21) Rekapitulieren wir zum Schluss noch einmal den zugrundeliegenden Gedankengang dieses sicherlich "kontrastreichen" Referats: Um spekulative Aussagen über die mögliche Weiterentwicklung des Menschen in seiner kulturellen Evolution wagen zu können, wurde zunächst auf der kulturellen Ebene der Übergang vom Verstand zur Vernunft an Hand der geistigen Phänomene dieser Epoche bei den Vorsokratikern geschildert; sodann wechselten wir auf die funktionelle Ebene der Gehirnvorgänge, um zu klären, ob und wie die sich schichtenden neuronalen Netze Basis einer sich solch steigernden Interpretation mittels epigenetisch sich steigernder Informationsverarbeitung im Neocortex sein könnten. Auf einer dritten Ebene wurde daher versucht, (s. meine Grafik) die kulturellen Phänomene in der Phylogenese, die neurobiologische Basis und die Ontogenese des Individuums in einer Gesamtsicht schematisch zusammenzudenken und damit diese Dynamik der Evolution des Geistes von der inneren und äußeren Seite her in dieser Wechselwirkung zu verstehen. Der Schnelldurchgang durch Rezeption und Reflexion in der Geistesgeschichte endete mit der Konstatierung des "Endes der Metaphysik" und der Zurückgeworfenheit der Vernunft auf ihre Instrumentalisierung – dies ganz parallel zum Stadium der "Achsenzeit", als die Vorsokratiker beim Übergang vom Verstand zur Vernunft auftauchten. Von daher wurden sodann spekulative Überlegungen dazu angestellt, welche Anzeichen sich heute zeigen, die einen weitere Steigerung der Informationsverarbeitung und damit Welterfassung durch den Menschen als möglich erscheinen lassen. Einstein und Internet waren Antworten – damit sind sowohl neue und bislang noch nicht voll verstandene Perspektiven wie auch die menschliche Tradition und ihre Rückwirkung auf das Individuum betreffende kulturell-technische Möglichkeiten schlagwortartig angesprochen, die eine solche epigenetisch-neuronale Steigerung der Informationsverarbeitung im Neocortex des Menschen bewirken und damit ganz neue Sehweisen von Mensch und Welt hervorbringen könnten.
Anmerkungen: (1) in: Michio Kaku, Die Physik des Unmöglichen, Rowohlt, Reinbek 2008 (2) Gerhard Vollmer, Auf der Suche nach Ordnung, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1995, S. 15 (3) Wilhelm Nestle, Die Vorsokratiker, Verlag Eugen Diederichs 1956, Lizenzausgabe 1978, S. 7-9 (4) So würde ich die jüdische Religion auch nicht als Weltreligion- und Hochreligion bezeichnen, sondern als eine Mischform aus Nationalreligion und Monotheismus, mit der sich der Übergang zur eigentlichen Hochreligion auf Grund dieser Zusammensetzung ideal verbinden ließ: Der "Alte" und der "Neue Bund" ... (5) Nestle, S. 9-10 (6) Nestle, S. 10-11 (7) aus Zur Dialektik der Aufklärung. Zur Deutung des Odysseus für das reflexive Denken siehe auch die Ausführungen von Julian Jaynes in Der Ursprung des Bewußtseins, Rowohlt TB, Reinbek 1993 (engl. Originalausgabe 1976), S. 332 ff., der ganz ähnliche Überlegungen entwickelt hat. (8) Zum großen Teil zitiert nach Gerald M. Edelmann, Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht – die revolutionäre Vision des Medizin-Nobelpreisträgers. (9) Gerhard Neuweiler, Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008, S. 177. Eine Rezension des Buches beim Deutschlandradio Kultur. Hören Sie dazu auch den Podcast bei Deutschlandradio! (10) Quelle: Internet. Bei Delphinen fielen in den Feinschnitt-Präparaten verschiedener Cortex-Regionen die ermittelten Daten dagegen drastisch ab: Die Forscher zählten in den Hirnkolumnen von Delphinen jeweils nur rund 30 Hirnzellen – gut zwei Drittel weniger als bei den an Land gebliebenen Säugetieren. (10a) Henry Markram vom Blue-Brain-Projekt, EPFL Lausanne, in 3SAT, Auf der Spur des Bewusstseins, 22.03.2010; Internet: http://www.3sat.de/webtv/?080714_bewusstsein_hitec.rm (11) Säulenstruktur des visuellen Kortex (12) Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, Kröner Verlag, Stuttgart 1964, S. 7 (13) ebenda S. 15-16; man sieht, Nietzsche kommt ganz am Schluss wieder bei seinem Ausgangspunkt an, bei Feuerbach. (13a) Die Problematik der Untergangsprophetien und des Alarmismus in dieser unserer "postmodernen" Umbruchszeit sprich auch Wolfram Weimer im Handelsblatt vom 08.05.2009 unter dem Titel "Die Welt als Geisterbahn" an: (14) Louis de Broglie in: Albert Einstein für Anfänger von Stratis Karamanolis (1984), S. 74 (15) ebenda S. 73 (15a) Wie kommt man auf Strings, in denen nicht sichtbare Dimensionen "eingewickelt" sein sollen und die Mehrfachdimensionalität über unsere 4 Dimensionen hinaus? Dahinter könnte sich das Problem der Emergenz verbergen, deren Reduktion eine solche Annahme von "Verborgenheit" geradezu erzwingt. Emergente Eigenschaften, die an den Übergangsstellen zur nächsthöheren "Ordnung" (etwa vom physikalischen zum chemischen Universum, vom Anorganischen zum Organischen, von Empfindung zur Ratio, lassen sich in Wirklichkeit nicht reduktionistisch erklären, und so bleibt nichts anderes übrig, als diese emergenten Erscheinungen in die Stringfädchen "einzurollen", damit die reduktionistische Mathematik wieder klarkommt. Ähnelt das nicht sehr dem Verfahren der Religionen, das Unerklärliche in den unerforschlichen Ratschluss des Schöpfers zu verpacken? Gleichzeitig könnte man vermuten, dass womöglich parallel zu den weiteren 6 notwendigen Dimensionen, unter deren Voraussetzung die Mathematik wieder funktioniert, entsprechende 6 emergente Schritte bis zur Entwicklung unseres sichtbaren Universums nötig waren? (16) siehe Bild der Wissenschaften 2/2009, S. 40 ff.; Rüdiger Vaas: "Fertig ist das All bis heute nicht." (17) siehe etwa SPIEGEL-Artikel in Nr. 14/2009 S. 128 ff. über die SQG von Martin Bojowaldvom 27.02.2009 (18) BdW 4/2009, S. 74, in einer Rezension zu Hawkings neues Universum (19) siehe den Vortrag von Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus, gehalten beim internationalen Symposion "Jenseits des Seins – Exodus from Being, Philosophie nach Heidegger" in Elmau am 16.-20. Juli 1999. (20) Hervorhebungen durch den Verf.; Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1, Rowohlt Verlag 1978, S. 826 (21) Gerhard Neuweiler, Und wir sind es doch – die Krone der Evolution, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008, S. 9 Zur Startseite "Kreisbogen der Metaphysik" Letzte Bearbeitung der Seite: 28.03.2010
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