Deutscher Originalartikel aus der Diskussion des
Karl Jaspers Forums im Internet |
KARL JASPERS FORUM TA32 Prof. Dr. Herbert F. J. Müller (Montreal) BEGRIFFS-DYNAMIK UND publiziert in Aufklärung und Kritik 2/2000, erschienen im Oktober 2000 [1] ZUSAMMENFASSUNG Einige Schwierigkeiten der Beziehung zwischen Denken und Gehirn-Funktion können durch Untersuchung der relevanten Begriffs-Dynamik verständlicher werden. Das betrifft hauptsächlich die Transzendenz der Erfahrung durch Begriffe, und daraus folgend die Subjekt-Objekt-Spaltung (ontologisch oder funktionell), Entstehung und Funktionen der Metaphysik ("Realismus"), sowie die begriffs-umgreifende Eigenschaft der Erfahrung. Momentane Erfahrung ist der Kern von Denken (Bewußtsein) und kann nicht übersprungen werden. [2] Was über das Gehirn und seine Funktionen in Beziehung zum Denken objektiv gedacht und gesagt werden kann, benutzt Begriffs-Strukturen die alle innerhalb der gegebenen Erfahrung von uns gemacht werden. Doch kann umgekehrt die momentane Selbst-und-Natur-Erfahrung nicht aus objektivem Wissen abgeleitet oder darauf reduziert werden. Erfahrung ist weder identisch mit objektiven Gehirn-Funktionen, noch mit einem öffentlich zugänglichen strukturierten "Selbst"; beide Vermutungen folgen aus der irrtümlichen Annahme einer primären (ontologischen) Subjekt-Objekt-Spaltung. Öffentliche subjektive und objektive Daten können miteinander korreliert werden (z.B. zeitlich), aber aktive Erfahrung umgreift alle Daten. Ein Glaube an denk-unabhängig strukturierte Wirklichkeit blockiert den Zugang zu der Frage nach diesem Prozeß. Jedoch kann die Metaphysik in Form von Arbeits-Metaphysik funktionell werden, wodurch der umgreifende Aspekt der Erfahrung offen gelegt wird. [3] EINLEITUNG: EINE NICHT-TRIVIALE FRAGE Um die auf den ersten Blick vielleicht banale Frage nach der Beziehung zwischen Gehirn und Denken entwickelt sich in letzter Zeit eine Art von wissenschaftlich-philosophisch-weltanschaulicher Industrie in Form von vielen Publikationen und Kongressen. Das ist wohl ein Zeichen dafür, daß sie zwar zur Zeit populär, aber auch weniger einfach ist, als man zunächst meint. In der Tat ist man vielfach zu der Meinung gekommen, daß sie eine schwierige oder sogar unlösbare Frage sei. Andere Autoren vertreten die Auffassung, daß das denkende "Subjekt" eine unnötige Fiktion sei, die man aufgeben solle zugunsten von objektiven Befunden von Gehirnaktivität, von Verhaltensbeschreibung, oder von Sprach-Produkten, u.a.m. Das führt zu der Frage ob die Entstehung solcher etwas verwirrender und zum Teil anti-intuitiver Ansichten durch Rückführung auf gemeinsame Ursachen geklärt werden kann, und dies ist der Zweck der gegenwärtigen Studie. Sie macht einen Vorschlag, wie dies versucht werden kann. [4] ÜBERLEGUNGEN ZUR BEGRIFFS-DYNAMIK Vor der weiteren Untersuchung dieser Situation selbst ist es von Interesse, einige Eigenschaften der Begriffe zu besprechen, die in diesem Zusammenhang benutzt werden. Es handelt sich dabei nicht darum, Begriffen neue Eigenschaften zuzuschreiben, sondern von jeher vorhandene zu beschreiben mit dem Ziel, ihre Wirkungen besser zu verstehen. Diese Betrachtungen betreffen vor allem zwei Eigenschaften, Transzendenz und Umgreifen, welche hier in einem etwas "technischen" Sinn besprochen werden, aber mit der Implikation, daß die üblicheren (z.B. ontologischen) Bedeutungen dieser Wörter daher stammen. [5] BEGRIFFE UND FRÜHERE STRUKTUREN In der Bedeutung des Wortes Begriff, die hier verwendet wird, entsteht ein Begriff dadurch, daß ein Wort an eine frühere Empfindungs- und Denk-Formation angekoppelt wird. Wörter sind ausschließlich menschliche Produkte, während auch Tiere die früheren Formen der Erfahrung machen und benutzen. ("Früher" und "Später" betreffen hier sowohl die Ontogenese des Individuums als auch die Phylogenese, und ferner die Entstehung von spezifischen einzelnen Begriffen in der einzelnen Person wie auch in der Gesellschaft.) [6] Zu den früheren Formationen gehören Gestalten visueller, auditorischer, taktiler Art, und weniger scharf umschriebene Bildungen (die manchmal als "Qualia" bezeichnet werden, weil sie nicht leicht quantifizierbar sind) wie Farb-, Geruchs-, Geschmacks-, Gleichgewichts-, Schmerz-Empfindungen, usw. Aber weil die Erfahrungs-Struktur-Formation innerhalb der Erfahrung jedes Individuums (Tier oder Mensch) stattfindet, sind phylogenetische Betrachtungen in diesem Zusammenhang nicht relevant, wenn auch z.B. objektiv gesehen die Rezeptoren und Struktur-Bildungen biologisch vorbestimmt sind, und Strukturen phylogenetisch verfolgt werden können. [7] Durch Begriffe werden viele Aspekte der Erfahrung mit Hilfe von Wörtern besser "greif"-bar: sie werden besser mitteilbar und definiert, fixiert (stabilisiert und standardisiert), und gleichzeitig dabei aus dem Rest der Erfahrung herausgehoben und mehr oder weniger isoliert. [8] Begriffliches Denken setzt Begriffe voraus. Das kann eine Verständnisschwierigkeit erzeugen insofern, als wir selbst die Begriffe im Vorhinein oder spontan herstellen (oder die von anderen gemachten annehmen). Das ist eine Bootstrap-Operation, in welcher ein fixiertes Anfangsschema benutzt ("gesetzt") wird wie beim Starten eines Computers, und wenn es funktioniert, werden dann weitere Formen während der Funktion von dort aus laufend entwickelt (oder bereits geformte aus dem Gedächtnis hinzugefügt). In religiöser Fassung lautet das: "in principio erat verbum". Dies trifft sowohl auf das individuelle Begriffs-Denken als auch auf Sprach-Kommunikation zu. [9] Hier besteht noch eine weitere mögliche Schwierigkeit des Verstehens. Die Erfahrung selbst ist vorausgesetzt, "gegeben" – wir erfinden sie nicht; aber die Strukturen der Realität sind im Gegenteil nicht gegeben. Alle Strukturen, die die Erfahrung benutzt und benutzen muß, und von denen sie bestimmt (strukturiert, definiert) wird, werden von uns innerhalb der Erfahrung gemacht, erfunden. Die Ausarbeitung der gegebenen Erfahrung geschieht mit Hilfe von selbstgemachten Strukturen: das ist Strukturschaffung, und nicht Interpretation (oder "Re-Präsentation") einer vorher schon strukturierten Welt. Dies betrifft sowohl vor-begriffliche als auch begriffliche, tierische wie menschliche, absichtliche als auch unabsichtlich geschaffene Strukturen, und vor allem auch den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt. Willkürlich können jedoch die von uns gemachten Formen nur innerhalb der funktionellen Grenzen sein, die daher stammen, daß sie sich in der gegebenen Erfahrung bewähren müssen. Wenn das nicht der Fall ist, werden sie früher oder später durch andere ersetzt. [10] Die Begriffe haben somit folgende Entstehung, Stellung und Funktion: (a) Erfahrung ist "gegeben" oder "gefunden", nicht von uns gemacht (d.h. nicht erfunden). (b) Alle Strukturen der Erfahrung (sowohl vor-begriffliche als auch begriffliche) werden andererseits von uns innerhalb der Erfahrung gemacht oder erfunden; sie sind nicht gegeben oder gefunden, wenn auch neben ihrem praktischen Erfolg auch andere objektive (z.B. genetische) Faktoren zum großen Teil bestimmen, welche Strukturen entwickelt werden. (c) Begriffe sind Kombinationen von Wörtern mit vor-begrifflichen Strukturen, und tragen zur Kommunikation und Stabilisierung bei. (d) Erfahrungsstrukturen (für Selbst-und-Welt) werden akzeptiert (provisorisch-heuristisch, durch Glauben, oder durch Wissen als starkem und oft durch praktischen Erfolg gut fundamentiertem Glauben). (e) Extrapolation, von den akzeptierten Begriffs-Strukturen ausgehend, ermöglicht Erweiterung der Erfahrung (mit Hilfe von Phantasie, Fabel, Theorie, Technik, usw.). [11] URSPRUNG DER STRUKTUREN Die Ableitung der Denk-, Selbst-, und Natur-Strukturen von innerhalb der nicht-strukturierten Erfahrung kann als Null-Derivation (0-D) bezeichnet werden. Das bedeutet nicht, daß Denken sich in der Praxis ohne Strukturen abspielt, oder daß man mit einer unstrukturierten Erfahrung anzufangen habe oder anfangen könnte – à la "tabula rasa" – und auch nicht, daß alle Strukturen immer wieder neu gemacht werden. Sie werden im individuellen und kollektiven Gedächtnis (z.B. in Büchern) gespeichert und wieder verwendet. [12] Sondern 0-D bedeutet, daß Strukturen (begriffliche sowohl als vor-begriffliche, und nicht einmal der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt) weder prä-formiert "gegeben" sind, noch von inneren oder äußeren prä-formierten Schablonen (z.B. Referenten) abkopiert werden. Sie alle setzen die Tätigkeit eines Subjekts voraus, und zwar ohne vor-gegebene Schemen. Ohne solche Aktivität sind keine Denk-Strukturen vorhanden, nicht bei Menschen und nicht bei Tieren. (Hierzu muß man sich von der Idee freihalten, zum Beispiel objektive Rezeptor-Konfigurationen als vorgegebene Schemen zu verstehen: das wäre eine objektive, d.h. sekundäre Betrachtung.) Denn sowohl das "Selbst" als auch die "Natur" (z.B. das "Gehirn") werden innerhalb der Erfahrung gebaut und dadurch sind sie im Denken vorhanden. [13] Sowohl die früheren (vor-begrifflichen) als auch Sprach-(Begriffs-)Formationen können von zwei Seiten betrachtet werden: von einer (wissenschaftlich-)objektiven, wo z.B. chemische Moleküle in Rezeptoren passen, oder wo elektromagnetische Wellen von unterschiedlicher Frequenz Netzhaut-Elemente zu spezifischer Aktivität veranlassen, gefolgt von subkortikaler und kortikaler Gehirn-Aktivität von spezifischer Art; oder es werden Verhaltens-, Sprach- und soziale Produkte usw. mehr oder weniger objektiv beschrieben. Objektiv müssen wir sagen, daß Ultraschall und ultraviolettes Licht existieren, auch wenn wir sie nicht direkt wahrnehmen. Objektiv ist Denken völlig abhängig von Hirntätigkeit, und die Studie dieser Hirntätigkeit ist als solche von großer Wichtigkeit. Und ferner sind z.B. auch objektive genetische Studien von praktischem Interesse. [14] Und dann ist da eine subjektive Seite, Empfindungs- und Denk-Ereignisse, die weitgehend, wenn auch nicht völlig, davon unabhängig sind, wieviel der Agierende (Tier oder Mensch) von den objektiven Vorgängen weiß. Subjektiv können wir Ultraschall und Ultraviolett nur mit Hilfe von Spezial-Werkzeugen strukturieren, sonst wissen wir nichts von ihnen; sie werden nicht direkt als Schall oder Licht verstanden, sondern nur indirekt-objektiv durch andere Eigenschaften (z.B. ihre Frequenz, oder ihre Wirkung auf Tiere, oder Analogie mit anderen Phänomenen, usw.). Daß Denk- und Empfindungsstrukturen von objektiven physiko-chemischen, biologischen, und genetischen Mechanismen abhängen, ändert nichts daran, daß sie in der individuellen Erfahrung stattfinden, und, daß unser erster Zugang nur von dort sein kann. Wir alle, einschließlich derjenigen, die eine exklusiv objektivistische Ansicht vertreten (wie Th. Nagel), sind in der Erfahrung gefangen. Alle objektiven Betrachtungen entstehen als Spezialisierungen innerhalb der (subjektiven Selbst-und-Natur-)Erfahrung. [15] Für alle (Tiere und Menschen) ist nun die ungespaltene und unstrukturierte Erfahrung der einzige Zugang zu jeglichem Fühlen oder Wissen (einschließlich des objektiven), der zur Verfügung steht. Dieser Zugang kann weder umgangen, übersprungen, noch selbst vernachlässigt werden ohne einen Fehler zu begehen, der das Verständnis erschwert. Wir alle sind in der (Selbst-und-Natur-)Erfahrung gefangen, es ist nicht möglich, anderswo anzufangen. Somit sind sowohl frühe vor-begriffliche Strukturen als auch wissenschaftliche und alle anderen (Wort-)Begriffe später als die Erfahrung selbst; auch sie sind in ihr gefangen, und nur von dort her verständlich. Schon allein von dieser Überlegung her ist es ein Irrtum, die Erfahrung selbst objektiv (physiologisch oder anderswie) erklären zu wollen. [16] Objektive (wissenschaftliche und andere) Begriffe, wie aber auch schon vor-begriffliche Formationen, werden immer nur von innerhalb ihrer Ausgangsmatrix (der gegebenen gegenwärtigen Erfahrung) etappenweise ausgearbeitet (und für Wiederbenutzung gespeichert). (Im Falle von kollektiv akzeptierten Theorie-Strukturen gibt es manchmal "revolutionäre" Schübe [Kuhn]). Wissen und Wissenschaft sind Spezialisierungen innerhalb der Erfahrung. Andererseits ist es unmöglich, umgekehrt momentane Erfahrung in bereits strukturierten Gegebenheiten zu finden; diese müßten dafür zuvor "dekonstruiert" werden. [17] Wörter (einschließlich Zahlen) sind menschliche Produkte; wir selbst machen sie. Und deshalb kennen wir sie genau, im Gegensatz zu Wissen von der Natur als solcher, die uns nicht in dieser Art zugänglich ist. In seiner nicht-cartesianischen Theorie schlug Giambattista Vico vor, daß "verum factum est", "scire est facere". (In seinen Schlußfolgerungen, an PM Doria gerichtet: "... Etenim habes verare, & facere idem esse ...: atque Deum scire physica, hominem scire mathematica ..."). Man kann dem zufügen, daß dies nicht nur die Mathematik betrifft, sondern Begriffe im allgemeinen (die alle mit Hilfe von Sprache von uns gemacht werden). Begriffe sind (wie aber auch schon alle die oben [6] erwähnten früheren Formationen) unsere selbstproduzierten Werkzeuge, die uns helfen, unsere Erfahrung zu strukturieren und zu handhaben. Ein solches Prinzip kann das begriffliche Problem der Res Extensa vermeiden (ohne daß man deshalb allen von Vicos Folgerungen folgen müßte; z.B. ist "Gott" hier wohl ein Verlegenheitsvorschlag um mit der unzugänglichen Natur umgehen zu können). [18] MITTEILUNG UND SICHERHEIT Die Hinzufügung eines Wortes zu den früheren Denk-Strukturen hat zunächst den Zweck der Mitteilung, aber mündet dann auch gleichzeitig in eine bessere Greifbar-Machung und Strukturierung, Stabilisierung (Fixierung, Definition, Standardisierung) von Erfahrungen. Begriffe funktionieren wie eine Art von Skelett für Mitteilung und Denken (nur, daß dieses Skelett zum Teil modifizierbar ist). Die (soziale) Mitteilungsfunktion steht dabei wohl im Vordergrund; die Stabilisierung (für Mitteilung an andere und für Sicherheit im gemeinschaftlichen und individuellen Gebrauch) ist zunächst ein Bonus. [19] TRANSZENDENZ UND IHRE KONSEQUENZEN Die Wörter haben noch einen weiteren Effekt, der aber leicht übersehen wird. Deutlicher als die früher entstandenen Strukturen gehen (Wort-)Begriffe über die momentane Situation hinaus, das heißt sie transzendieren die gegenwärtige Erfahrung. Das Wort und der Begriff "Stein" bedeuten nicht nur einen Stein, den ich jetzt in der Hand halte oder betrachte, sondern alle je möglichen Steine, irgendwo und irgendwann. Das liegt wohl an der führenden Mitteilungsfunktion von Wörtern, denn ich kann anderen nur etwas mitteilen, wenn es über meine eigene momentane Erfahrung hinausgeht, d.h. wenn es auch für sie gültig ist. Das wirkt sich aus in einer gewissen Allgemeingültigkeit der Begriffe. "Objekte" sind deshalb meist leichter mitteilbar als "Qualia", bei denen der subjektive Aspekt oft überwiegt. [20] Und ferner schließt das Wort im Prinzip auch alle Aspekte des Steines ein, ob ich ihn nun im weiteren jetzt untersuche oder nicht (s. auch Merleau-Ponty). Weil Wörter nur von Menschen benutzt werden, ist dieser trans-momentane Struktureffekt vor allem in menschlicher Erfahrung deutlich. Dieser Transzendenz-Effekt (das heißt die Überschreitung der momentanen Erfahrung durch diese Eigenschaft der Wort-Begriffe) ist unvermeidbar, wann immer man Begriffe benutzt. Er hat eine asymptotische Qualität insofern, als Erfahrungen sich dem gemeinten Wort-Inhalt annähern können, aber nicht völlig mit ihm übereinstimmen. [21] Hier auch eine Bemerkung über "Möglichkeiten": was möglich ist, oder nicht möglich ist, wird entschieden aufgrund von (Transzendenz und folgender Extrapolation von momentaner und erinnerter) Erfahrung. Möglichkeiten, Potenzen, Dispositionen, sind keine ontologische Gegebenheiten. [22] Aber obwohl diese Überschreitung eine wesentliche Mitteilungsfunktion hat, wird diese oft zugunsten der Fixier- und Sicherheitsrolle der Begriffe vernachlässigt. Die Transzendenz wird meist zunächst weder beabsichtigt noch erwartet, und oft nicht einmal wahrgenommen, und vielleicht sind gerade deshalb ihre Auswirkungen oft stark. Denn wenn dies später bewußt wird, kann es überraschende Konsequenzen haben. [23] Die Pythagoräer waren derart beeindruckt von der transzendenten Qualität der Zahlen (Allgemeingültigkeit und -Verwendbarkeit, zusammen mit ihrer Einfachheit und kombinatorischen Macht), daß sie sie eine Zeit lang vergötterten. Ähnlich schrieb Platon den Begriffen (Ideen), die er als unerreichbar, aber dennoch zugleich als absolut wirklich und wahr, sogar als Grund von Wirklichkeit und Wahrheit ansah, eine Zeit lang ein höheres Eigenleben zu. ("Idealismus" folgt dieser Ansicht mehr oder weniger, während in meinem Vorschlag Ideen als Werkzeuge betrachtet werden.) Anselm von Canterbury wollte aus dem Begriff von Gott auf dessen persönliche Existenz schließen, und noch Kurt Gödel hat diesen ontologischen Gottesbeweis logisch zu formalisieren versucht (s. Dawson; s. auch [49]). So wurde Transzendenz oft irrtümlich mit Realität und Permanenz gleichgesetzt. [24] STATISCHE METAPHYSIK UND SUBJEKT-OBJEKT-SPALTUNG Hier, in der Überschreitung der momentanen Erfahrung durch die Bedeutung der (Wort)-Begriffe, ist die formelle Ursache der traditionellen fiktiven statischen Metaphysik einschließlich der Ontologie zu suchen. Sie wurde von Kant und anderen als "von der Vernunft erfordert" erklärt. Man kann sich jedoch fragen, wie vernünftig eine solche Annahme wirklich ist, wenn sie Ontologie voraussetzt und nicht nur eine zweckdienliche Methode bedeutet (Kant selbst hat offenbar später – im Opus Postumum – seine Meinung geändert). Anstatt dessen können metaphysische Strukturen "rationale Instrumente" sein, ohne ontologischen Status (s. unten [34ff]). [25] Der erste Effekt eines Glaubens an Wort-Transzendenz-Realität ist meist, daß (z.B. in Descartes’ Terminologie) res cogitans und res extensa als primär unterschieden werden (d.h. nicht nur als zweckmäßige Methode, sondern als ontologisch gegeben). Solch eine Annahme wäre nicht weiter von Belang, wenn sie nicht schwerwiegende Folgen hätte: wenn man sich einmal auf eine solche Unterscheidung als primär existent festgelegt hat (entweder explizit, meist aber nur implizit, was die Situation weiter erschwert), kann man nicht mehr leicht auf den Ursprung zurück finden. Dadurch wird dieser Schritt oft irreversibel, selbst Diskussionen hierüber sind manchmal unmöglich. [26] Zweitens hat man dann entweder eine dualistisch-hybride Situation, die wohl immer unbefriedigend ist. Hierhin gehören nicht nur expliziter Dualismus (z.B. Dilthey), sondern auch Versuche, die Erfahrung als grundlegend anzuerkennen, aber trotzdem durch physiologische oder andere denk-unabhängige objektive ("richtig wirkliche") Mechanismen erklären zu wollen (das wäre ein Salto Mortale der Denkens, von Phänomenologie zu Objektivität, ohne Ankündigung, vielleicht sogar ohne es zu bemerken). [27] Oder wenn man andererseits eine einheitliche Ansicht sucht, ist da nur noch eine Wahl zwischen zwei Unmöglichkeiten: Entweder ist "das Subjekt" die einzige Realität und die Natur ist nur noch Phantasie (aber ein solcher ontologischer Solipsismus ist so absurd, daß er selten ernst genommen wird). Oder aber "die objektive Natur" ist exklusiv und denk-unabhängig wirklich und das Subjekt verschwindet oder wird allenfalls zu einem "erklärenden Postulat" degradiert. (Und trotz der ebenso deutlichen Widersinnigkeit einer solchen Annahme haben viele Pro- und Anti-Metaphysiker sich ergebnislos um sie bemüht, wohl weil sie nichts Besseres zur Verfügung sahen). [28] DIE SACKGASSE DES DUW-GLAUBENS Die statisch-metaphysische, denkunabhängig schon vor-strukturierte Wirklichkeit und Wahrheit (DUW) beginnt so als eine Konsequenz eines Sprach-Nebenproduktes, das durch Glauben fixiert wird. In der Naturwissenschaft ist, meist in der Form von naivem Realismus, der DUW-Glaube, mit exklusiver Objektivität, noch immer die häufigste Haltung, mit dem Resultat, daß man mit der Denk-Gehirn-Frage in einer Sackgasse ist. [29] DUW-Formulierungen sind ein 2½-tausend Jahre altes Problem, welches von Descartes re-aktiviert, aber nicht gelöst wurde. Er meinte, die vorher übliche theistische Grundlage für Gewißheit durch eine Art von archimedischem Punkt ersetzen zu können – obwohl er persönlich einen theistischen Rückhalt beibehielt –, im Wesentlichen mittels der res extensa. Dies führte zum "modernen" DUW-Glauben der Objektivität. [30] Wie erwähnt, hat ein Sprung hinein in eine solche fiktive transzendente denk-unabhängige statische Wort-Begriffs-Realität leicht zur Folge, daß der Ausgangspunkt vergessen wird. Damit wird der Zugang zum Verständnis der Entstehung von DUW versperrt. Man hat vielfach versucht, ohne Metaphysik auszukommen, aber das endete meist in Rückfällen, weil die Frage des Warum (sowohl der begrifflichen Ursache als auch der Motivationen) für den Metaphysik-Glauben nicht gestellt wurde: man ist außer sich und kann nicht mehr zu sich kommen, auch nicht mit kühler Überlegung. Man sucht zum Beispiel nach objektiven "theories of everything", welche das Subjekt ignorieren (das wären dann bestenfalls "Theorien von allen physikalischen Objekten"). [31] Solange man auf einen DUW-Glauben festgelegt ist, besteht eine Sperre gegen Ideen und Mittel, etwas Anderes zu versuchen. Man kommt nicht darauf, außerhalb von DUW – nämlich mit Subjekt-(Denk-)Einbeziehung – zu suchen, und wehrt sich sogar dagegen, vor allem wenn man viel Arbeit darauf verwendet hat, ein objektives (realistisches oder anderes statisch-metaphysisches) System zu formulieren oder zu akkomodieren. [32] Ein weiterer Grund für die Stärke des objektiven DUW-Glaubens ist jedoch auch, daß er eine Überlebensfunktion haben kann, weil er den meisten praktischen und theoretischen Anforderungen genügt, einfach, und sofort zur Hand ist, während komplexere Überlegungen mehr Zeit erfordern und sogar Handlung verhindern können. Dies kann auch als phylogenetische Beibehaltung der Sofort-Reaktionen von Tieren gesehen werden, für die mangels Sprache begriffliche Betrachtungen, mit ihren Vor- und Nachteilen, nicht aufkommen. Die Strukturen, Gestalten und einfacheren Formen werden von ihnen als verläßliche Werkzeuge benutzt – wenn auch gezeigt werden kann, z.B. im Laboratorium, wie sie zustande kommen, und daß sie irreführen können. [33] KONSTRUKTIVISMUS UND ARBEITS-METAPHYSIK Eine interessante neuere Ansicht ist der Konstruktivismus, der davon ausgeht, daß Menschen und Tiere ihre Denk-Strukturen und damit ihre "Welten" selbst machen (Jean Piaget, Jakob von Uexküll, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, und andere). Mir selbst ist die konstruktivistische Meinung erst seit kurzem bekannt (zuerst durch E. v. Glasersfelds Artikel1 ). Die theoretische Bedeutung eines durchgehenden Konstruktivismus liegt meiner Meinung nach zum Teil darin, daß andere Ansichten von ihm abgeleitet werden können, aber nicht umgekehrt. (Wie bei allen erkenntnistheoretischen Positionen besteht bei dem Konstruktivismus eine praktische Gefahr, später wieder in einen statischen DUW-Glauben zurück zu gleiten – wie dies einigen Autoren geschehen ist – oder möglicherweise vielleicht auch in einen statischen Solipsismus. Derartige irrige Entwicklungen können hier, wie auch im allgemeinen, wohl nur durch Verhinderung oder Korrektur des Glaubens an die primäre Subjekt-Objekt-Spaltung vermieden werden [27].) [34] Das konstruktivistische Prinzip paßt gut zu dem hier Vorgeschlagenen. Man kann die strukturellen Facta (oder auch "Fiktionen": dieses Wort weist auf die Doppeldeutigkeit bezüglich ihrer "Realität" hin) als technische Hilfsmittel verstehen (vergleichbar z.B. mit einem Baugerüst, oder auch mit unerreichbaren asymptotischen Linien). Diese Ansicht ersetzt diejenige von absoluten "prä-formiert gegebenen" Einheiten, wie es die traditionelle Metaphysik nahelegt. Hierbei wird explizit bestätigt, daß Metaphysik zum Denken notwendig, aber zugleich im traditionellen ontologischen Stil unmöglich ist. Dann ergibt sich eine Arbeits-Metaphysik (oder Arbeits-DUW, Als-Ob-DUW), wodurch die Metaphysik funktioneller wird2 . [35] Die metaphysischen (und auch die anderen) Strukturen werden in diesem Fall behandelt, als ob sie wirklich wären, aber gleichzeitig mit dem Wissen, daß es sich um (manchmal-permanent-)temporäre Hilfsmittel handelt. Hans Vaihinger hat von solchen Als-Ob-Fiktionen geschrieben, doch war sein Vorschlag unvollständig3 . Dazu gehört auch entsprechend ein funktioneller, methodologischer, oder Arbeits-Solipsismus, der darin besteht, die unumgängliche Zentralität der Erfahrung anzuerkennen, ohne das Subjekt zum statisch-ontologischen einzigen Wirklichen zu erklären. Die beiden "Arbeits"-Positionen gehören zusammen und werden gleichzeitig benutzt, wenn einmal erst die Ungeteiltheit der Ausgangsposition erkannt ist. Dadurch wird die falsche Alternative zwischen den beiden unmöglichen statischen Positionen vermieden (nur Subjekt oder nur Objekt). Sowohl Selbst wie auch Welt werden gleichzeitig von uns strukturiert und zum Denken als "als-ob-ontologische" Strukturen benutzt. [36] DAS UMGREIFENDE UND DAS RATIONALE DENKEN Die Begriffe werden unter anderem dazu benutzt, um innerhalb der gegenwärtigen und erinnerten Erfahrung (und aus ihr heraus) Teile von ihr zu definieren. Als Nebeneffekt werden diese Teile vom Rest der Erfahrung isoliert. Das hat natürlich gleichzeitig zur Folge, daß viele andere Aspekte derselben Gesamterfahrung durch den angewandten Begriff nicht erfaßt werden. Wenn man von einem Stein spricht, ist z.B. von dessen Farbe nicht automatisch die Rede, auch wenn sie wahrgenommen wird; dazu braucht man einen weiteren Begriff, wie etwa "schwarz". (Der "schwarz"-Begriff seinerseits transzendiert natürlich wieder die momentane "schwarz"-Situation.) Aber es bleibt immer von der Erfahrung viel übrig, das weiter ist als alle benutzten Begriffe, und das selbst von beliebig vielen gleichzeitig angewandten Begriffen nicht völlig erfaßt wird, und somit greift es um die Begriffe herum. [37] Umgreifen und das Umgreifende sind daher eine eingebaute Eigenschaft der Erfahrung, genauer: ein Resultat des Verhältnisses von momentaner individueller Erfahrung zu den benutzten Begriffen. Dies ist ebenso unvermeidbar – und nicht nur fakultativ – wie die Transzendenz der Begriffe. Hier besteht ebenfalls ein asymptotisches Verhältnis, weil Begriffe die Erfahrung zu jedem gewünschten Grad, aber nie vollständig ergreifen können. (Vor allem Karl Jaspers hat auf die Bedeutung des Umgreifenden hingewiesen, aber es kommt auch sonst oft auf, unter vielen Namen.) [38] Hierzu ein Zitat aus Paul Feyerabends postumem Buch "Conquest of Abundance", das ein Problem des geformten logischen Denkens beschreibt: " … if discourse is defined as a sequence of clear and distinct propositions (actions, plans, etc.) which are constructed according to precise and merciless rules, then discourse has a very short breath indeed. Such a discourse would be often interrupted by "irrational" events and soon be replaced by a new discourse for which its predecessor is non-sense pure and simple. If the history of thought depended on a discourse of this kind, then it would consist of an ocean of irrationality interrupted, briefly, by mutually incommensurable islands of sense"4 (s. vFraassen). [39] Diese "irrationalen Ereignisse" kommen aus dem ungeformten und immer umgreifenden Hintergrund (der Fülle, Abundance) der Erfahrung. Denn dieser Hintergrund ist der Ursprung, das Apeiron, der geformten Strukturen (der "Inseln von Sinn"), zum Beispiel der traditionellen statischen Metaphysik, DUW. Und er kommt immer wieder zum Vorschein, selbst wenn sein Bestehen geleugnet wird. Feyerabends Ansicht ist, scheint mir, in Übereinstimmung mit Vico: Wir kennen die begrifflichen Produkte unseres Denkens, und benutzen sie als Werkzeuge um die gegebene, aber nicht strukturierte Erfahrung zu handhaben. Das erfordert nicht unbedingt, daß verschiedene Werkzeuge immer miteinander harmonisieren, obwohl das praktische Vorteile hat, z.B. ein Computer mit dem angeschlossenen Drucker, oder Theorien von Vererbung mit Theorien von Gen-Funktion. Anders gesagt: daß die Inseln von Sinn isoliert sind, stört nicht unbedingt ihren Gebrauchswert. [40] Aber sie haben doch alle den gleichen ("irrationalen", d.h. nicht-begrifflich-strukturierten) Ausgangspunkt, und es ist immer möglich, den Weg von dort per 0-D zu zeigen. Somit ist ihre Isolation auf den schon geformten instrumentalen Bereich beschränkt. (Doch Feyerabends Aussage über den "reinen Unsinn" ist etwas überspitzt und braucht eine Modifikation: in manchen Fällen, z.B. bei wissenschaftlichen Theorien, ist die frühere engere Theorie ein Sonderfall der späteren und weiteren.) [41] Die von uns gemachten Strukturen sind somit grundsätzlich von ihrer strukturfreien Matrix (der umgreifenden Erfahrung selbst) verschieden, und wenn sie für die gegenwärtige Aufgabe nicht adäquat sind, kommt die ungeformte Erfahrung wieder in den Vordergrund. Sie wird dann "irrational" genannt, weil sie nicht in die vorher konstruierten rationalen Formen paßt, und dann werden neue rationale Instrumente produziert, um damit fertig zu werden. [42] "Abstraktion" ist (in diesem Zusammenhang (Feyerabend, vFraassen), aber auch im Allgemeinen) ein etwas irreführender Ausdruck. Es handelt sich nicht darum, von Objekten etwas wegzunehmen, wie es das Wort "abs-trahere" nahelegt, sondern um einen Aspekt der Transzendenz der Konzept-Werkzeuge, der vor allem erscheint, wenn diese Werkzeuge in Isolierung betrachtet werden, außerhalb ihres Gebrauches in momentaner Strukturierungs-Aktivität. Beispiele sind reine Mathematik, reine Logik, und Begriffe als reine Begriffe (z.B. Platonische Ideen). [43] Es ist ein begrifflicher Irrtum von Denksystemen – wie des in der objektiven Wissenschaft und auch sonst weitverbreiteten naiven Realismus, oder auch von genauer beschriebenen Positionen (wie der Principia Mathematica von Russell und Whitehead), und ebenso von manchen positiven politischen Doktrinen –, wenn sie meinen ein vollständiges rationales Denk- und Realitätssystem in bereits fertigen Formen liefern zu können. Rationale Systeme sind immer unvollständig. Auf Grund dieses Irrtums wird in solchen Systemen die umgreifende Erfahrung vernachlässigt, und konsequenterweise manchmal sogar ausdrücklich verneint. Ähnliches gilt für religiöse Dogmen, es sei denn, sie lassen Raum für mystische Erfahrung, die über die jeweilige Doktrin hinausgehen darf. [44] Es ergibt sich so auch das Paradox, daß die weiteste mögliche "Theorie" das Umgreifende selbst ist, obwohl es selbst nicht strukturiert (also keine Theorie) ist. Das stimmt überein mit dem Zitat von Feyerabend [38]. Die einzige absolute Wahrheit ist, daß es keine absoluten Wahrheiten gibt. Natürlich ist das ein Selbstwiderspruch, aber das sagt nichts gegen die Richtigkeit dieses Satzes. Die Logik ist gültig für Strukturen. Wie all die Strukturen, für die sie gilt, endet ihre Geltung, wenn man zum Umgreifenden Unstrukturierten gelangt. [45] Das menschliche Denken hat eine Schwäche: Weil es weiterreichend, adaptierbarer, variabler, und weniger vollständig von biologischen Mechanismen determiniert ist als die entsprechende Funktion bei Tieren, ist es weniger stabil. So sucht man nach Strukturen für das jeweils immer noch offene, von Begriffen noch nicht strukturierte Umgreifende, um Stabilität und Sicherheit zu garantieren, und dies ist ein wichtiger Teil der Motivation für einen Glauben an (statische) DUW. Etwas derartiges wird von Religionen und anderen globalen Denk- und Glaubenssystemen (einschließlich mancher Vertreter positivistischer Wissenschaft) angeboten. [46] Hier besteht jedoch immer eine grundsätzliche Schwierigkeit: es werden positive, oft für absolut gültig gehaltene Wahrheiten offeriert, die aber kritischem Denken nicht standhalten. Das Problem ist, daß alle positiven existentiellen Begriffe gesetzt und nicht gefunden werden. Unter anderem gilt dies auch für das "cogito ergo sum" – dies ist eine Bootstrap-Operation. Hume und Kant konnten sich nicht von der Realität des "Ich" überzeugen, weil es kein solides auffindbares Objekt war – unter der irrtümlichen Voraussetzung, daß Objekte in prä-strukturierter Form als solche "gegeben" sind. [47] Wenn man das zugibt, sind absolute Wahrheiten unmöglich; sie sind dann statt dessen Behauptungen, vielleicht Kampf-Ansagen. Absolute Glaubenssysteme sind deshalb definitionsgemäß absurd, wie schon Tertullian bemerkte, können aber dennoch als Richtlinien große praktische Bedeutung haben – und zwar leichter ohne als mit Einsicht in ihre Entstehung. Denn der Glaube bestimmt die Gewißheit, Wahrheit und Realität sowohl für ontologische wie funktionelle Ansichten, des Einzelnen wie der Gemeinschaft (und Wissen ist eine starke Form von Glauben). Es besteht hier kein Gegensatz zwischen Als-ob und Realität, es sei denn in dem Sinn, daß ein kritikfreier Glaube an ontologische Wirklichkeit meist stärker ist als ein funktioneller Glaube an unsere selbstgemachten Strukturen – doch ist diese Sehweise wohl nicht verfügbar, wenn man sich auf DUW gründet. [48] Funktionelle wissenschaftliche Aussagen sind vom Typ: "Wenn man dies tut, bekommt man jenes Resultat mit solcher Wahrscheinlichkeit"; existentielle Aussagen können ebenfalls in dieser Art formuliert werden, z.B.: "Wenn man den Urknall (Big Bang) annimmt, ergibt sich, daß …", oder "Ich bin so und so, und darum …" Ontologische Aussagen lassen sich so mit Gewinn an Denk-Möglichkeit funktionalisieren, während umgekehrt funktionelle nur mit Verlust ontologisiert werden können. Man vergleiche zum Beispiel eine ontologische Aussage wie: "Die Erde ist flach" mit der funktionellen: "Um einen Plan meines Hausgrundstückes zu zeichnen, kann ich so tun, als ob die Erde flach wäre, denn für diesen Zweck brauche ich nicht die Beschränkung der flachen Geometrie zu berücksichtigen." [49] Anselm von Canterbury und Kurt Gödel [23] versuchten im Endeffekt, die Transzendenz jeglicher momentaner Gesamterfahrung durch den Begriff "Gott" mit der weitestmöglichen und somit vollständigen umgreifenden Erfahrung zu kombinieren. Weite Begriffe umgreifen zwar enge Begriffe, aber dieser Versuch scheitert dennoch an der beschränkenden Eigenschaft des Begriffes, außer das durch den Begriff Umschriebene ist so weit, daß es alles einschließt. Dann ist aber der Begriff kein Be-"griff", und die Definition keine "Definition" mehr. Denn in diesem Fall wird das Begriffene identisch mit allumgreifender (auch z.B. mystischer) nicht-strukturierter Erfahrung, die jedoch offensichtlich durch Strukturen in Doktrinen oder anderen Denksystemen weder begriffen noch vermittelt werden kann. Die weiteste Erfahrung ist weiter als alle je möglichen Begriffe und Begriffssysteme. (Gödel selbst hatte paradoxerweise früher die Unvollständigkeit des Russell-Whitehead-Systems gezeigt; war er vielleicht nicht von der Allgemeingültigkeit seines Resultates überzeugt?) [50] DENKEN UND GEHIRN-FUNKTIONEN Wie kann das Denken vom Gehirn kommen? (Oder allgemeiner: Wie kann Bewußtsein aus der Materie entstehen? How can consciousness emerge from matter?) So wird das Problem oft formuliert. Aber diese Frage kann nicht beantwortet werden, weil sie falsch gestellt ist. Sie verursacht das sogenannte "hard problem of consciousness" (Chalmers), einen Artefakt, der aus irrigen exklusiv-objektiven Ausgangspositionen resultiert. Es handelt sich um die Nicht-Beachtung der oben [24-30] besprochenen Situation. Eine kurze Antwort ist: Das Denken kommt nicht vom Gehirn, sondern das Gehirn kommt vom Denken. Etwas ausführlicher: für unser objektives Wissen vom Gehirn und seinen Funktionen sind wir ausschließlich auf unsere Denk-Strukturen angewiesen, und diese können nur innerhalb der momentanen Gesamt- (d.h. Selbst-und-Natur-)Erfahrung entstehen. Das Gleiche trifft aber auch zu auf die Subjekt-Strukturen, z.B. "Selbst", "Ich", "Seele". Damit ist gesagt, daß weder "Objekte" irgend einer Art, noch "das Subjekt" in der einen oder anderen Formulierung, identisch sind mit der jetzt geschehenden Erfahrung. [51] Die aktive (aktuelle, "ongoing") umgreifende und noch nicht strukturierte Erfahrung ist aber andererseits die Essenz von "Denken", "Seele", "Geist", oder von dem, was oft in diesem Zusammenhang als "Bewußtsein" (consciousness) bezeichnet wird. Dieser Punkt wird oft nicht berücksichtigt, und es wird statt dessen erwartet, daß man irgendwann und irgendwie ein "Heraus-Fließen" (emergence) der Erfahrung aus verschiedenen objektiv beschreibbaren Vorgängen werde objektiv demonstrieren können, z.B. aus neurophysiologischen oder quantenmechanischen Ereignissen. Das scheitert daran, daß Erfahrung nicht objektiv sein oder werden, noch auf objektive Vorgänge reduziert oder von ihnen sezerniert werden kann. Die "richtige" Frage ist somit diese: wie entsteht Wissen in der Erfahrung? (In der Quanten-Mechanik können manche Ereignisse nicht mehr im naiven DUW-Rahmen verstanden werden, wie das noch in der klassischen Physik möglich war. Das kompliziert die Situation der objektiven Wissenschaft im Ganzen, und es ist wohl auch einer der Gründe, warum einige Atom-Physiker – und auch andere – in neuerer Zeit das Bewußtsein durch Quanten-Mechanik erklären wollen.) [52] Begriffe beziehen sich im Prinzip auf den Gesamt-Erfahrungsbereich, sowohl innen (Selbst) als auch außen (Umwelt), wenn auch jeweils jedes davon in verschiedenem Grad. Deshalb kann weder von naiver oder ausdrücklicher ontologischer Objektivität noch von ontologischem Solipsismus her die Frage nach der Denk-Gehirn-Beziehung richtig gestellt werden. Beide setzen irrtümlich eine primäre Subjekt-Objekt-Spaltung voraus. Das bedeutet unter anderem auch, daß die in der englischsprachigen Literatur häufige Unterscheidung von "third-person"- und "first-person"-Darstellung nicht weit führen kann, außer wenn die Rolle der umgreifenden momentanen Erfahrung als Hauptpunkt in der Überlegung mit eingeschlossen wird. [53] Viele Wissenschaftler sind trotz der begrifflichen Schwierigkeiten noch immer auf ausschließliche Objektivität (in der Form von Realismus, Materialismus, Empirizismus, Naturalismus, Positivismus) d.h. auf die Existenz denk-unabhängiger Wirklichkeit und Wahrheit festgelegt. Aber wenn man darauf besteht, daß objektiv-beschreibbare Prozesse das einzig Wirkliche sind, verschwindet gesetzmäßig das Subjekt, wenn es zum Thema wird (s. Crick, Nagel und andere). Daher stammt die Unfähigkeit dieser Ansichten, sich mit der Frage der Beziehung zwischen Denken und Gehirnprozessen angemessen zu befassen. Es besteht dann eine Blindheit für die Möglichkeit einer subjektbezogenen Erklärung, und manchmal sogar dafür, daß die Denk-Gehirn-Beziehung überhaupt einen Begriffs-Aspekt hat. Aber selbst Versuche, von DUW loszukommen, enden meist in Rückfällen auf traditionelle DUW, wohl weil man keine einleuchtende Alternative zur Verfügung sieht, außer einem noch absurderen statischen Solipsismus. Dies ist deutlich in der Geschichte des westlichen Denkens5 . [54] Ein Teil dieses Problems ist, daß der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt als primär gegeben angesehen wird [25ff], und dies ist, vielleicht noch mehr als der daraus resultierende DUW-Glaube selbst, ein Grund für Begriffsschwierigkeiten mit der Denk-Gehirn Frage. Wenn er vorausgesetzt wird, kann man nur in zwei Unmöglichkeiten weiter denken: entweder DUW, oder wenn DUW abgelehnt wird, ontologischer Solipsismus. Dieser Subjekt-Objekt-Unterschied ist aber im Gegenteil sekundär, das Resultat einer der frühesten aktiven Strukturierungen innerhalb der zuerst einheitlichen Erfahrung. Das Denk-Gehirn Problem ist somit weitgehend eine Folge des Glaubens an eine (z.B. cartesianische) primäre Subjekt-Objekt-Spaltung und eines daraus folgenden DUW-Glaubens. Aber anstatt zu versuchen, entweder das Subjekt oder das Objekt abzuschaffen, um die begrifflichen Schwierigkeiten zu lösen, kann man zu der frühen ungeteilten Erfahrung zurückgehen und von dort die Strukturierung verfolgen. [55] Wie schon erwähnt [34], kann eine Alternative zu der traditionellen statischen Metaphysik oder DUW in funktioneller "Arbeits-Metaphysik" (verallgemeinert von "Arbeits-Hypothese") oder "als-ob-DUW", verbunden mit Arbeits-(als-ob)-Solipsismus, gefunden werden. Der Unterschied zwischen den statischen und funktionellen Positionen besteht hauptsächlich darin, daß bei den letzteren sowohl die DUW wie auch das Subjekt als zweckdienliche Instrumente behandelt werden und nicht, wie in der traditionellen Version, als ontologische "gegebene Tatsachen". Sie können dann verstanden werden als Hilfskonstruktionen, ähnlich einem Skelett, oder vielleicht besser einem Baugerüst, das einem im Prinzip temporären (oder vorläufigen) Zweck dient, selbst wenn diese Aufgabe sehr langfristig (lebenslänglich) ist. Die Metaphysik oder das Subjekt einfach abschaffen zu wollen, wäre ein irriges Ziel, weil jeder sie dauernd benutzt und benutzen muß (das wäre so ähnlich, als wenn man den Gebrauch von Asymptoten verbieten wollte), aber sie können in der beschriebenen Weise funktioneller werden. Die traditionelle statische Metaphysik (Ontologie) ist innerhalb ihres Nutzbereiches weiterhin von Wert, am sichersten wohl wenn ein Rückhalt an Arbeits-Metaphysik zur Verfügung steht.6 [56] GEFANGEN IN DER ERFAHRUNG Für die Beziehung zwischen Denken, Subjekt und Gehirn bedeutet dies, daß alle Denkstrukturen sowohl für die Außenwelt (z.B. Objekte wie Gehirn und Gehirnfunktionen) als für das Innere (z.B. ich, Subjekt, Selbst, Seele), sowie die Spaltung (der Unterschied) zwischen ihnen, innerhalb der laufenden Erfahrung (des Denkens) gebildet werden – und darin bleiben. [57] Gleichzeitigkeit ist eines der Mittel, welche helfen können, die Zusammengehörigkeit von subjektiven und objektiven Ereignissen zu untersuchen ("Zeit" und "Raum" sind selbst ebenfalls unsere Begriffs-Instrumente). Zum Beispiel kann man auf einen solchen Zusammenhang schließen auf der Basis von "öffentlichen" Berichten meiner "privaten" Sehtätigkeit, als korreliert (zum Beispiel "zeitlich") mit Aktivität in Retina, subkortikalen, und kortikalen Strukturen, wie sie "öffentlich" demonstrierbar ist mit Hilfe von elektro-physiologischen Aufzeichnungen oder verschiedenen Arten von funktionellen Scans der Gehirnaktivität. Die Gleichzeitigkeit (von "öffentlich subjektiv" mit "öffentlich objektiv") ist eine der Methoden die uns zur Verfügung stehen. [58] Aber die subjektive momentane Erfahrung (und somit "das Denken", "das Bewußtsein") bleibt unausweichlich verschieden von den strukturierten öffentlichen und auch privaten Ereignissen. Insbesondere ist auch der "veröffentlichte" (verbalisierte oder anderweitig geformte) subjektive Bericht nicht identisch mit der momentanen, gegenwärtig geschehenden, fortlaufenden ungeteilten Selbst-und-Natur-Erfahrung (gekennzeichnet durch ihren umgreifenden, nicht geformten Aspekt, obwohl sie Formen als Werkzeuge benutzt). Zugleich bleiben wir, und bleibt alle Wissenschaft, mit unseren Bootstrap-Operationen und den darauf aufgebauten Werkzeugen innerhalb dieser umgreifenden Erfahrung gefangen. Sie ist der einzige Ausgangs- und Referenz-Punkt, und das kann durch nichts geändert werden. Die hier vorgetragene Beschreibung des Verhältnisses von Denken und Gehirn-Funktion wird zur Diskussion gestellt. Wegen dessen zentraler Stellung läßt sich am erfolgreichen Zugang zum Denk-Gehirnfunktions-Problem vermutlich die Tragfähigkeit von erkenntnistheoretischen Positionen messen. LITERATUR: Chalmers David J, The Puzzle of Conscious Experience. Scientific American, 273, December 1995, pp. 80-86. Crick Francis, The Astonishing Hypothesis. The Scientific Search for the Soul. Charles Scribner’s Sons, New York, 1994. Dawson John W Jr, Gödel and the Limits of Logic. Scientific American, June 1999, p.76-81. Fraassen Bas van, The sham victory of abstraction. Review of Paul Feyerabend’s posthumous book, Conquest of Abundance, edited by Bert Terpstra, Univ. of Chicago Press. Times Literary Supplement, 23 June 2000, p.10-11. (Das Zitat ist aus Feyerabends Buch.) Glasersfeld Ernst von, Knowing without Metaphysics: Aspects of the Radical Constructivist Position. Karl Jaspers Forum, http://www.mcgill.ca/fdg/kjf, Target Article 17, 1991 / 4 May 1999; und Diskussion. Jaspers Karl, Von der Wahrheit (1984). Pieper, München-Zürich, 1991. z.B. Zweite Einleitung, 3c. Kuhn Thomas S, (1962) The structure of Scientific Revolutions. Second edition 1970, Chicago: University of Chicago Press. Merleau-Ponty Maurice, Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard, 1945, p.381. Müller Herbert FJ, Is the Mind Real? Karl Jaspers Forum, http://www.mcgill.ca/fdg/kjf, Target Article 1, 27 Juni 1997; und Diskussion. Müller Herbert FJ, Limitations of the Ontological Method. Karl Jaspers Forum, http://www.mcgill.ca/fdg/kjf, Target Article 11, 7 Juli 1998; und Diskussion. Müller Herbert FJ, Concept-Dynamics and the History of Reality, Subject, and the Encompassing. Karl Jaspers Forum, http://www.mcgill.ca/fdg/kjf, Target Article 24, 7 März 2000; und Diskussion. Nagel Thomas, The View from Nowhere. Oxford University Press, 1986. Piaget Jean, L’épistémologie génétique. Presses Universitaires de France, 1970-1996 Vaihinger Hans, Die Philosophie des Als Ob, Leipzig: F. Meiner. 1911, 7&8. Aufl. 1922. Vico Giambattista, De antiquissima Italorum Sapientia (1710). Indici e ristampa anastatica. (ed. Giovanni Adamo). Firenze: Leo S. Olschki, 1998 (Ich bin Ernst von Glasersfeld dankbar für den Hinweis auf Vicos Werk). Walther Helmut, Metaphysik gegen GUW (denkunabhängige Wirklichkeit). Karl Jaspers Forum, http://www.mcgill.ca/fdg/kjf, Target Article 24, Commentary 29, July-August 2000. (Ich habe einige von HWs Bemerkungen in diesem Artikel diskutiert.) Prof. Dr. Herbert F.J. Müller, M.D., FRCP(C), FAPA, Associate Professor of Psychiatry, McGill University Montreal, Canada e-mail < hmller@po-box.mcgill.ca>Anmerkungen: 1 Glasersfeld Ernst von, Knowing without Metaphysics: Aspects of the Radical Constructivist Position. Karl Jaspers Forum, http://www.mcgill.ca/fdg/kjf, Target Article 17 2 Müller 1997, 1998, 2000, s. Literaturverzeichnis 3 Müller 1997 4 "Wenn Diskurs definiert ist als eine Folge von klaren und unterschiedenen Voraussetzungen (Aktionen, Pläne usw.), die konstruiert ist in Übereinstimmung mit präzisen und eindeutigen Regeln, dann hat ein solcher Diskurs in der Tat nur einen sehr kurzen Atem. Ein solcher Diskurs wäre oft durch ‚irrationale‘ Ereignisse unterbrochen und bald ersetzt von einem neuen, für den sein Vorgänger einfacher purer Unsinn ist. Wenn die Geschichte des Denkens von einem Diskurs dieser Art abhängt, dann würde er aus einem Ozean von Irrationalität bestehen, kurz unterbrochen von gegenseitig inkommensurablen Inseln von Sinn." 5 Müller, 2000 6 Müller, 1998 |
Zurück zum Seitenanfang | Zurück zur Jaspers-Seite | Zurück zur Startseite |