Geist und Bewußtsein II

Eine Diskussion mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Gehirnforschung und KI

Helmut Walther (Nürnberg)

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Teil III

H.W.:

Élan vital

Lassen Sie mich zunächst noch einmal auf den Begriff "élan vital" eingehen, der (auch mir) immer Schwierigkeiten, etwa in manchen Diskussionen bereitet, da er sofort mit metaphysischen Hinterabsichten befrachtet wird, obwohl meine Definition davon das genaue Gegenteil will; es macht sich vielleicht ganz gut, hier eine Parallele zum bereits abgehandelten Begriff "Bewußtsein" herzustellen, bei dem ich zu dem Ergebnis gekommen bin, daß es sich hier eigentlich "nur" um eine Art begriffliche "Verdoppelung" eines Zustandes handelt, der damit fälschlicherweise als "Etwas" gedacht wird, obwohl es sich nur um einen ganz bestimmten Zustand von "Bauteilen" handelt, die selbst nicht das Bewußtsein "sind", sondern dieses als Teile eines Systems (aus-)bilden.

Ganz ebenso ist von mir jener e.v. gedacht: es wird damit ausschließlich ein anderer Zustand von Materie angesprochen; um es ganz unten auf der Keimbahn zu nehmen: die Spermien der verschiedenen Lebewesen lassen sich selbstverständlich (ebenso wie das Gehirn) auf ihre materiellen Bausteine reduzieren (sic) – aber die bloße Kenntnis der anorganischen molekularen Zusammensetzung gibt uns noch keinerlei Ahnung davon, wie dieses Spermium zu seiner eigenen Aktivität kommt, um lebendige Organismen hervorzubringen. E.v. bedeutet also in dieser Hinsicht nichts anderes, als daß sich hier die Materie in einem anderem als dem anorganischen Zustand befindet, eben in einem lebendigen. Dies meint mithin keinerlei von außen noch etwa hinzutretendes metaphysisches Prinzip, das nun "göttlicherseits" der Materie "eingehaucht" würde, sondern ausschließlich einen ebensolchen emergenten Zustand der lebendigen Materie gegenüber der anorganischen, wie das ratiobewußte Gehirn einen emergenten Zustand gegenüber einem nur emotional ausgestatteten Gehirn bedeutet: es handelt sich in beiden Fällen um eine Qualitätsänderung, für die wir eine Benennung benötigen, in der sich alle belebte Natur zusammenfassen läßt als belebte. Unter dem Namen e.v. wird mithin das Prinzip alles Lebendigen in der Abgrenzung zum Anorganischen ausgesprochen, ganz ebenso wie "Bewußtsein" eine ganz bestimmte Qualifikation von Lebewesen selbst anspricht.

Wie nun diese Zustandsänderung von anorganischer zu organischer Materie bewirkt wird, ist bis heute ebenso unbekannt wie die Erzeugung von Bewußtsein durch das Gehirn. Wir können bis heute weder einen einzigen lebendigen Grashalm noch so etwas wie Bewußtsein in Maschinen erzeugen, weil wir bis heute nicht wissen, wie Natur diese qualitätsverändernde Emergenz gegenüber dem Vorzustand jeweils bewirkt.

Hier sehe ich – um den alten platonischen Begriff zu gebrauchen – Aporien unseres Denkens, dem es in seinen bisherigen Formen Verstand und Vernunft nicht gelingt, diese Emergenzen entsprechend aufzuklären; vielmehr sind wir hier (einstweilen?) auf phänomenologische Beschreibungen verwiesen – vielleicht ja auch eine Art Rezeption, in der wir auf Unbekanntes im Seienden aufmerken, wie einst die Naturphilosophen auf das "Wesen" der Dinge aufmerksam wurden und die Vernunft "hervorzogen"? Auch einen "Leitfaden" scheinen wir inzwischen für diese Rezeption gefunden zu haben, indem wir diese Phänomene immer mehr unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung ("synergisch") zu betrachten lernen, wie etwa im Wechsel von der eindimensional-kausalen Genetik zu den "Genomics", also der Beobachtung der Wechselwirkung 1000er von Genen. Genau hierher paßt dann auch das Hilfsmittel Computer des menschlichen Gehirns, das so aufgefaßt auch eine Art von "Brille" ist, mit der sich der Mensch derartige wechselwirksame Datenbestände sichtbar macht, die für ihn mit seinem eigenen Gehirn allein nicht zugänglich wären. Sie sehen, ich stimme hier mit Ihren Ausführungen ("Novitäten im Propensitätsraum" und "indirekte Problemlösung") zur möglichen Bedeutung und Wirkung der KI weitestgehend überein.

Ebenso stimme ich selbstverständlich überein, daß hier jede Teleologie völlig unangebracht ist; es gibt kein Ziel und keinen "Wert", auf die wir uns zubewegten (auch nicht die Wahrheit – s. Jaspers-Kommentar), sondern es gibt nur den Weg, und zwar so, daß wir uns diesen jeweils als lebendige Wesen in unserem "Fortschreiten" selbst schaffen (ebenso wie sich die Fluchtbewegung der Materie den Allraum erst schafft). Ein anderer Vergleich wäre derjenige mit der Überquerung eines unüberschaubaren Sumpfgeländes, wobei der Überquerende gerade mal zwei tragfähige Holzplatten bei sich führt, und sich, in dem er die jeweils nicht benutzte Platte vor sich hinlegt, um einen weiteren Schritt voranbringt. Ob er aber den Sumpf in diesem richtungslosen Vorwärtstasten je überschreitet, kann er ebenso wenig wissen wie er nicht wissen kann, ob nicht eine sich selbst vorgesetzte Platte an irgendeiner Stelle beim Betreten plötzlich mit ihm im Sumpfe versinkt ...

Auch insoweit stimme ich also völlig mit Ihnen überein, daß die evolutiv aufgebaute Komplexität sowohl in ihrer Wirkungsrichtung wie auch in ihrer Selbstreflexion sich womöglich "übernehmen" kann, so daß entweder durch Zerstörung der Umweltbedingungen oder wegen der Unüberschaubarkeit der eigenen Wirkungsmöglichkeiten und deren Gesamteffekt bzw. aus einem Zusammenwirken beider Faktoren die Existenzfähigkeit einer bestimmten Spezies verloren geht. Auch hier sind Computer und KI womöglich Hilfsmittel, um dieser realen Aporie der begrenzten Gehirnleistung menschlicher Individuen ein Schnippchen zu schlagen.

Nun aber noch zur "e.v.-migratio"; jeder emergente Zustand bringt eine Qualitätsänderung gegenüber einem Vorbestand mit sich; d.h., der neue Zustand äußert sich vor allem in neuartigen Eigenschaften, sprich Fähigkeiten, auf das Umgebende zunächst durch innovative "Anlagerungen" von Information = Konditionierungen zu reagieren und schließlich von innen her zu reflektieren (wobei sich dieses "Verfahren" sicherlich bereits im anorganischen Zustand etwa im Übergang von den Atomen zu den Molekülen, in der Wechselwirkung zwischen Ladungen, dem Elektronenaustausch usw. zeigen lassen sollte).

Leben selbst ließe sich so als eine "e.v.-migratio" verstehen, in der die "Eigenaktivität" von den Bestandteilen eines Moleküls auf das Molekül selbst übergeht. Die Reflexion der lebendigen Materie bestünde dann gerade darin, sich in Eigenaktivität auf chemischer Ebene weitere Elemente anzulagern. Zu dieser überlagerten "Eigenständigkeit" wie auch zu deren Aktivität als Reproduktion ("An-Lage"), die nicht mehr wie in der rezeptiven Phase von den elektrischen Ladungen der basierenden Atome abhängig ist, bedarf es aber einer eigenen Repräsentanz, des Genoms, das sich als chemische "Anlagerungs-Kurzvorschrift" ausbildet, selbstverständlich aber nach wie vor auf der Basis der elektrischen Wirkungen der Atome(8) ... (jetzt habe ich mich selbst ein wenig überrascht ... – insofern darf ich Ihnen wiederum "angeregten Dank" aussprechen).

Nun, ich will auf dieser Ebene nicht in weitere Spekulation verfallen, zu der mir die Spezialkenntnisse fehlen; jedenfalls ließe sich auf einem solchen Wege die Entstehung von Leben nicht nur aus der objektiv-reduktionistischen, sondern insbesondere auch aus der "inneren, subjektiven" Sicht heraus ansatzweise verstehen.

Ein anderes Beispiel wäre im Makrokosmos die Entstehung von Sternen und die daraus hervorgehende Gravitation – auch hier zunächst "Anlagerung" von Materie, die sich "rezipierend" verdichtet, um schließlich als "ein Ganzes" aus seinem Zentrum (migratio) heraus zu wirken.

Jedenfalls: wenn bei mir von "e.v.-migratio" die Rede ist, so ist das keine geheimnisvolle "Wanderung von Etwas", sondern wiederum nichts anderes als jene Bewegung, aus der das Lebendige als Selbstaktivität selbst hervorgegangen ist: eine Zustandsänderung in der Weise, daß rezipierte "Anlagerungen" den Vorbestand zunächst "überlagern", um schließlich von den neuerschlossenen Eigenschaften/Fähigkeiten aus die "Leitung" zu übernehmen und diese wiederum selbstaktiv anzuwenden in deren Reflexion.

Um ein der Ratio näherstehendes Beispiel für diese Leitungsübernahme zu bringen: Instinkte definiere ich als zunächst rein genetisch weitergegebene Programme in dem Sinne, daß bestimmte, genetisch vorgegebene Schlüsselreize bestimmte, ebenso genetisch vorgegebene, insbesondere motorische Abläufe in Gang setzen; die Rezeption hin zur Emotio besteht womöglich darin, hier nun die eine Seite der genetischen Vorbestimmung so zu öffnen, daß die Wahrnehmung und Konditionierung des Schlüsselreizes in den Bereich des Subjekts dieser Wahrnehmung fällt, wohingegen die daran gebundene Folge weiterhin genetisch vorbestimmt bleibt ("einseitige Programmöffnung"). Dieses Phänomen läßt sich nun etwa sehr gut bei den Lorenzschen Graugänsen beobachten: daß der erste Gegenstand, der dem eben geborenen Gänschen in den Blick fällt, unausweichlich als "Mutter" konditioniert wird, mit dem alle in Bezug auf "Mutter" vorhandenen genetischen Verhaltensprogramme korrelieren. In diesem Falle haben wir es also mit der genetischen Vorbewertung einer individuellen Wahrnehmung zu tun; gelangt nun auch noch diese Bewertungsmöglichkeit in den Bereich des Wahrnehmungssubjekts selbst: die Zukonditionierung von Sinneseindrücken etwa an motorische Handlungsabläufe und deren Auslösung mittels Abgriff des Emotio-Potentiometers selbst zu steuern, können wir auch hier eine schrittweise Überlagerung des Instinkt- durch das Emotionalzentrum konstatieren – "e.v.-migratio", insofern die lebendige Kommunikation des Subjekts nunmehr auf eine qualitativ andere Weise und entlang anderer "Werte" durchgeführt wird als vordem.

Was wollte ich durch diese Diskussion erreichen? Zweierlei:

1. E.v. ist nichts Metaphysisches, sondern ein, der Zustand lebendiger Systeme, solange sie lebendig (und nicht tote Materiehaufen) sind.

2. Hypothetisch die Durchgängigkeit des Rezeptions- und Reflexionszusammenhangs unter Übertragung der "Lebendigkeitsebene" zeigen; wenn wir – wie heute wohl gängige Meinung(9) – die Evolution auch für den Mikrokosmos und den Makrokosmos sowie für den kulturellen Mesokosmos des Menschen gelten lassen, läßt sich dieser "bewegende Zusammenhang" in allen Bereichen zeigen, so daß der Begriff "e.v." dadurch dann tatsächlich obsolet wird, insofern in der Anorganik wie im Makrokosmos diese emergenten, zustandsverändernden Funktionsübertragungen nicht als "lebendige", sondern auf andere, "kraftumwandelnde" Weise erfolgen: von der elektrischen Anziehung und Abstoßung über die chemischen Reaktionen zur Gravitation. Es bedürfte hier also eines neuen Oberbegriffs, der alle jeweils sich innovierenden Qualitätsemergenzen und deren verschiedene Kommunikationsweisen ("Kräfte") von den Quanten und ihren Farben, von den Atomen und ihren Kräften, von den Molekülen und ihren chemischen Bindungen, von den Sternen und ihrer Gravitation bis hin zum Leben und seinem "e.v.", dem Instinkt und seiner Genetik, der Emotio und deren Potentiometer-Empfindung, dem Verstand und seiner Verdinglichung, der Vernunft und ihrem abstrahierenden Wesensdenken in Eines faßt, und damit den Weg des Seienden über den oben angesprochen Sumpf in einem Begriff ausspricht, zu dem das Vorauslegen der Tafeln jeweils einzelne emergente Schritte sind – wofür denn "e.v." sicherlich nicht der rechte Begriff ist.

Entschuldigen Sie bis hierher meine "Weitläufigkeit" zu diesem Thema, aber man muß die Assoziationen fassen, wie sie (ein-)fallen ... und zuletzt geht es auch hier, bei der "Gesamterfassung" des Gehirns in seinem vielfältigen, viel-faltigen (sic) Zusammenwirken wie auch bei der Zusammenschau alles Seienden um den Versuch, diese neben der phänomenologischen Beschreibung jeweils in ihrer subjektiv-wirkenden = synergischen Aktivität "nachzuvollziehen" – ist doch alles Seiende (mehr oder weniger) "erstarrte Aktivität". Und von daher ist es denn nicht sinnvoll, nur von einem reduktionistischen "bottom-up"-Ansatz auszugehen, sondern meiner Meinung nach dazu sogar übergewichtig braucht man vor allem den "top-down"-Ansatz – Begriffe, die ich von dem Kognitionspsychologen Howard Gardener leihe, der insoweit der nämlichen Meinung ist – man muß bereits vorher wissen, wonach man bei bestimmten Gehirnaktivitäten sucht. Und genau auf diese Weise verfährt denn ja auch etwa die PET-Strategie, wenn sie vorher vereinbarte und genau umschriebene Aktionen mit ganz bestimmten Aktivitätsmustern der verschiedenen Zentren und Interpretationsfelder zu korrelieren versucht.

Geschichte und Wiederholung

Hier können wir, denke ich, schon einmal mindestens die eine Hälfte der Sache "außer Streit stellen", indem ich mit Ihnen darin vollkommen übereinstimme, daß sich reale Geschichte als solche niemals wiederholen kann. Schon Heraklit wußte ja, daß niemand jemals zweimal in den gleichen Fluß steigt. Insoweit haben Sie absolut recht, daß die Möglichkeit der Wiederholung durch die Veränderungen der apriorischen wie aposteriorischen Bedingungen ausgeschlossen ist.

Andererseits ergibt sich hier insofern eine andere Perspektive (und das ist die "zweite Hälfte"), wenn man, wie seit den Griechen, von der Vernunft und ihrer "Wesensschau" her argumentiert: hier bezieht man sich bei Licht betrachtet gar nicht auf die seiende Realität der Dinge, sondern auf das "Wesentliche", modern etwa angesprochen als "Naturgesetze", also auf hypothetische Abstraktionen. Eine ganz einfache Form der sich gleichbleibenden Wiederholungen ist dann etwa das Rechnen: 1 + 1 wird immer vollständig sich gleichend 2 bleiben, egal, wer wann wo auf dem Globus diese Operation wiederholt. Auch ist es das sine qua non aller Naturwissenschaft selbst, daß sich ein Versuch unter gleichbleibenden Bedingungen wiederholen lassen muß, wenn daraus eine gültige Theorie abgeleitet werden soll. Insofern muß es denn auch in der Realität der Dinge selbst die Möglichkeit der Wiederholung geben, sonst könnten wir jede naturwissenschaftliche Bemühung sofort einstellen. Und: wäre es nicht schade, wenn wir etwa die Mondlandung nicht wiederholen könnten?

Es ist ganz offenbar auch hier noch eine begriffliche Schwierigkeit verborgen, was man eigentlich mit "Wiederholung" sagen will. Natürlich können wir nicht jene Mondlandung des N. Armstrong "wiederholen", allein schon, weil dieser dazu zu alt ist, aber auch aus diversen anderen apriorischen und aposteriorischen Gründen heraus – eine erneute Mondlandung wiederholt zwar die damalige Tat, ist aber in der Tat eine andere Tat, ganz so wie beim Heraklitschen Fluß. Das nämliche wird auch für die Wiederholung wissenschaftlicher Versuche gelten: auch hier können die Ausgangsbedingungen zweier zeitlich verschiedener Versuche niemals völlig übereinstimmen – allein schon aus zeitlichen Gründen wie auch etwa örtlicher oder personeller Ungleichheiten.

In Frage steht also, ob man unter Wiederholung eine "strenge Identität eines Geschehens" fordert – und die ist völlig ausgeschlossen –, oder ob man sich auf die Gleichartigkeit von bestimmten Bedingungen und Ergebnissen beschränkt. Daß es einen Kosmos und damit auch uns überhaupt gibt, verdankt sich aber nicht jener ersteren strengen Identität, sondern der Wiederholung von Gleichartigem im Verschiedenen. Nur auf diese Weise konnte sich "Konstantes" ("Gleichbleibendes") herausbilden, und nur weil sich Gleichbleibendes wiederholt, läßt sich dies von anderem aktiv oder passiv darauf Bezogen rezipieren und reflektieren – ein stets sich veränderndes Chaos ohne Wiederholung wäre nicht interpretierbar.(10)

Der Natur selbst also genügt bereits ein "kategorieller Ausschnitt der Wiederholung von Gleichem", es kommt nicht die gar nicht mögliche Identität von Ausgangs- und Endbedingungen über alle Kategorien hinweg in Betracht, sondern lediglich die Gleichartigkeit der jeweils wirksamen Kategorie. Deshalb bleibt 1+1 immer zwei, auch wenn dies ganz verschiedene Personen "rechnen", und deshalb ist eine erneute Mondlandung durchaus eine Wiederholung, auch wenn die beteiligten Personen und die verwendete Technik ganz andere wären. Ebenso in naturwissenschaftlichen Versuchen, wo etwa die verwendete Versuchsmaterie nicht identisch mit der des Vorversuchs zu sein braucht, sondern lediglich gleichartig.

Um nun zum Ergebnis dieser wiederum (leider) etwas weitläufigen Betrachtungen zu kommen: insoweit läßt sich dann auch in menschlichen Verhaltensweisen, wenn man sie etwa aus der Wesensschau der Vernunft in den Blick nimmt, sie also als Bezugsverhalten abstrahiert, durchaus von Wiederholung sprechen, wenn auch sicherlich modifiziert durch geschichtliche Veränderungen der Ausgangsbedingungen. Gerade eine solche Betrachtungsweise ist es erst, die uns die Evolution selbst und die Herkunft vieler unserer menschlichen Verhaltensweisen aus dem Tierreich hat erkennen lassen – trotz erheblicher verschiedener Ausgangsbedingungen und erheblicher kategorieller Modifikationen.

So gebe ich Ihnen hier einerseits völlig Recht: Geschichte selbst als realer Ablauf wiederholt sich nicht; sehr wohl allerdings wiederholen sich unter einer jeweils entsprechend eingerichteten kategoriellen Perspektive die einer Kategorie entsprechenden "Verhaltensmuster" (und dies auf allen Kategorie-Ebenen), und dies ist der Grund, weshalb die Natur selbst als Evolution etwas "über sich selbst" zu "lernen" vermochte und warum auch wir Menschen vielleicht doch aus Geschichte "lernen" können, indem wir etwa bewußt versuchen, von bestimmten Verhaltensmustern, die zu schlimmen Folgen führen, Abstand zu nehmen. Können wir uns in dieser Weise zum Begriff "Wiederholung" treffen?

Hypothetik, Realität und "Etablierung von Geschichte"

So sehr wir uns darüber einig sind, daß alles menschliche Wissen hypothetisch ist – so sehr muß andererseits darüber nachgedacht werden, inwieweit menschliches Wissen, indem es sich als tragfähig ewiesen hat und insofern Bestandteil der Tradition (und damit der Lebensweise) geworden ist, nicht selbst zur Realität wird? Und dies in direkter Parallele dazu, daß alles Lebendige vor seiner "artmäßigen Etablierung" eine "Hypothese der Natur" ist, ein Mutations- und Selektionsversuch, der im Bestehen seiner Umwelt von der Hypothese zur Realität wird – so alle Arten von Tieren, untergegangener wie existierender, aber wohl auch die atomare und chemische Materie – alles zu zeitweiser Realität gewordene "Hypothesen". Und ebenso der Mensch und sein Wissen, insbesondere, wenn es sich um in ihm "abgeschlossene" Vermögen wie Emotio und Verstand (und demnächst vielleicht auch Vernunft?) handelt – die damit ausgewickelten Verhaltensweisen sind nicht nur mehr hypothetisch, sondern ebenso Teil der Realität wie dies Pflanzen und Tiere, aber auch Atome und Moleküle sind.

Die Tatsache, daß sich höhere Tiere und Menschen um eine positive Gestimmtheit ihres Emotio-Potentiometers bemühen, daß die Nützlichkeit eine unabdingbare Voraussetzung menschlicher Verstandeshandlungen ist, dies sind keine Hypothesen, sondern ebenso "erstarrte" Realitäten wie elektrische, "gravierende" und chemische Anziehung und Abstoßung – alles einzelne Platten, mit deren Hilfe das Seiende über den Sumpf gegangen ist und hinter die es nicht zurück kann.

Ganz ebensolches aber sollte für die heute meist noch als hypotethisch angenommene Metaphysik der Vernunft gelten, soweit sie sich einer empirischen Überprüfung stellt und in dieser aus Sicht der Vernunft als richtig (= "tragfähig") erweist: die Richtigkeit einer Handlung und damit das Ethische wird dereinst wohl ebenso zum Wesensbestand des Menschlichen gehören, wie dies in Bezug auf Nützlichkeit und die Moral der "Goldenen Regel"(11) niemand zu bestreiten in den Sinn kommen wird.

Daran ändert das fortschreitende Wissen des Menschen über die Welt (und sich selbst) sicherlich nichts: zwar haben sich viele – vielleicht sogar die meisten – einst für nützlich gehaltenen Verstandeshandlungen der Menschen durch diesen Wissensfortschritt als unnütz erwiesen, das ändert aber nichts an der Tatsache, daß sich auch heute noch alle Handlungen am Maßstab der Nützlichkeit, wenn auch unter anderen Wissensvoraussetzungen, messen lassen müssen.

Ebenso haben sich viele rezeptive metaphysische Annahmen der Vernunft (etwa die Ideenlehre Platons oder die Hochreligionen, oder der Hegelsche Geschichtsidealismus einschließlich des darauf gründenden Marxismus) als falsch erwiesen – das führt aber nicht dazu, wie uns alle Arten von Empiristen/Positivisten glauben machen wollen, daß wir uns deshalb auf den blanken Utilitarismus zurückziehen müssen. Vielmehr ist am Ende der Metaphysik der Vernunft deren funktioneller Maßstab in der Bewertung des Richtigen und Ethischen in den Traditionsbestand eingegangen wie vordem die Nützlichkeit.(12)

Ein kleines Beispiel dafür ist selbst jene Tatsache, daß insbesondere Physiker als einen nicht unbeträchtlichen Beweis für die "Wahrheit" ihrer Formeln deren "Schönheit" heranziehen; wer dächte da nicht sofort an Platon und die Identität des "Schönen" und "Wahren"? Richtig (sic) ist daran soviel, daß es sich dabei in Wirklichkeit nicht um eine ästhetische Kategorie handelt, wie etwa bei der Betrachtung einer antiken Statue, sondern daß diese "Schönheit" eine von der Vernunft ge- und "empfundene" ist – e.v.-Erleben der Vernunft in sich selbst als das existentielle Erleben der Richtigkeit auf der Wesensebene.

Ergebnis: wir müssen auch die gesamte Realität kategoriell betrachten, als sich aus tragfähigen und erstarrten Hypothesen schichtend. Und dieses Schichten macht das aus, was wir Geschichte nennen (das "Hineinhorchen" in die deutsche Sprache macht immer wieder auf eine ganz eigene Weise Zusammenhänge deutlich – ein Umstand, den übrigens bereits Heidegger erkannte, aber dann überstrapazierte). Und auch noch in dieser Hinsicht haben Sie wieder recht: Geschichte wiederholt sich nicht ...

Information, Bewußtsein und subliminale Wahrnehmung

An dieser Stelle möchte ich mich zunächst einmal für Ihre sachliche Information bedanken – so konkret bewußt war mir die unterschiedliche Datenmenge der verschiedenen Sinnesorgane bislang noch nicht; allerdings fügt sich dies in meine bisherige Auffassung ganz zwanglos ein und unterfüttert diese. Neben meiner Ihnen bereits bekannten "empirischen Selbstreflexion" mag Ihnen dies auch das folgende kurze Selbstzitat zeigen, das ich meinem bereits angesprochenen Kommentar für die "Jaspers-Diskussion" entnehme (s. Anm. 1):

"<38> ... Der menschliche Geist ist kein "Apeiron", keine "leere Tafel", wie noch Locke mit Aristoteles meinte, sondern ein in vielfacher Weise begrenztes und von vielfachen Vorbewertungen abhängiges Werkzeug. Sowohl die Sinnesorgane selbst als auch deren Interpretationssysteme zeigen nur eingeschränkte Bandbreiten des Wirklichen, und unsere rationale Reflexion dieser Interpretationen ist wiederum nur auf einen kleinen Ausschnitt dieser vegetativen Abläufe des Gesamtorganismus "Mensch" beschränkt; und was und wie etwas in unser rationales Bewußtsein tritt, ist keinesfalls "wertfrei", sondern vielfach vegetativ-genetisch, instinktiv, emotional und rational vorbewertet: All das läßt weniger die Möglichkeit zu, auf eine "Erfahrung aus dem Unbegrenzten" zu schließen, als vielmehr von einem vielfach gebrochenen und vorbewertenden individuellen Filter auszugehen, der jedem Individuum eine andere Wirklichkeit zeigt, deren Regulativ in der Realität die Funktion, und in der kulturellen Wirklichkeit die intersubjektive Tragfähigkeit der verschiedenen Filterergebnisse ist.

<39> Vielmehr erscheint die menschliche Forschungstätigkeit ganz umgekehrt als der (gelingende) Versuch einer Entgrenzung dieser subjektiven und begrenzten Filter durch reale und theoretische Hilfsmittel; Beschleunigerringe wie CERN und Theorien wie die Allgemeine Relativitätstheorie erlauben uns interpretierende Einblicke in die Realität des Seienden, die weit über unsere mesokosmisch begrenzte Ausstattung hinausgehen, diese "transzendieren". Das "Apeiron" der möglichen Erfahrung liegt also nicht "hinter, unter uns" (wie etwa im Buddhismus das "Feld der Leere"), sondern vor uns in der weiteren Aufdeckung der "Kommunikation des Seienden" – Quantenfelder im Mikrokosmos, Gravitationsfelder im Makrokosmos, aber auch das "Feld" der zivilisatorisch-kulturellen Interaktion des Menschen in der Wirkung auf die Umwelt und sich selbst harren allesamt noch der entgrenzenden Klärung."

Zumindest vom Ansatzpunkt her sollte somit unser beider Auffassung hier übereinstimmen.

Wie aus dem Gesagten klar werden soll, ist jede emotionale und rationale Interpretation massiv durch nichtbewußte(13), also vegetative Prozesse verschiedener Neuronalnetze und -zentren unterfüttert. Akzeptiert man diese Tatsache – und wer außer Dualisten wollte das heute bestreiten? – dann ist die Sache mit der "subliminalen Wahrnehmung" bzw. der "Evokation von Aktionspotentialen" zeitlich vor jedem rationalen Bewußtsein einer Handlung nicht so arg problematisch und auch nicht so "sensationell", wie von manchen wissenschaftlichen Beobachtern dieser Tatsache getan wird – viel eher schon ist das ganze banal, weil notwendig. Anders gesagt: nur eine metaphysische Auffassung des menschlichen Geistes wird ohne solche vorauslaufenden und vorbewußten Gehirnaktivitäten auskommen.

Alle Gehirntätigkeit bis hin und einschließlich der instinktiven dringt nicht in unser Bewußtsein(14); diese Prozesse benötigen jedoch, wie alles Prozeßhafte, ihre eigene Zeit, und als der bewußten Empfindung bzw. rationalen Bearbeitung vorauslaufend kann gar nicht anders gedacht werden, als daß diese Prozesse früher und vor jeder bewußten Aktion einsetzen.

Das über die Reihe der Arten entwickelte Gehirn läßt gar keinen anderen Schluß zu, und deshalb soll hier auch eine Hypothese über den Zusammenhang von serieller und paralleler Signalverarbeitung folgen. Eine vollständige Paralellität derselben, bei welcher man noch am ehesten zu einer Art "Gleichzeitigkeit" von Bewußtsein und Handlung gelangen könnte, erscheint aus zweierlei Gründen völlig unangemessen:

– die verschiedenen "Schichten" möglicher Interpretationsleistungen haben sich in einem zeitlichen Nacheinander und lokalen "Neben- und Übereinander" entwickelt.

– soll die Auswertung von vegetativen und sinnlichen Signalen in die Interpretationsleistung höherer Neuronalnetze und -zentren mit eingehen, so muß dazu eine Vorverarbeitung auf der niedrigeren Stufe angenommen werden. Ganz ebenso "hinkt" die rationale Beurteilung der emotionalen Vorbewertung – etwa im Hinblick auf ein menschliches Gegenüber – grundsätzlich hinterher, die "intuitive" Vorbeurteilung grundiert bereits in vielerlei Hinsicht das rational bewußt werdende Urteil, und dies soweit, daß wir ohne eine solche Vorbewertung, wie etwa der Fall Phineas Gage (bei Damasio) zeigt, gar nicht in normaler Weise lebensfähig wären.

– weitere starke Argumente gegen eine ausschließlich parallele Signalverarbeitung sind die axonale und dendritische Vernetzung der Neuronen selbst, was auf einen qualitativ unterschiedlichen Signalaustausch verweist, wie auch die inzwischen bekannte Tatsache, daß höhere Netze und Zentren an jeweils niedrigere vielfach rückgekoppelt(15) sind.

Aus all diesen Gründen werden wir von einer gleichzeitig parallelen und seriellen Signalverarbeitung auszugehen haben; das lenkt natürlich das Interesse auf die Frage des Verhältnisses von paralleler zu serieller Verarbeitung. Ohne daß ich mich darauf versteifen wollte, bietet sich hier aus der Natur der Sache heraus an, zumindest hypothetisch und zunächst, die parallele Verabeitung mit der dendritischen und die serielle mit der axonalen Vernetzung der Neuronen zu identifizieren. Diesen Gedanken möchte ich dann aber sogleich dahin modifizieren, daß auch noch die parallele Verarbeitung insoweit wohl als axonal vernetzt gedacht werden muß, wenn ein Sinnessignal innerhalb eines dafür zuständigen Interpretationszentrums in seine verschiedenen Bestandteile zerlegt wird, insofern zur Bearbeitung der verschiedenen sinnlich erfaßbaren "Eigenschaften" verschiedene Neuronalbereiche "zuständig" sind, etwa bei einem Seheindruck (z.B. Abgrenzungen, Farben, Schatten, räumliche Zuordnung u.a.). Ein "einzelnes" Neuronalnetz wie die "Bilderkennung" arbeitet also wohl in einer doppelten Weise parallel vernetzt, indem gleichzeitig die axonalen Aufspaltungen einerseits und die aufgespaltenen Anteile wiederum über dendritische Vernetzung der dafür spezialisierten Neuronen abgearbeitet werden.

Am Ende eines solchen axonalen und dendritischen Aufspaltungs- und Interpretationsprozesses durch etwa das Sehzentrum muß notwendig eine "Zusammenführung" der verschiedenen Interpretationsergebnisse stehen, in der der Seheindruck als Gesamt so "restauriert" wird, wie er als über das Sinnesorgan einlaufender ein "Gesamt" war, allerdings nun mit den durch Gedächtnisabgleich ermittelten "Wiedererkennungen" und Bewertungen versehen. Dieses wieder zusammengesetzte sinnliche und zumindest in Teilen bekannte "Piktogramm" kann dann seriell an ein höheres Interpretationszentrum "weitergereicht" werden, wo diesem Piktogramm eigenständig zugehörende "Umstände" und "Werte" durch Abgleich aufgerufen werden können. Dabei bilden die beteiligten Neuronalbereiche eine Art "Aktivitätsbund", der beim Menschen und beim empfindenden Tier dasjenige ist, was wir Bewußtsein nennen – ein Vernetzungszustand von Neuronalaktivität, hervorgerufen durch sinnliche oder innere Wahrnehmung. Auch hier wieder: Bewußtsein ist kein "an sich", das noch einmal "neben" der Wahrnehmungstätigkeit als "menschliche Spezialität" existiert; vielmehr bildet es sich heraus als individuelle Interpretation durch Eigenbewertung zunächst in der Emotio. Eine solche individuelle Eigenbewertung macht nur Sinn, wenn das Individuum selbst daraus "lernend" einen Vorteil ziehen kann; dies gelingt aber nur darüber, daß es in sich selbst verschiedene Emotio-Bewertungen vergleicht – und genau dies ist der Ursprung von "Bewußtsein" bereits im tierlichen Bereich: die Innenwahrnehmung des Subjekts der Wahrnehmung, daß in ihm selbst ein Anstieg oder Abfall von (über verschiedene Neurotransmitter vermittelter) positiver oder negativer "Spannung" (das "Ziehen"!) im und als Emotio (limbisches System) vor sich geht – und dies führt per se zur "Selbstwahrnehmung". Zunächst als reflektierendes Empfindungsbewußtsein des Tieres und schließlich unter Koppelung an die vertikal-rationale Ebene des Verstandes zur Selbstverdinglichung und zum Selbstbewußtsein des Menschen.(16)

Dieser etwas langatmige Versuch sollte vor allem dazu dienen, insbesondere die serielle und damit zeitfordernde Vernetzung der Signalverarbeitung herauszuarbeiten – denn daraus geht die Notwendigkeit eines Evokationspotentials hervor, das "lange" vor dem eigentlichen Bewußtwerden einsetzt.

Diese Notwendigkeit hat Implikationen einerseits für die Rückdatierung der Wahrnehmung, andererseits für das Problem der Willensfreiheit.

1. Rückdatierung

Von der "Qualität" her scheint mir dies ein ähnliches Phänomen zu sein wie etwa der Umstand, daß wir die Welt nicht auf dem Kopf stehend erleben, wie sie uns ja die Sinnessignale eigentlich einspielen: ganz offensichtlich werden die Signale so uminterpretiert, daß wir die Welt in gehöriger Weise aufrecht sehen. Entsprechend scheint mir die beobachtete Rückdatierung der Handlungsauslösung eine durchaus notwendige Uminterpretation zu sein: Wir würden eine falsche Reihenfolge von Geschehensabläufen und damit eine völlig falsche Kausalität "erleben" und damit konditionieren, wenn diese Reihenfolge wegen der zeitfordernden seriellen Verarbeitung bis hin zum rationalen Bewußtsein "durcheinandergebracht" würde. Unser "Leib" "weiß" um diese Zeiterfordernis ebenso wie um die Notwendigkeit der Aufrichtung der Seheindrücke, und setzt sie durch diese Rückdatierung wieder in entsprechender Weise zusammen, indem die zeitliche Differenz, die der Signalweg und die parallel-serielle Interpretationsverarbeitung bis hin zum Eintreffen im Bewußtsein benötigen, eliminiert wird.

Auf diese Weise läßt sich jene Beobachtung gut begründen, daß ein direkter Stimulus im Interpretationszentrum selbst, der normalerweise einen entsprechenden Signalweg und Interpretationszeit voraussetzt (sic!) und so in der Natur (normalerweise) nicht vorkommen kann, so zurückdatiert wird, daß ihn ein Proband so erlebt, als ob die dadurch ausgelöste bewußte Erfahrung vor einer anderen, nun tatsächlich von außen stammenden Sinnesfahrung liegt, obwohl letztere tatsächlich vor der ersteren, durch direkte Gehirnstimulation erzeugten erfolgte.

2. Konsequenzen für die Willensfreiheit

Von recht vielen Menschen, auch Naturwissenschaftlern, wird diese Beobachtung geradezu triumphierend als schlußendliches Argument dazu benutzt, die von ihnen "schon immer angenommene" Determination als feststehend zu verkünden. Das ist schlicht falsch.

Dies zunächst schon aus der grundsätzlichen Erwägung heraus, daß wir Willensfreiheit, wenn überhaupt, so doch schon seit jeher nur beim Menschen in Betracht kommend angenommen haben, also bei jenem Lebewesen, das über ein rationales Bewußtsein seiner Handlungen verfügt. Willensfreiheit muß also notwendig ausschließlich mit derjenigen Ausdifferenzierung des Gehirns in Verbindung stehen, die uns von allen uns vorausliegenden Lebewesen unterscheidet, während sie mit denjenigen Gehirnleistungen, die wir mit den Tieren teilen, nichts zu tun hat. Nun ist aber zu erwarten, daß zumindest bei solchen Tieren, die über eine emotionale Selbststeuerung verfügen, die obige Problematik der Rückdatierung aus gehirnarchitektonischen Gründen ganz ebenso auftritt wie beim Menschen, da auch diese sonst der Realität gegenüber nicht in entsprechender Weise handlungsfähig wären. Daraus ist zunächst ganz allgemein zu schließen, daß das Rückdatierungsproblem nichts mit der Willensfreiheit zu tun haben kann, da sich eine solche Annahme auf das ausschließlich den Menschen zukommende rationale Bewußtsein stützt und so das bereits den Tieren eignende Rückdatierungsproblem keine Rolle spielen kann.

Anders ausgedrückt: Wir haben bisher den Menschen im Gegensatz zum Tier Willensfreiheit als möglich zugesprochen, obwohl beide (wenn auch bislang unbekanntermaßen) diese gleiche Datierungsproblematik teilen – dann kann diese jedoch nicht plötzlich zur Begründung von Determination herhalten, da die Willensfreiheit ja aus einer "Potenz" herstammen soll, die uns vom Tier unterscheidet.

Daraus wird ersichtlich, daß diese Diskussion am Problem der richtigen Definition von Willensfreiheit krankt, mit der sich ja schon Schopenhauer ausführlich auseinandergesetzt hat. Ich will hier nicht diese ganze komplexe und oft nur psychologisierende oder in Metaphysik verfallende Debatte aufrollen, sondern mich gleich auf meine Sicht der Dinge in Verbindung mit den wissenschaftlichen Gegebenheiten, wie ich sie sehe, beschränken.

Jede Überlagerung eines neuronalen Zentralvermögens durch ein neueres (also etwa die Überlagerung der Emotio durch den Verstand) ist – wenn man weder dualistisch noch metaphysisch argumentiert – nur auf folgende Weise möglich:

a) Entstehung einer neuen Neuronalschicht durch genetische bzw. epigenetische Mutation(17); so ist die beobachtete Vergrößerung des Neokortex beim homo sapiens sapiens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Hauptursache des menschlichen Verstandes wie auch der Vernunft. Diese Überlagerung beim Menschen ist nichts prinzipiell Neues, sondern "nur" eine weitere Vertikalisierung bereits vorhandener vertikaler Schichtung im Tiereich. Diese vertikale Vergrößerung des Neokortex ist so gesehen alles andere als ein "Wunder", sondern eher schon "synergische" Fortführung(18) eines in der Genese von Lebewesen bereits bekannten "Verfahrens".

Die Überlagerung des Verstandes durch die Vernunft bedarf deshalb keiner weiteren kortexvergrößernden Mutation, weil jene erste Großmutation bereits "sehr großzügig" war, indem damit eine Mehrfachschicht von Neuronen "angelagert" wurde, so daß nach den Beobachtungen von Changeux selbst heute in den Zeiten der Vernunft nicht sämtliche dieser Schichten unseres Neokortex aktiv genutzt werden. (Was auf die Möglichkeit einer weiteren Überlagerung schließen ließe.)

b) Hemmung des vorherigen Neuronalvermögens zugunsten einer "Zwischenschaltung" der überlagernden Schicht, die zu einer neuen Interpretation der vorausliegenden Daten benutzt wird; etwa zur Dingzusammenfassung des Verstandes gegenüber den Einzeleigenschaften der Emotio. Dies führt zur Rezeption dieser Neuronalschicht, zunächst noch im Dienste des vorausliegenden Bewertungsvermögens (etwa der Emotio).

c) Ist eine Gesamtrezeption dieser überlagernden Neuronalschicht erreicht, indem alle Daten der vorausliegenden Interpretationsform (etwa der Emotio) dadurch gehemmt und neuinterpretiert sind, wird die Leitungsübernahme (e.v.-migratio) durch das Neuvermögen möglich, indem die daraus gewonnenen Datenbestände desselben nun auf dieser neuen Ebene selbst wieder verglichen und bewertet werden (etwa von der Lust der Emotio zur Nützlichkeit des Verstandes).

d) Mit dieser Leitungsübernahme setzt zugleich die Selbstreflexion des Neuvermögens der im Dienste des Vorvermögens rezipierten Datenbestände unter Zugrundelegung der neuen Bewertungsform des Neuvermögens ein. Dabei werden die Vorbewertungen, soweit sich sich gegenüber den Neubewertungen als "unterlegen" (sic!) erweisen, ausgeschieden.

Genau in diesem doppelten Prozeß der Hemmung und der ausscheidenden Selbstreflexion der Vernunft gegenüber dem Verstand (wie auch bereits eine Kategorie vorher: des Verstandes gegenüber der Emotio) ist dasjenige gegeben, was wir menschliche Willensfreiheit nennen. Denn wir können damit in den nichtbewußten und vorauslaufenden Prozeß der Handlungsausbildung hemmend eingreifen, und wir können seitens Verstand bzw. Vernunft bewußt zwischen verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten wählen. Innerhalb einer Gemeinschaft werden notwendig ganz bestimmte Wahlen erwartet (was bereits im Tierreich gilt), die entweder freiwillig übernommen werden, weil das Individuum insoweit auf der Höhe der Artentwicklung ist, oder aber durch Druck erzwungen werden, um das Individuum von einer im Sinne der Gemeinschaft falschen Wahl abzuhalten. Dies der Grund, warum es bereits im Tierreich sog. "Hackordnungen" gibt, in denen die "überlegenen" Individuen (sprich die onto- und phylogenetisch innerhalb und entsprechend der Art führenden Exemplare) die Horde zu entsprechenden Verhaltensweisen anleiten – woraus denn, wie schon Nietzsche wußte, sich unsere Moral und Ethik entwickelten, die noch die nämliche Funktion besitzen.

Willensfreiheit ist nicht, "wollen zu können, was immer man will" – das wußte schon Schopenhauer; denn ein Wille, der kein Motiv hat, was er wollen könnte, steht still (am Rande: der Ursprung der "Langeweile", die es daher so nur bei selbstempfindenden Lebewesen wie den höheren Tieren und dem Menschen gibt).

Willensfreiheit ist vielmehr die Wahlmöglichkeit unter horizontal und vertikal verschiedenen Motiven – also innerhalb einer Kategorie (selbstempfindende Tiere) bzw. über die verschiedenen Kategorien Emotio, Verstand und Vernunft hinweg (Mensch). Die menschliche Willensfreiheit zeichnet sich besonders durch diese vertikale Wahlmöglichkeit zwischen Motiven und Werten aus; von hier aus führt dann, da der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, der direkte Weg zum Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und der Moral des Verstandes wie der Ethik der Vernunft: Aus der Gemeinschaftsverfassung der Individuen heraus werden die dem jeweiligen phylogenetischen Stand der Art entsprechenden Verhaltensweisen, also entsprechende Individualwahlen erwartet bzw. erzwungen. Dies ist beim Menschen besonders problematisch, da er vertikal zwischen drei verschiedenen Qualitäten von Motiven zu wählen hat – der individuellen Lust, der Nützlichkeit für sich und/oder die Gruppe, und den ethischen Motiven, in welch letzterer Wahl sich ebenso wie beim Verstand individueller Selbstwert und Wesenswert für alle entsprechen. Hier liegt etwa das Motiv des "Helden", der sich im (angeblichen) Opfer für die Gemeinschaft aus eigenem ethischem Idealismus heraus selbst wählt und damit die in einer kategorieverschiedenen Welt unmögliche rein ethische Existenz be- und versiegelt.

Sind die beiden ersten Motivarten (Lust und Nützlichkeit) bereits derart "verinnerlicht", daß sie für selbstverständlich genommen werden, d.h., sie "verstehen sich von selbst" (insbesondere in Bezug auf die Gruppe), und in ihnen versteht sich das Individuum selbst, gilt gleiches für die überwiegende Mehrzahl bezüglich der ethischen Motive nach wie vor noch nicht, da innerhalb einer jeweiligen Generation die individuelle Durchreflektierung des Ethischen (bislang?) nur von einer verhältnismäßig geringen Anzahl erreicht wird.

Willensfreiheit in Bezug auf die Wahl des Ethischen ist mithin nur letzteren "gegeben" – und insofern die Leitungsübernahme der Vernunft gar keine anderen Wertsetzungen bzw. keine andere Wahl zuläßt, ist auch dies keine eigentliche Willensfreiheit, sondern auch noch ethisches Verhalten erfolgt in der existentiellen Übernahme der ethischen Bewertung unfreiwillig, hier ist keine Wahl mehr.

Hingegen wird der "Wille" der nicht selbst die Vernunft erreichenden Individuen durch zusätzliche "Motive"(Anreiz und Strafe) von der Ebene des Ethischen her dazu angeleitet, die ethischen Mindestanforderngen gegenüber den anderen Gemeinschaftsmitgliedern einzuhalten, ansonsten aber durchaus den je eigenen Motiven entsprechend der individuellen Kategorialität zu folgen (das ist das Wesen der Freiheit aus der Sicht der Vernunft).

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