Helmut Walther (Nürnberg)

Metaphysik und Evolution

Referat vor der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg am 25. Februar 2009

Publiziert in Aufklärung & Kritik 1/2010, S. 119-131 - hier die entsprechende PDF-Fassung

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I. Der Zusammenhang beider Begriffe
II. Der Evolutionsgedanke
III. Metaphysik als Teil der Evolution
IV. Richtige und falsche Metaphysik


 

Einleitung

Beherzigenswert, was der bedeutende Physiker Erwin Schrödinger (1887 – 1961) angemahnt hat: "Wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer aufgeben wollen, dann dürfte es nur den einen Ausweg aus dem Dilemma geben: dass einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen."(1)

Dieser Versuch über die Zusammenschau von Metaphysik und Evolution bewegt sich zum Teil durchaus auch auf diesem Glatteis – schauen wir einmal, ob dies sturzfrei gelingt.

 

I. Der Zusammenhang beider Begriffe

Zunächst erscheint es vielleicht verwunderlich, zwei auf den ersten Blick so inkommensurable Begriffe wie Metaphysik (also eine abstrakte Theorie) und Evolution (natürliche Tatsachen) derart nebeneinandergestellt zu sehen, gar mit einem "und" verbunden, nicht einmal wenigstens durch ein "oder" getrennt! Was kann denn die Idee Gottes bzw. des "Wahren, Guten und Schönen" mit den Schnabelformen der Darwin-Finken gemein haben?

Dualisten aller Coleur vom Platonismus bis zum Intelligent Design sträuben sich da natürlich die Haare – nebenbei gesagt: auch dies ein Zeichen des evolutionären Erbes, das sich auch an Hund, Katz‘ und Maus gut beobachten lässt ... Jedenfalls können so hehre Phänomene wie der menschliche Geist und die göttliche Seele – also der ureigene Tummelplatz der Metaphysik – nach deren Meinung nicht einfach der Natur entspringen; verdankt sich diese Seele doch dem Eingriff einer allmächtigen Gottheit bei der Entstehung jedes einzelnen Menschen!

Es ist die Metaphysik, die seit ihrem globalen Aufkommen in der von Jaspers so bezeichneten "Achsenzeit" (ca. 800-500 vuZ) die Welt in zwei Reiche teilt, und diese Teilung sind wir seither noch nicht wieder los geworden, obwohl inzwischen die Naturwissenschaften ein grandioses Bild von der Evolution und Einheit des Kosmos aufzeigen von den kleinsten Teilchen bis hin zu den größten Galaxien und den höchsten Lebensformen. Die Wirkung der Theorie Darwins, dessen 200. Geburtstag am 15. Februar das diesjährige Sonderheft von "Aufklärung & Kritik" gewidmet sein wird, ist bis heute unabgeschlossen und hat das Weltbild revolutioniert und dynamisiert: Sie hat sich nach einem Bild von Prof. Dr. Wuketits, Herausgeber des genannten Sonderhefts von A&K, zu einer "Universalsäure" entwickelt, die sich praktisch durch jeden traditionellen Begriff frisst. Und dies gilt damit natürlich auch für den Begriff der Metaphysik.

Die Unterscheidung und Bewertung dieser beiden sich zunächst fremdartig gegenüberstehenden Begriffe hat starke Konsequenzen: Denn Religiöse würden den Begriff Metaphysik über denjenigen der Evolution stellen – ihrem Glauben gemäß ist es ja der Schöpfergott, der Welt und Leben erschaffen und ihnen Sinn und Ziel vorgegeben hat, und so erklären sie die von den christlichen Religionen teilweise zugegebene Evolution zu einem von Gott selbst gewählten Weg im Schöpfungsgang. Hingegen ist für eine wissenschaftliche Weltauffassung die Metaphysik Folge und Ergebnis der Evolution – und doch ist die Evolutionstheorie gleichzeitig selbst in gewisser Weise metaphysischer Natur: Jede menschliche Erkenntnis ist und bleibt insofern hypothetischer (und eben damit metaphysischer) Natur, als wir nicht wissen können, ob sie in jeder Hinsicht und "absolut" wahr ist. Radikale Konstruktivisten übertreiben diese Aporie der menschlichen Erkenntnis dann dahin, dass sie eine geistunabhängige Wirklichkeit für nicht existent halten, für sie mithin letztlich die gesamte Weltsicht des Menschen einschließlich der Naturwissenschaften metaphysischer Natur ist, die nie mit der realen Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen sei.

Naturwissenschaftler andererseits reklamieren gerne doch die Wahrheitserkenntnis für sich, so etwa Prof. Dr. Ulrich Kutschera bezüglich der Evolutionstheorie: "Der Begriff Theorie hat in der Umgangssprache und in den Naturwissenschaften eine unterschiedliche Bedeutung. In der Biologie erklären Theorien belegte Tatsachen. So erklärt z.B. das Theoriensystem Evolutionsbiologie verschiedene Teilaspekte der Veränderung der Organismen, wobei es selbstverständlich immer offene Teilfragen geben wird. Evolution ist eine Tatsache und keine Theorie."(2) Nun ist Evolution sicherlich eine Tatsache, der sich niemand zu verschließen vermag, nicht einmal der Papst – aber welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, wie und wodurch diese Entwicklung zustande kommt, ist natürlich eine ganz andere Frage.

Wie lösen wir nun dieses Problem, was Metaphysik denn sei, und wie sich die beiden Begriffe wechselseitig zueinander verhalten? Am besten wird es sein, darauf zu schauen, wie sich die Dinge entwickelt haben, wie schon jener Philosoph sagte, der am Anfang der Metaphysik steht, und der auch mit dieser Denkweise, auf Anaximander aufbauend, erste Gedanken zur Einteilung der Lebewesen entwickelte, nämlich Aristoteles. Denn auch die Metaphysik ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sie entstand – ganz parallel wie etwa die Evolutionstheorie – als Interpretation von empirischen Beobachtungen, sie ist Folge einer neuen Selbsterkenntnis des Menschen, der sich im Gefolge der bereits angesprochenen "Achsenzeit", also etwa 800-500 vC, als vernünftig erkennt und auf der Suche nach seinem Wesen und dem Wesen der Welt ist. Und diese neue Sicht auf die Welt findet etwa gleichzeitig im genannten Zeitraum in allen großen Kulturen statt, so etwa auch in China und Indien – ein starkes Indiz dafür, dass wir es hier mit einem wirklich epochemachenden Schritt in der epigenetisch-kulturellen Koevolution des Menschen zu tun haben.

Diese Epigenese ist derzeit das heißeste Eisen in der Evolutionsforschung, und meint soviel, dass Einwirkungen von außen, etwa durch die Nahrung, aber sicherlich auch andere Umwelteinflüsse, was z.B. für den Auf- und Ausbau der Gehirnfunktionen von Bedeutung ist, auf die Wirkungsweise der Steuergene in der DNA in den Zellen Einfluss nehmen und diese verändern können. Das wiederum bedeutet, dass die DNA des Individuums dieses nicht unwiderruflich festlegt, sondern selbst wiederum gegenüber Umwelteinflüssen anpassungsfähig ist. Neueste epigenetische Forschungen zeigen gar, dass wohl Lamarck und Darwin selbst recht hatten, als sie eine Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften annahmen, was bislang von der modernen Forschung vehement abgelehnt wurde.(3) (Meine persönliche Vermutung dazu: Diese Weitergabe von epigenetisch entstandenen Merkmalen sollte allein über die Mutter erfolgen: Der sich entwickelnde Embryo kann eigentlich nur vom Versorgungssystem der Mutter, von dem er vollständig abhängig ist, bei der Ausprägung der jeweils entsprechenden Merkmale ebenfalls epigenetisch beeinflusst werden, weil diese Einflüsse des mütterlichen Versorgungssystems eben auch direkt auf den Embryo einwirken und so dessen Steuergene beim Aktivieren der DNA-Abschnitte entsprechend manipulieren. Diese Annahme bestätigt nun ein neuestens – 16.2.09 – erschienener Artikel, der die Veränderung der Methylierung aufzeigt, welche durch Smogbelastung der werdenden Mutter an den Zellen der ungeborenen Kinder nachgewiesen werden kann.(4)

 

II. Der Evolutionsgedanke (seit Anaximander, Milet ca. 610-546, und Aristoteles, Stagira 384-322)

Nicht zufällig entstehen erste Überlegungen in Richtung Evolution zugleich mit metaphysischen Überlegungen – beide verdanken sich der neuen strukturellen Sichtweise auf die Welt, die Einzelphänomene werden in der "Wesensschau" der Dinge nunmehr vergleichend aufeinander bezogen, ihre Gleichheit bzw. Ähnlichkeit gesehen, ein erster Übergang vom statischen zum dynamischen Denken findet statt (Heraklit, Ephesos ca. 500: "alles fließt"; "der Krieg ist der Vater aller Dinge" – was soviel heißt wie: Alle seienden Dinge entwickeln sich aus der Entgegensetzung, was wiederum zur Dialektik von Platon bis Hegel führt, aber ebenso auch zum Gedanken der Auslese bei Darwin).

Anaximander vermutet nach verschiedenen antiken Autoren bereits die Herkunft des Lebens aus dem Wasser und die Abstammung auch des Menschen von den Fischen, und er verfasst die erste schriftliche Abhandlung über die Natur. Inwieweit 200 Jahre später Aristoteles selbst einem evolutionären Denken zugeordnet werden kann, ist strittig; jedenfalls ließ er viele Beobachtungen über natürliche Phänomene sammeln und klassifizierte diese. "Entwicklungsmäßig" dachte er insoweit, als er allen Lebewesen eine "Entelechie", modern gesprochen eine "Teleologie" zuschrieb, dass sich aus einem Samen oder einem Ei (als "Formursache") eine ganz bestimmte Pflanze bzw. ein ganz bestimmtes Lebewesen entwickle im Rahmen seines eigenen Zweckes – wir Modernen kennen diese "Formursache": es ist die DNA. Aristoteles‘ Verdienst ist insbesondere, dass er versuchte, alle damals bekannten Tiere einschließlich des Menschen unter Berücksichtigung der verwandtschaftlichen Beziehungen erstmals in ein natürliches System zu bringen. Ihm standen noch keine adäquaten Hilfsmittel zur Bestimmung der verschiedenen Tierarten zur Verfügung und so musste er entsprechende Ordnungskriterien und eine adäquate Terminologie erst finden. Dabei handelte er bereits nach heute noch allgemein gültigen Prinzipien der Wissenschaft, nämlich Gleichartiges anhand übereinstimmender Merkmale zu vereinen und Verschiedenartiges aufgrund der entdeckten Unterschiede zu trennen. Das aber ist genau die Verfahrensweise der Vernunft(5), wie wir noch näher sehen werden.

Die moderne Form der Evolutionsforschung beginnt insbesondere mit Lamarck(6) und Darwin (1809-1882); für ersteren steht die Vererbbarkeit von Veränderungen des Organismus im Vordergrund, welche Veränderungen durch Umwelteinflüsse und Gebrauch oder Nichtgebrauch von Organen eintreten sollen (ersteres wird gerade nachgewiesen, während der individuelle Gebrauch sicher keine Rolle spielt). Auch Darwin selbst geht durchaus von der Vererbbarkeit individuell erworbener Eigenschaften im ersten Sinne aus, allerdings stehen für ihn deutlich zwei anpassende Phänomene im Vordergrund: Zunächst geht er von einem erheblichen Überschuss bei der Nachkommenschaft aller Pflanzen und Lebewesen aus, welche niemals ganz gleichartig ausfalle, sondern in sich variiere – modern gesprochen bewirken genetische Mutationen kleine Veränderungen in den Lebewesen, die nun entweder durch die natürliche Umwelt bzw. durch die sexuelle Auslese verstärkt werden, indem die besser an die Umwelt angepassten bzw. bei der Zeugung von Nachkommenschaft bevorzugten Individuen überleben und sich fortpflanzen, während die benachteiligten Individuen sich nicht durchsetzen können.

Auf diesem Weg der Evolution wurden alle bisherigen Lebewesen einschließlich des Menschen und seiner Ratio hervorgebracht, und dieser Weg ist natürlich keineswegs abgeschlossen, auf allen Ebenen geht diese Evolution stets weiter, wenn auch nicht unbedingt als "Fortschritt" – Evolution ist völlig ungerichtet. Dass sich dabei allerdings quasi als Nebenprodukt dennoch so etwas wie eine "steigernde Informationsverarbeitung" – von der DNA selbst bis hin zum menschlichen Geist "herausgemendelt" hat, lässt sich kaum bestreiten, und hängt wohl vor allem mit dem Selektionsmechanismus der günstigeren Umweltanpassung zusammen: Je besser Umweltsignale aufgenommen und reflektiert werden können, desto besser ist ein Individuum an diese Umwelt "angepasst", da es gegenüber Individuen im Vorteil ist, die nicht über eine solche Fähigkeit des aktiven Reagierens auf die Umwelt verfügen. Und die sexuelle Selektion kann überhaupt erst dort ansetzen, wo durch die natürliche Auslese bereits solche Sinnes- und Empfindungsorgane ausgebildet sind, die eine intersexuelle Kommunikation erst ermöglichen und dann ihrerseits zu neuen Variationen führen. Ebenso sind es erst diese sinnlich-neuronalen Fähigkeiten der Informationsverarbeitung von Insekten und Vögeln, die wieder direkt als Evolutionsfaktor auf die Pflanzenwelt zurückwirken und dort den ganzen Reichtum an Blüten und Farben hervorbringen.

Damit können wir zu Abbildung 1 kommen, deren Darstellung eigentlich das Zentralstück dieses Vortrages bildet, und an der ich Ihnen ganz konkret den Zusammenhang von Evolution und Metaphysik aufzeigen möchte.

 


Abbildung 1

 

III. Metaphysik als Teil der Evolution

Nehmen wir also zuerst den Begriff "Metaphysik" und schlagen wie einst Nietzsche in der "Götzendämmerung" mit dem Hammer zu(7) – und schwupps, zerfällt er uns in zwei Teile: In ein "Meta" und in die "Physik". Und schon haben wir einen ersten Zugang zu dem Gemeinten, denn offenbar will uns der Begriff etwas sagen über Dinge, die "Jenseits" der "Physik" liegen, die also nicht physischer Natur sind, sprich, die wir weder anfassen noch sehen noch hören können. (Das gibt uns schon mal einen kleinen Hinweis auf diejenigen, die behaupten, "Stimmen" zu hören, die wir anderen nicht wahrnehmen können. Um ein Wort unseres verehrten Altkanzlers Helmut Schmidt abzuwandeln: Wer Stimmen hört, sollte sich in die Psychiatrie begeben statt eine Religion zu gründen – denken Sie etwa an Paulus.)

Nun, schauen wir weiter auf unser Ergebnis, das sich in zwei Teile zerlegt hat, und damit sind wir bei der heute gängigen Begriffsbestimmung von Metaphysik:

Wir unterscheiden zunächst einmal die Ontologie (also "Lehre vom Sein"); damit sind jene abstrakten Wesensbegriffe gemeint, die unsere Vernunft als Allgemeinbegriffe aus den Dingen des Verstandes herausabstrahiert und dann für sich auf der rein geistigen Ebene reflektiert. Ein einfaches, aber wohl sehr bedeutsames funktionelles Beispiel sind etwa die Zahlen(8), mit denen wir rechnen und daraus mathematische "Gesetze" bilden. Auch alle Logik gehört hierher.

Den zweiten Bestandteil der hergebrachten Metaphysik bilden die "großen Sinnfragen" der Menschheit; Aristoteles etwa fragt hier nach dem "höchsten Seienden", also nach "Gott", und so fallen darunter mithin alle Religionen, aber auch etwa alle Existenzphilosophie und sonstige Geist- und Seins-Spekulationen, etwa Hegel, Schopenhauer und Heidegger. Es ist naheliegend, dass hier unterschieden werden muss, nämlich zwischen richtiger und falscher Metaphysik. Denn natürlich ist es durchaus erlaubt und richtig, über die großen Sinnfragen nachzudenken, diese aber mit Annahmen zu verbinden, wie es alles religiöse Denken tut, die sich mit nichts Seiendem vereinen lassen, führt notwendig zu falscher Metaphysik. Darauf komme ich später zurück.

Diese beiden verschiedenen Möglichkeiten von Metaphysik begegnen uns bereits in ihrem eigentlichen Entstehungszeitpunkt, mit Platon z.B. im Höhlengleichnis(9), und mit Aristoteles und dessen empirischer Untersuchung der natürlichen Phänomene. Beiden gemeinsam ist, dass sie die Bedeutung des Seins höher schätzen als die des Seienden. Die flüchtigen Erscheinungen halten sie für wertloser als deren eigentliches Sein, ihr Wesen, ihre "Idee" – und dies gilt nicht nur für diese griechische Auffassung, sondern begegnet ganz genauso etwa im Taoismus wie im Buddhismus, in welchem alles diesseitige Seiende als bloßer Schein so sehr abgewertet wird, dass von Buddha allein die Weltflucht ins Nirwana hochgeschätzt wird.

Warum ist das so? Nun, dazu müssen wir eine Theorie aufstellen, wie der menschliche Geist zu solchen Funden bzw. Erfindungen gelangt, die gegenüber dem Vorbestand des Wissens von so umwerfender Natur waren, dass man jedenfalls im Abendland damit eine "Zeitenwende" verband, und das sicherlich mit einigem Recht, wie sich herausstellen wird.

Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass alle Gehirnbereiche miteinander vernetzt sind und erst in diesem Zusammenspiel dasjenige bewirken, was wir Bewusstsein nennen; dies geschieht natürlich (sic) in einer bestimmten Reihenfolge, vor allem in derjenigen, wie diese Bereiche nacheinander entstanden sind; und zweitens ist der letztentstandene Teil, der Neokortex, für uns der wichtigste, denn erst mit ihm taucht das menschliche Bewusstsein auf. Es kommt also darauf an zu versuchen, die Leistung der verschiedenen Vermögen zu differenzieren und ein Modell zu entwerfen, wie diese einzelnen Bereiche zusammenwirken könnten, damit wir schließlich hier und heute darüber nachdenken und kommunizieren können, wie dies eben nur Menschen möglich ist.

Die Darstellung versucht in komplexer Weise, den funktionellen Aufbau des menschlichen Geistes – also in seiner Ontogenese wie auch in der Phylogenese nacheinander und ineinander entstanden – und die jeweiligen spezifischen Leistungen sowie die damit verbundenen kulturellen Epochen zu verbinden.


Abbildung 2

Zum Aufbau des Gehirns und des Limbischen Systems siehe die Seite von Uwe Multhaup bei der Uni Wuppertal

Sie sehen die verschiedenen Vermögen des Menschen und der vor ihm liegenden Lebewesen, aus denen der Mensch schließlich hervorging, einerseits phylogenetisch, andererseits ontogenetisch und funktionell übereinander geschichtet: vom Instinkt über die Emotio (das limbische System der Empfindung, s. Abbildung 2) zum Verstand bis zur Vernunft. Die Trennung dieser beiden letzten Vermögen wird Ihnen (hoffentlich) noch klar werden, denn auf dieser basiert insbesondere meine Erklärung der Metaphysik.

Zweck all dieser Vermögen ist die Informationsverarbeitung von Signalen, die von den Sinnen bzw. vom Körper herstammen und bestimmte Aktions- bzw. Reaktionsweisen ermöglichen sollen. Nach heutigem Verständnis ist für diese Signalvermittlung der Thalamus von zentraler Bedeutung (s. Abbildung 3), über den alle Signale laufen. Signale machen nur Sinn, wenn sie mit genetisch oder sensorisch gewonnenen Gedächtnisinhalten abgeglichen werden können. Insofern sind den Sinneszentren aufeinander aufbauend entsprechende Gedächtnisbereiche zugeordnet (daher denn auch die enorme Größenzunahme des menschlichen Neocortex ...). Diese Gedächtnisbereiche sind wiederum sowohl parallel als auch sequentiell und rückgekoppelt einander zugeordnet. Zentral dabei ist die Emotio, das mit Empfindung bewertende Limbische System – denn jede Gedächtnisabspeicherung wird von diesem "Empfindungspotentiometer" mit einer entsprechenden positiven oder negativen Bewertung verbunden, und je stärker die Bewertung ausfällt, desto leichter ist auch die Wiederaufrufbarkeit. Bewertet werden von der Emotio zunächst die einzelsinnlichen Signale, die sich so auf die Eigenschaften der Außendinge beziehen. Können diese Bewertungen reflektiert werden, so ist im entsprechenden Individuum Empfindungsbewusstsein vorhanden, wie es Ihnen etwa "bei Hund und Katz" begegnet. Die eigentliche neue Genialität der Emotio (Limbisches System) liegt also in der individuellen Auswertung der Empfindungen, erst damit erhebt sich das Leben über den "Automatenstatus", indem über den Abgriff der Neurotransmitter und deren Reflexion die individuellen Eigenempfindungen die Aktionen und Reaktionen der Lebewesen steuern.


Abbildung 3
Die zentrale Position des Thalamus und seine Verbindungen zum Neocortex
Nach Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, Rowohlt TB Verlag, Reinbek 1997.

Über den homo habilis und erectus erwirbt eine bestimmte Primatenart ein zunehmendes Gehirnvolumen bis hin zur bis heute letztlich unbegriffenen "kulturellen Explosion" etwa 50.000 Jahre vuZ – sicherlich wirken hier verschiedene Faktoren genetisch und vor allem auch epigenetisch ineinander: das Sich-Aufrichten und damit das Freiwerden der Hände, deren immens zunehmende Funktionen einen stets anwachsenden Steuerungs- und Abbildungsbereich im Gehirn verlangen; der damit "Hand in Hand gehende" (sic!) Gebrauch von Werkzeugen; die zunehmende Kommunikation innerhalb der Gruppen zwecks Tradition dieser Techniken und der Koordination von Verhaltensweisen, was letztlich zur Verselbständigung der vormals tierischen Lautäußerungen als Sprache und damit zum Verstand des Menschen führt.

Die Rasanz dieser Entwicklung könnte vor allem auch damit in Zusammenhang stehen, dass epigenetisch durch Umwelteinflüsse erworbene individuelle Steuerungsgensequenzen über die mütterliche Linie nach neuesten Erkenntnissen eben doch vererbt werden können.

Was nun ist Verstand? Die Dinge in unserem menschlichen Sinne kristallisieren sich erst heraus als eine vertikal-integrierende Eigenleistung des Verstandes: in der Verbindung der verschiedenen Eigenschaften der unterschiedlichen Sinnesergebnisse zu einem Wirkungsträger. Diese Zusammenfassung wird mit einem eigenen Begriff belegt, in einem eigenen Gehirnbereich repräsentiert und vom Verstand im Zusammenwirken mit der Emotio bewertet. Grammatik ist das Zueinanderstellen der Begriffe und damit die Bemächtigung von Welt mittels Sprache als Verstand. Um es im Bild zu sagen: Worte sind die Fackeln, in deren Licht uns erst die Dinge erscheinen.

An dieser Nahtstelle tritt auch dasjenige hervor, was der Mensch als sein "Ich" bezeichnet: Die Fähigkeit des Verstandes, Dinge als Wirkungsträger zu identifizieren, führt per se ipsum dazu, auch sich selbst, die eigene Person als Wirkungsträger und Handlungsmittelpunkt zu erkennen und unter einem eigenen Begriff zusammenzufassen: das "Ich" als Träger und "Inhaber" der Selbstwahrnehmung einschließlich des Fühlens wie der Datenspeicherungen des Verstandes. Diesen Typ des homo sapiens sehen wir von den frühestens Zeugnissen seiner Kultur an, also etwa um 50.000 vuZ, bis einschließlich zur ägyptischen Kultur seinen Verstand ausdifferenzieren, bis etwa um 800 vuZ in der schon angesprochenen "Achsenzeit" die ersten Anzeichen der Vernunft des Menschen global erscheinen, in Griechenland konkret mit den Vorsokratikern von Thales bis zu den Sophisten – welche letztere deshalb auch zu Recht als die "ersten Aufklärer" bezeichnet werden.

Dieses Erscheinen der Vernunft in der Welt lässt sich verstehen als Reflexion der Verstandesdaten, begünstigt durch die Kreuzung der alten Hochkulturen. Die abendländische Kultur und Kunst als eine Kultur der Vernunft beginnt mit der Einwanderung der griechischen Stämme und deren Niederlassung in Vorderasien. Von dort aus, im strategisch wichtigen Einzugsgebiet für die jeweils herrschende Großmacht sitzend, machten jene notwendig Bekanntschaft mit all den vor ihnen selbst liegenden Kulturen – der lydischen, babylonischen und persischen wie auch der phönizischen, kretischen und ägyptischen. So entstehen zunächst in Kleinasien übergreifend auf das alte Hellas nicht zufällig die Philosophie und die "neue Kunst" gleichzeitig: Die eigenständige Rezeption der Verstandesdaten in Wechselwirkung mit der Kreuzung aller Kenntnisse der Zeit erlaubt den entscheidenden Schritt zur Vernunft, von der Beobachtung des Typischen auf das darunter liegende Wesentliche zu schließen. So suchen die Vorsokratiker nach der Einen Ursache alles Bestehenden, das wechselnd mit den vier Elementen Luft, Feuer, Wasser oder Erde identifiziert wird. Und in der Kunst wird erkannt, dass eine bestimmte äußere Eigenschaft, ein besonderes Merkmal, auf eine besondere und wesentliche Aufgabe zurückzuführen ist, und dass diese besondere Wesensart in ihrer Funktion und Gestaltung in sich selbst unterschiedlich ausgestattet sein kann, sowie, dass nicht jede Ausstattung einer wesentlichen Anlage für die damit zu erfüllende Aufgabe gleich gut geeignet sei. Denn die sich eröffnende Vernunft vermag nicht nur, wie der Verstand, das Außen direkt zu erfassen und entlang an dessen Typischem zu begreifen, sondern auf dem sich vertikal zum Verstand öffnenden Bewussteinsspiegel der Vernunft können die wesentlichen Eigenschaften der Dinge isoliert und verglichen werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Individualität zur Idealität gesteigert wird: Die Abstraktionsfähigkeit sondert alles Zufällige ab und konzentriert sich bewusst und im Gegensatz zur unbewussten Abstraktion von Sinnesorganen und Verstand auf das Wesentliche, das Allgemein-Gültige, und dies führt ideengeschichtlich über die Dialektik zur Ethik – und so entsteht in Griechenland, China und Indien die Philosophie auf je eigene Weise.

Was ist mithin Metaphysik? Metaphysik ist, wenn die Vernunft in ihrer Rezeption und Reflexion in das Seiende "Wesentliches" einträgt, also die "Ideen" und "ewigen Formen", die sie in der von der Wahrnehmung des Verstandes isolierten Mustererkennung als "Wesen" der Dinge ins Unverborgene der Vernunft erhebt. Daher heißt Wahrheit griechisch a-letheia; an dieser Wortbildung ist zu beachten, daß der Grieche die Wesens-Wahrheit der Vernunft nicht als eine reflektierende Abstraktion erfährt, sondern als rezipierende Aufhebung der Verborgenheit des "wahren Seins", identisch mit dem "Wiedererinnern" Platons und der Stufenleiter der Erkenntnis im "Höhlengleichnis" und im "Symposion". Die so gewonnenen Wesensbestände konditioniert sich die Vernunft unter eigenem Begriff zu, und lädt damit das sinnlich gebundene Dasein des Verstandes in der Erhebung zum wesentlichen Sein der Vernunft ethisch, ideell und in neuer Religiosität mit eigener Intensität auf. Diese Aufladung ist zu unterteilen:

1. in richtige qualitative Bezugserhöhungen durch die Vernunft in der Kommunikation des Seienden, wenn sie unter Rückbezug auf die Daten des Verstandes die Wesensbegriffe aufdeckt.

2. in phantastische Idealisierungen, sei es in Richtung auf Religion, sei es in Richtung auf "Geist", wenn sich die Vernunft ohne Grundlage in den Daten des Verstandes in haltlosen Spekulationen verliert. Dazu später mehr.

Um diese neue Sehweise in ihrem Entstehungszeitpunkt zu verdeutlichen, einige Zitate, in denen sich sowohl die Abstraktion wie auch die Verselbständigung der Vernunftsicht ausspricht:

Platons Ideenlehre

Abstraktion (griechische Form der Dialektik)
Denn der Mensch muß nach Gattungen ausgedrücktes begreifen, welches als Eines hervorgeht aus vielen durch den Verstand zusammengefassten Wahrnehmungen. Und dies ist Erinnerung von jenem, was einst unsere Seele gesehen. (Phaidros 249b,c)

Vorrang der Idee, Ideenlehre als Teilhabe
Mir scheint nämlich, wenn irgend etwas anderen schön ist außer jedem Schönen an sich, es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es Teil habe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem. (Phaidon 100c)

Aristoteles Metaphysik

Metaphysik
Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes (insofern es ist) untersucht und das ihm wesenhaft Zukommende. (Met. 1003 a 21)

Das Göttliche und die Vernunft
Die Vernunfttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst erkennt die Vernunft in der Teilnahme am Intellegiblen; denn intellegibel wird sie selbst, den Gegenstand berührend und erfassend, so dass Vernunft und Intellegibles dasselbe sind. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für das Intellegible und das Wesen. Dies festhaltend wirkt sie [ihre Wirklichkeit] ... und die Betrachtung ist das Angenehmste und Beste. Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, der Gott immer verhält, so ist er bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewundernswerter. So verhält es sich in der Tat. Auch ist er gewiss Leben; denn der Vernunft wirkende Tätigkeit ist Leben, jener aber ist die wirkende Tätigkeit, seine wirkende Tätigkeit an sich ist bestes und ewiges Leben. Wir sagen, dass der Gott das beste und ewige Lebewesen sei, daher kommt dem Gott Leben und ununterbrochene und ewige Zeitdauer zu: denn dies ist der Gott. ... Dass es also ein ewiges, unbewegtes, von dem Sinnlichen getrennt selbständig existierendes Wesen gibt, ist aus dem Gesagten klar ... Das erste Wesenswas hat aber keinen Stoff, denn es ist wirkende Vollendung ... Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis ist Erkenntnis ihrer Erkenntnis. (Met. 1050 a 21)

Wir sehen – und dies ist psychologisch gut nachvollziehbar: Dieses Aufscheinen der Vernunft im Menschen wird als eine lebendige Erhöhung erfahren; die Sehweise der Vernunft glaubt sich derjenigen des Verstandes immens überlegen, denn mit ihr werden ganz neue Perspektiven auf Welt und Mensch sichtbar.

Mit diesem sich Geltendmachen seiner Vernunft und deren Durchsetzung in der Tradition gerät der Mensch unter den Druck des durch diese Vernunft selbstgemachten Ideals bis hin zum "allmächtigen und allgütigen" Gott – das ist der eigentliche Grund der Zeitenwende und der Wirkungsmacht der neu entstandenen monotheistischen Hochreligionen einschließlich der Abwertung des Sinnlichen und der weltlichen Dinge als "Schein" etwa im Buddhismus.

Zuletzt gilt dies selbst noch für Kant, der deswegen alles Emotionale abwertet und nur die "Pflicht der Vernunft" gelten lässt, gar eine "Liebespflicht" einfordert; er definiert Metaphysik folgendermaßen: "Die Hauptwissenschaften, die in die Metaphysik gehören, sind: Ontologie, Kosmologie und Theologie... Die Ontologie ist eine reine Elementarlehre aller unserer Erkenntnisse a priori, oder: sie enthält den Inbegriff aller unsrer reinen Begriffe, die wir a priori von Dingen haben können... Die Kosmologie ist die Weltbetrachtung durch die reine Vernunft... Die letzte metaphysische Hauptwissenschaft ist die rationale Theologie."(10)

Auch hier finden wir also die beiden Hauptgebiete der Metaphysik wieder: die Ontologie und die Theologie, die wissenschaftliche Weltbetrachtung und die Sinnspekulation.

 

IV. Richtige und falsche Metaphysik: Das Verhältnis von philosophischer Ontologie, Religion und Spekulation

So etwas wie Metaphysik – im Gang der weiteren kulturellen Entwicklung der Menschheit späterhin sicher unter einem anderen Namen – wird mithin immer getrieben werden, da das Ziel dieser Entwicklung im Offenen und Dunklen liegt. Mit zunehmendem Wissen von sich und der Welt ändert sich natürlich auch dieses Denken über die von Ontologie und Philosophie gesuchten Grundannahmen über das Wesen von Welt und Mensch. Wir erleben dies ja gerade besonders eindringlich einmal im Übergreifen der Naturwissenschaft auf das philosophische Gebiet, wenn derzeit die Hirnforschung gar glauben machen will, dass sie die Philosophie ablösen könnte, oder andererseits so fest geglaubte Annahmen wie etwa die Nichtvererbbarkeit von epigenetisch erworbenen Eigenschaften ins Wanken geraten. Gleichzeitig ist uns die Selbstverständlichkeit unserer Einbindung ins mesokosmische Universum abhanden gekommen, seit Anfang des vorigen Jahrhunderts mit Planck und Einstein der unanschauliche und schwerverständliche Mikrokosmos sowie die Relativitätstheorie im Makrokosmos die Einsichtsfähigkeit des Normalmenschen übersteigen. Einige Überlegungen dazu soll mein demnächst anstehendes Referat "Von Thales zu Einstein" bringen.

Jedenfalls wird es so immer eine richtige Form der Metaphysik geben, in welcher die Grundzusammenhänge von Mensch und Welt verstanden und beschrieben werden, dies ist in den meisten modernen philosophischen Denkweisen von der analytischen Philosophie bis zum kritischen Rationalismus auch ganz unbestritten. Dabei kommt es vor allem darauf an, ob mittels Abstraktion und Reflexion in rechter Weise Strukturen aus dem Seienden herausgeholt wurden, oder aber ob unsere Phantasie derartige Annahmen hinzufabuliert hat. Der Weg der geistigen Entwicklung der Menschheit ist reichlich gepflastert mit solchen Fabeln in Religion und Philosophie, insbesondere auch der Ideenlehre Platons am Anfang der Metaphysik, in welcher sich die aufgefundenen Denkstrukturen verselbständigen, zum Einen göttlichen Prinzip werden und zum Monotheismus führen. Gleichzeitig aber verdanken sich auch alle unsere "Naturgesetze" dieser Denkweise – nicht umsonst nennen wir sie "Gesetze", die ja dann einen "Gesetzgeber" voraussetzen würden ...

Nun, eine "richtige Metaphysik" wird sich einerseits vor allem immer auf die Empirie der Sinne (und deren Hilfsmittel) zurückbeziehen, um nicht haltlos "über den Wassern zu schweben", andererseits genügt ein reiner materialistischer Empirismus durchaus nicht, denn mit ihm können die psychischen und kulturellen Phänomene nicht entsprechend verstanden werden. So führt denn auch z.B. Popper seine 3-Welten-Ontologie ein mit (1) der physischen und organischen Welt, (2) dem Bereich der Akte und Zustände des Bewusstseins (der Leib-Seele-Zusammenhang), und (3) dem Bereich abstrakt-geistiger Gehalte (Ideen und Theorien – "objektiver Geist"). Ebenfalls in diese Richtung argumentiert unser Ehrenvorsitzender Hans Albert, der gleichzeitig auch die falsche Metaphysik, wie sie sich etwa in den Religionen aller Art widerspiegelt, ab- und ausgrenzt:

"... es geht um die Rivalität zwischen einer durch die Resultate der modernen Wissenschaften geprägten Metaphysik und einer religiös geprägten Metaphysik, die mit der ersteren nicht vereinbar erscheint."(11) Moderne Metaphysik ist also nur möglich auf Basis und in Verbindung mit dem besten erreichbaren Wissen in der Wissenschaft der jeweiligen Zeit, was die seit einiger Zeit eingeforderte stetige und enge Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Wissenschaft voraussetzt. Eine weitere und in meinen Augen ausgezeichnete Sehweise vertritt der argentinisch-kanadische Philosoph Mario Bunge, den ich in Morgensterns Buch zum ersten Male kennenlernte; meine Rezension können Sie mit diesem Link einsehen. Mit seinem "Emergentistischen Materialismus", der wie Albert vom kritischen Rationalismus herkommt, vertritt Bunge ein naturalistisch-materialistisches Weltbild, das sich gegen den Leib-Seele-Dualismus wendet, aber gleichzeitig auch einen radikalen bzw. reduktionistischen Materialismus ablehnt. Philosophie und Wissenschaft sind für ihn zwei sich ergänzende Erkenntnisbemühungen: Beide stehen in Wechselwirkung, gerade auch die Spekulation als ein Suchen neuer Erkenntnisse im nach vorne offenen Raum des Denkbaren ist wichtiger Motor der Wissenschaften.

Denken wir zurück an die verschiedenen Grundannahmen bei den alten Griechen, so sehen wir, dass einige von deren rein spekulativ erzielten Annahmen sich viel später wissenschaftlich bestätigt haben – übrigens lässt sich auch daran der Rezeptions- und Reflexionszusammenhang des Kreisbogens der Metaphysik zeigen! –, und so werden auch wir, wenn wir die epigenetisch-kulturelle Entwicklung des Menschen nicht zum Stillstand bringen wollen, weder in der Wissenschaft noch in der Philosophie auf die Spekulation verzichten können, indem wir im besten Popperschen Sinne Hypothesen entwickeln, die sich prüfen lassen, zumindest in der Hinsicht, ob sie auf rationale Weise, das heißt vor allem auch im Zusammenhang mit dem bereits vorhandenen und bestätigten Wissen, das Problem zu lösen imstande sind, das sie zu lösen behaupten. Deshalb lehnt Bunge auch – und hier pflichte ich ihm gerne bei – die Urknall-Theorie im Sinne einer Entstehung aus dem Nichts entschieden ab; denn einerseits ist für ihn ein solch "absolutes" Entstehen Magie und Theologie, andererseits ist eine solche "Theorie", so würde ich jedenfalls sagen, in ihrer Unüberprüfbarkeit (wir wissen schließlich nichts vom Nichts, und werden auch nie in eine solche Lage kommen) genau eine solch immunisierte Art von Metaphysik wie die Religionen auch. Und selbst noch, wenn die Physiker sagen, beim Urknall würden ihre Gesetze nicht gelten, bzw. was vor ihm gewesen sei, könne man nicht wissen, dann gelten diese Aussagen genauso für "Gott" selbst, unterscheiden sich in nichts von einer "negativen Theologie".

Bedeutsam scheint mir bei Bunges Ansatz aber vor allem das "emergentistische" Moment: "Jede neue Ebene – genauer: jedes neue komplexe System – weist emergente Eigenschaften und ... Gesetzmäßigkeiten auf, die bei dessen Komponenten allein nicht auftreten. .... So sind etwa Lebewesen auch physikalische Dinge, aber sie sind nicht nur physikalische Dinge, sondern besitzen zahlreiche supraphysikalische Eigenschaften, die nicht Gegenstand der Physik sind. Daher können System auf höheren Ebenen auch nur partiell, aber nicht vollständig auf niedrigere Ebenen reduziert werden." Genau dies will Ihnen auch meine Grafik mit ihren verschiedenen emergenten Entwicklungsschritten des Lebens und seiner Informationsverarbeitung vom Vegetativum über den Instinkt, die Emotio, den Verstand bis zur Vernunft zeigen. Damit sind zuletzt solch metaphysische Hypothesen möglich geworden, in denen sich die Evolution selbst begreift, so dass der Mensch nunmehr aktiv in diese einzugreifen vermag. Ob und wie dieser Zauberlehrling das tun sollte, ist eine der vielen offenen Fragen. Gleichzeitig weist uns das vielkonstatierte "Ende der Metaphysik", anders ausgedrückt: das "Zeitalter des Nihilismus", noch anders: die nur noch "instrumentalisierte" und durchreflektierte Vernunft – parallel, wie einst der Verstand durchreflektiert war – dies alles also weist uns darauf hin, dass das "Ende der Vernunft" nicht das Ende der Fahnenstange der geistigen Entwicklung sein muss, sondern dass es Bestände und Sehweisen im Seienden geben könnte, die einen weiteren emergenten Entwicklungsschritt über die Vernunft hinaus ermöglichen.

 

Anmerkungen:

(1) „Dublin, September 1944. E. S.“, s. Vorwort S. 29-30 zu „Was ist Leben?“, Piper Verlag, München-Zürich, Internet: http://www.philoscience.unibe.ch/lehre/sommer05/Doppelhelix/ schroedinger.pdf

(2) FOCUS Online vom 29.11.2008, http://www.evolutionsbiologen.de/focusonline291108.pdf

(3) Internet-Arikel von Bild der Wissenschaften vom 4.2.2009: „DNA ist nicht alles. Kinder können Jugender-fahrungen ihrer Mutter erben.“ unter http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/300144.html

(4) Internet-Arikel von Bild der Wissenschaften vom 16.2.2009: http://www.wissenschaft.de/ wissen-schaft/news/300539.html

(5) Noch Walther Rathenau (1867-1922) schrieb zu Recht: „Denken heißt vergleichen.“

(6) Lamarck (1744 Picardie - 1829 Paris):
„Erstes Gesetz: Bei jedem Tiere, welches den Höhepunkt seiner Entwicklung noch nicht überschritten hat, stärkt der häufigere und dauernde Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt, vergrößert und kräftigt es proportional der Dauer dieses Gebrauchs; der konstante Nichtgebrauch eines Organs macht das-selbe unmerkbar schwächer, verschlechtert es, vermindert fortschreitend seine Fähigkeiten und lässt es endlich verschwinden.“

„Zweites Gesetz: Alles, was die Individuen durch den Einfluss der Verhältnisse, denen ihre Rasse lange Zeit hindurch ausgesetzt ist, und folglich durch den Einfluss des vorherrschenden Gebrauchs oder konstan-ten Nichtgebrauchs eines Organs erwerben oder verlieren, wird durch die Fortpflanzung auf die Nachkom-men vererbt, vorausgesetzt, dass die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern oder den Erzeu-gern dieser Individuen gemein sind.“ (http://www.univie.ac.at/science-archives/wissenschaftstheorie_2/lamarckevo.html)

(7) So der Untertitel von Nietzsches Götzendämmerung von 1889: „Wie man mit dem Hammer philosophiert“.

(8) Vermutlich ist die Notwendigkeit des Zählens eine der stärksten Triebfedern der Abstraktion, denn nach und nach verselbständigten sich die zunächst stellvertretenden Zählsteine beim Abzählen, insbesondere auch beim Aufschreiben und durch die zusammenfassenden Schreibweisen.

(9) Man beachte auch den Umstand, dass erst seit den Zeiten dieser Vernunft „im Gleichnis“ gesprochen wird, das ganze Neue Testament besteht in vielen wichtigen Glaubensaussagen seines Begründers aus solchen Übertragungen von Bild- in ethisch-religiöse Sinngehalte.

(10) Vorlesungen über die Metaphysik, 2. Aufl. nach der Ausgabe Erfurt 1821, herausgegeben von Dr. K. H. Schmidt, Buchverlag Pflugbeil, Roßwein 1924

(11) H. Albert, Kritischer Rationalismus, Tübingen 2000, S. 143


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