Deutsche Übersetzung zum englischen Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.mcgill.ca/douglas/fdg/kjf/)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM TA24 Commentary 21 (to Muller's R8 to Walther's C11, and to von Glasersfeld's C18)
0-D, METAPHYSICS AND MYSTICISM (to R8), RECOGNITION MATRIX AND VIABILITY, UNDERSTANDING AND REASON (to C18) by Helmut Walther

KARL JASPERS FORUM TA24

Kommentar 21
(zu H. Mullers Antwort 8 zu Walther Kommentar 11 [C11]
und von Glasersfeld Kommentar 18 [C18])
von Helmut Walther, 22.06.00, versandt 04.07.00

0D, Metaphysik und Mystik, Wiedererkennungsmatritze
und Tragfähigkeit, Verstand und Vernunft

ABSTRACT:
0) In Erwiderung auf R8 zu C11 wird nochmals auf den Zusammenhang zwischen der von H. Muller vorausgesetzten 0-D-Matrix und Metaphysik eingegangen, welche nach meiner Auffassung, wenn sie nicht mit mit ihrer evolutionären Herkunft verbunden wird, stark dualismusgefährdet ist. Eine solche Auffassung von Begriffsdynamik ist mit der bereits von Kierkegaard kritisierten Begriffsautomatik Hegels sehr nahe verwandt. Das häufige Auftreten von GUW-Auffassungen stammt oft weniger aus einer falschen Objektivierung von Begriffen, als vielmehr aus fehlerhaften Begriffsverbindungen, in der falsche Kausalitäten hergestellt werden.

Mystik wird nicht im Rückfall ins Emotionale oder als Unausgebildetheit der Ratio möglich; ganz im Gegenteil zeigen alle Hochreligionen (Sufismus, Buddhismus, Christentum, etwa Eckehart) alle einen sehr verwandten Weg in die Mystik über die "Vernichtung" des Ich, was eine transzendierende Überwindung bedeutet, etwa im "Edlen Pfad" Buddhas.

Dem Konzept E. v. Glasersfeld (C18<12ff>) im Hinblick auf die "Wiedererkennungsmatrize" als der Voraussetzung für den menschlichen Geist wird ausdrücklich zugestimmt; dies gilt ebenso für die Bedeutung der "Tragfähigkeit": es kommt in der Realität weder auf Objektivität noch auf "Wahrheit" an, sondern auf das Bestehen in der realen Kommunikation, seien dies Tierarten oder Ideen. Zur näheren Erläuterung wird das Hervorgehen der Verstandes- und Vernunftbegriffe aus der Gehirntätigkeit mittels eines Schemas darzustellen versucht.

zu Herbert Muller R8:

(1) Bereits die Überschrift von Response 8 zeigt, wo HM den Hauptunterschied zwischen seiner Auffassung und der meinigen bei sonst vielfältigen Überschneidungen sieht: Das Umgreifende sei Quelle, nicht jedoch Grenze. Damit legt HM den Finger sicherlich auf die richtige Stelle, denn mit der jeweiligen Definition dieses "Umgreifenden" steht und fällt wohl die ganze Argumentation in TA24. "Das Umgreifende ist das, worin alles Sein fuer uns ist; oder es ist Bedingung, unter der es eigentliches Sein fuer uns wird. Es ist ... das fuer uns ungeschlossen bleibende Ganze als der Grund des Seins. ... wir denken jenseits jedes definierten Seins, jenseits jedes noch sichtbaren und deshalb definierten Horizonts, in Richtung auf das Umgreifende ..." (R8 [16,17])

(2) Hier wird jener berühmteste aller metaphysischen Begriffe eingeführt, der schon bei Platon und noch bei Heidegger die Hauptrolle spielt: der berühmte "Grund des Seins", "jenseits jedes definierten Seins"1). Nun hat schon Wittgenstein zu Recht gesagt, daß man, worüber man nicht reden könne, schweigen müsse, und dies muß wohl von allem begrifflich Jenseitig-Undefinierbarem wie jenem "Grund des Seins" gelten. Ob man diesem "Umgreifenden" als "Grund des Seins" nun weitere Leerformeln wie "0D" oder "Matrix" beilegt, das macht den Bezug dieses rein metaphysischen Begriffs zur Realität des Seienden (Welt incl. Mensch), der wirklichen Dinge der Erfahrung, keineswegs klarer.

Im übrigen hat schon Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" gezeigt, daß wir unsere Begriffe keinesfalls quasi als erste Bausteine bilden2), um daraus das Allgemeine aufzurichten – sondern daß umgekehrt es erst vorhandene allgemeine Denk-Strukturen erlauben, konkrete Einzelbegriffe zu bilden. Begriffe gewinnen ihre Bedeutung nur innerhalb eines "Ganzen", einer Gesamttheorie als System von Sätzen (Quine, Two Dogmas of Empiricism). Ein Begriff sagt uns nur etwas in einem vorverstandenen Zusammenhang – und genau auf diesen Sachverhalt weist auch meine Kritik an einer 0D-Auffassung in Verbindung mit einer evolutionären Auffassung des Geistes, in welcher die Rezeption der Begriffe als Sprache hervorgeht aus den im tierlichen Bereich geschaffenen Vorvermögen und Vor-Verstand der Welt in der emotionalen Rezeption und Reflexion.

Das Umgreifende, wie es Jaspers und mit ihm TA24 denkt, als Unstrukturiertes und "jenseits jedes definierten Seins", leistet aber genau jene auch schon von Hegel geforderte Rahmenbildung eben gerade nicht; denn vom Unstrukturierten und Undefinierten her kann dieses "Umgreifende" den innerhalb seiner selbst auftauchenden Begriffen keinerlei Bedeutungszusammenhang gewähren. Eine "unstrukturierte Erfahrung" als gedachter (sic) Hintergrund zur Errichtung "geistiger Strukturen" (s. etwa R8[32]) ist ein Selbstwiderspruch – jede Erfahrung ist strukturiert, oder es ist keine solche. Dies der Grund, warum ich mich zur Beibehaltung dieses Begriffes des "Umgreifenden" genötigt sah, ihn ausschließlich als Grenze zu definieren.

(3) Im Hinblick auf das gegenseitige Verständnis der Begriffe Metaphysik und GUW in TA24 und C11 scheinen noch einige Unklarheiten vorhanden zu sein; Metaphysik wird von HM stets als GUW aufgefaßt, wohingegen ich sie als ein immanentes Phänomen definiere, parallel zum mythischen Denken des Verstandes. Metaphysik ist so für mich ein umfassenderer Begriff als GUW, die davon eine Teilmenge bildet, und zwar einen falschen und auszumerzenden Bestandteil. Alles, was die Vernunft als "reine Vernunft" am Seienden als Sein entdeckend hineininterpretiert, ist Metaphysik, aber deswegen nicht unbedingt GUW. So stellen etwa die sogenannten Naturgesetze keine GUW dar, sondern metaphysische Arbeitshypothesen, die neue Möglichkeiten im Umgang mit dem Seienden eröffnen. Wir sind uns zwar der Vorläufigkeit von deren Formulierung bewußt, haben diese aber immerhin mit der Realität (nicht: der Objektivität) soweit zur Deckung gebracht, daß sie uns bis zum Mond tragen.3)

Metaphysik ist mithin für mich ein "Gefäß", das in der Rezeption der Vernunft – die keineswegs nur analytisch ist, wie behauptet, sondern insbesondere werteschaffend und die Weltsicht des Menschen umstürzend (worauf leider in R8 nicht eingegangen wird) – mit deren neuer Sehweise hypothetisch aufgefüllt wird, ebenso wie einst der Verstand sich tastend die Welt konstruierte; und ebenso, wie der Verstand in seiner Reflexion vielfach Falsches aus seiner Rezeptionsphase auszuscheiden hatte, ebenso die Vernunft; daher die Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Metaphysik. Die vom Verstand konstruierten "Dinge" sind sicherlich Konstrukte, und zunächst wurde diesen Konstrukten viel Falsches zugeschrieben – diese Dingauffassung von Welt durch den Menschen hat sich aber derart in der Realität bewährt, daß der Mensch auf dieser Basis selbst ganz neue "Dinge" hervorbringen konnte. Damit sind Dinge aber mehr als bloße Konstrukte, sie sind im Gegenteil sehr real, und insoweit gelangen Konstrukt und Realität zu einer hohen Deckung (wenn auch nicht zur Identität).

In TA24 und R8 wird jedoch so argumentiert, als entstünden die menschliche Begriffswelt und deren Konstrukte quasi voraussetzungslos – daher wohl auch die Meinung, im Hinblick und herstammend aus dem "Umgreifenden" als einer "unstrukturierten Matrix". Aber unsere Begriffswelt, zunächst die des Verstandes, basiert ganz außerordentlich auf den instinktiven und emotionalen Vorsystemen. Der Geist schwebt nicht über den Wassern, sondern er bildet sich als weiteres Neuronal-System aus, indem er sich der Emotio überlagert und mit deren Einzelsinnesdaten umgeht, diese verbindet und als Gesamt = Ding neu konditioniert, bewertet und benennt (= der Begriff). Hier ist keine Matrix, sondern ein sehr reales Gehirn in komplexer Zusammenarbeit seiner Vermögen.

(4) Um dies Tasten im metaphysisch Ungreifbaren zu vermeiden, wurde von mir dafür das Bild der Grenze gewählt parallel zur Raumvorstellung des sich erweiternden Alls, wo also das "Sein" vom Seienden her erweitert wird, wohingegen bei HM es das "Sein" ist – ganz parallel wie bei Heidegger, bei dem bereits die "Sprache die Lichtung des Seins" ist –, von dem her dem Seienden als "Quelle" die Möglichkeit neuer Formung quasi geschenkt wird ebenso wie auch die Möglichkeit religiöser Erfahrung (R8,[17]). Für mich ist das nach wie vor projizierende Metaphysik, ob man den "Grund des Seins" nun "Gott" oder das "Umgreifende" nennt – in beiden Fällen wird die Ursache nicht innerhalb und aus dem Seienden heraus gesehen, sondern (bei Jaspers wortwörtlich) "jenseits" alles im Seienden Bekannten verlegt – in TA24 sind die Begriffe jene "Angeln", mit denen in jenem "Feld der Leere" gefischt wird.

(5) Ein weiteres erinnert stark an Heidegger: Bekanntlich verweigert jener die Akzeption der Evolutionstheorie insoweit, als diese jedenfalls mit der Hervorbringung des menschlichen Geistes nichts zu tun haben könne – dieser sei völlig anderer Art und davon unberührt:

"Vor allem meint Nietzsches Gedanke, Mensch und Welt überhaupt zuerst vom Leib und von der Tierheit aus zu sehen, keineswegs, der Mensch stamme vom Tier und genauer vom ‚Affen‘ ab –, als vermöchte überhaupt eine solche ‚Abstammungslehre‘ etwas über den Menschen zu sagen! ... Die Tierheit des Menschen hat einen tieferen metaphysischen Grund, als er jemals durch den Hinweis auf eine vorhandene, in gewissen Hinsichten äußerlich scheinbar ähnliche Tierspezies biologisch-wissenschaftlich beigebracht werden könnte."4)

In ganz ähnlicher Weise verweigert TA24 und R8 die weitere Rückverfolgung von Sprache und Begriffen, vielmehr wird dies als "sekundäre Psychologisierung" abgelehnt (R8[29]). Damit wird der "Erfahrung in Begriffen" und wohl auch den Begriffen selbst eine ganz ähnliche Apriorität und Unableitbarkeit zugesprochen wie bei Heidegger; genau dies war der Grund, warum ich in C11 von der Notwendigkeit sprach, daß die Begriffsdynamik durch eine evolutionäre Erkenntnistheorie gestützt werden müsse, da sie ansonsten in Metaphysik abgleitet.

(6) Die Rückverfolgung der Begriffe auf ihre Herkunft ist nicht Psychologie, sondern notwendige Erkenntniskritik, für die insbesondere das Wirken der Emotio von unabdingbarer Bedeutung ist. Genau dies drückt auch Damasio (in seinem neuen, 1999 erschienen Buch, S. 256) aus – und wendet sich damit gleichzeitig gegen eine 0D-Auffassung, wie sie von TA24 propagiert wird, sondern spricht sich damit ganz eindeutig für die in C11 befürwortete Filter-Theorie aus: "Die Rolle der Intuition im Gesamtprozeß der Entscheidungsfindung beleuchtet ein Abschnitt aus einem Aufsatz des Mathematikers Henri Poincaré, dessen Erkenntnisse sich mit meinen Vorstellungen decken: ‘Erfinden heißt wählen. Doch das Wort trifft die Sache vielleicht nicht ganz genau. ... Hier wären die Objekte, die zur Wahl stünden, so zahlreich, daß ein ganzes Leben nicht ausreichte, sie zu prüfen. Das tatsächliche Geschehen läuft ganz anders ab. Die unergiebigen Verbindungen dringen noch nicht einmal ins Bewußtsein des Erfinders. Nie tauchen in seinem Bewußtseinshorizont Verbindungen auf, die nicht auch wirklich nützlich sind, ausgenommen einige Kombinationen, die er verwirft, die aber in gewissem Maße die Merkmale nützlicher Verbindungen tragen. Alles vollzieht sich so, als wäre der Erfinder ein Prüfer im Abschlußexamen, der nur die Kandidaten befragt, die schon eine Vorprüfung abgelegt haben.’"

Insbesondere ist es nicht der Begriffsgebrauch, auf dem "das allgegenwärtige Vorkommen von GUW-Glauben" fußt (R8 [4]), sondern die Begriffsverbindung und die mittels der jeweiligen Vermögen unterstellte Kausalität. Über einen Beriffsgebrauch in rudimentärem Sinne verfügen bereits viele höhere Tierarten, die sich damit etwa vor ganz konkreten und über Laute vermittelten Gefahren warnen. Etwas ganz anderes, und das macht erst die Sprache als solche aus, ist die Feststellung von Sachverhalten als Sachverhältnissen. Als Dingrepräsentation und Dingverbindung ist Sprache das Mittel zum hinterherhinkenden Nachbau der Realität im und als Bewußtsein. Alles, was dabei den durch Begriffe repräsentierten Dingen als "Ding" wie an "Verbindungen" zugemessen wird, entstammt nicht dem Begriff selbst, sondern den den Verstand basierenden Vorvermögen, also der nichtbewußten Interpretationstätigkeit des Gehirns sowie der Emotio – der Begriff ist lediglich das Etikett, durch das mit dem damit repräsentierten "Ding-" und "Verbindungsgehalt" auf der Ratio-Ebene umgegangen werden kann. Die "Zähigkeit" der fehlerhaften Metaphysik stammt dabei nicht aus den Begriffen selbst, sondern aus falschen Begriffsverbindungen; dies kann in zweierlei Weise geschehen:

a) fehlerhafte Sachverhalts-Verknüpfungen und -bewertungen durch die den Verstand basierende Vermögen (Rezeptionsphase von Verstand oder Vernunft)

b) fehlerhafte Verknüpfungen durch Verstand oder Vernunft selbst (Reflexionsphase)

Das interpretierende Ermitteln von Sachverhalten in der Realität durch Verstand und Vernunft ist mithin kein "Neuschaffen" innerhalb einer 0D-Möglichkeit, sondern zunächst der Versuch, die vorausliegende und eigene Kommunikation (das Bezugsverhalten) von Seiendem untereinander aufzudecken (Rezeption); die Selbstanwendung und Neubewertung innerhalb des damit rezipierten Repräsentationsbereiches schafft eine eigenständige Ebene und Werte; daß bei dieser Reflexionsarbeit selbst wieder ständig neue fehlerhafte Verknüpfungen statthaben, zeigt etwa recht gut die Reflexion der Vernunft selbst seit Descartes und die seitherigen verschiedenen "Systemversuche", welche die nämliche Vernunft gezwungen war, in ihrer eigenen Doppelreflexion im Wege der Verbindung ihrer eigenen Ergebnisse mit denen der Vorvermögen wieder abzukassieren ("Ende der Metaphysik").

(7) Entscheidend wird sein, wie man das Verhältnis von Realität, Objektivität und GUW bestimmt. Auch hier sehe ich tiefgreifende Divergenzen zwischen HM und mir, die auf die nämliche Ursache zurückzuführen sein sollten, auf die Verweigerung einer zur Begriffsdynamik parallel laufenden Erkenntniskritik. Dies einfach damit abzutun, eine solche sei "sekundärer" Natur, da sie erst nach aller begrifflichen Erfahrung stattfinde, und somit selbst wieder GUW sei, ist m.E. nicht hilfreich.

Zunächst bestand Einigkeit darüber, daß es die Subjekte sind, die so etwas wie "Objektivität", aber auch GUW ebenso wie als-ob-GUW hervorbringen. Die Begriffe der Subjekte strukturieren die Erfahrung, die Erfahrung hinwiederum umgreift das durch Begriffe Strukturierte; dies wurde von mir in Rezeption und Reflexion in Richtung auf Erkenntniskritik weiterübersetzt, um nicht in einem rein "geistigen" Raum stehenzubleiben, der dualismusgefährdet wäre, und um die neuronale und sonstige gehirnarchitektonische Basis der Begriffsbildung und -erweiterung mit ins Spiel zu bringen. Denn diese Begriffe tauchen nicht aus 0D oder aus einer "unstrukturierten Matrix" aus, sondern sie stammen aus einer bereits vorhandenen und komplex kommunizierenden Welt ohne Begrifflichkeit, die als Realität Vorbestand des begriffsbildenden Menschen ist und die ihn selbst in dem, was er neben seiner "Begrifflichkeit" vor allem und in der Hauptsache selbst ist, ausmacht. Dies wurde als "Welthaftigkeit" bezeichnet, die der Mensch vielfach in sich trägt, bevor er ans Begriffebilden geht. Diese "Welthaftigkeit" bezeichne ich auch als "erstarrte Hypothesen" des Seienden, die in ihrer Funktion ihre Tragfähigkeit erwiesen haben und so die Realität bis hin zum und einschließlich des Menschen ausmachen.

(8) Den Menschen selbst macht es aus, auf dieser Basis ein neues Vermögen zu errichten, seinen Verstand, mit dem er die Welt neu als dingliche interpretiert – er vermag damit nicht nur wie die Emotio die Wirkungen von Dingen mit einzelnen Sinnesdaten zu korrelieren und zu bewerten, sondern in der Zusammenfassung verschiedener Wirkungen eines Wirkungsträgers erscheint das "Ding". Dabei wird nichts aus "0D" gegriffen, sondern ganz im Gegenteil handelt es sich bei allen Bestandteilen dieses Ding-Identifikationsvorganges um bereits im Tierreich vorhandene Vermögen: Wahrnehmungsvorgang, sinnliche Interpretation der Wahrnehmungen einschließlich emotionaler Bewertung unterscheiden sich vom tierlich-"ungeistigen" Verfahren keineswegs. Was hier für die Arbeitsweise gesagt wird, gilt ganz ebenso für den materiellen Aufbau von höherem tierlichen und menschlichem Gehirn.5)

Neu und emergent hinzu tritt beim Menschen "nur" die Konditionierungsebene des Verstandes, in der die Vorwahrnehmungen und Vorinterpretationen "synästhetisch" verbunden und mit einem eigenen Begriff – daher die große Bedeutung der Sprache – belegt werden. Dann aber von völliger "Neuschöpfung" aus 0D auszugehen, wenn der Verstand doch nichts anderes tut, als aus vorhandenen Einzelteilen ein "Paket" zu schnüren und mit einem eigenen "Etikett zu bekleben", scheint mir nicht anzugehen. Den Begriffen selbst eine "erfahrungsüberschreitende Eigenschaft" zuzusprechen (R8[31]) erscheint selbst wieder eine dualismusgefährdete Auffassung zu sein6) – Begriffe haben genau diejenigen Eigenschaften, die wir ihnen beilegen, und dies, wie gesehen, zum großen Teil unbewußt. (Und genau damit ist auch ein sehr großes "Aufdeckungspotential" gegenüber unseren eigenen Begriffen gegeben, wenn wir diese an Hand aller uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten reflektieren.)

(9) Objektivität wird hier nicht verstanden als die Erkenntnis des "Dings an sich", sondern als die Annäherung und das möglichste zur Deckung-Bringen zwischen geistigem Konstrukt und realer Existenz von Dingen in ihrer dem Interpretationsvermögen vorausliegenden Kommunikation – dies der Grund, warum sich Interpretationen der Vernunft immer durch den Verstand, Interpretationen des Verstandes immer durch die Emotio überprüfen lassen müssen. Die Sinne sind, wie sie sind, weil das sie Umgebende so ist, wie es ist – die Wirkungen des Umseienden haben das Vorhandensein von Sinnen erst ermöglicht; wie sollten die Sinne dann auf etwas anderes reagieren als auf jene realen Ursachen, die sie einst selbst hervorgebracht haben? Und wie hätten Interpretationsvermögen dieser Sinneswahrnehmungen in der evolutiven Selektion Bestand haben können, wenn sie nicht einen funktionierenden und förderlichen Konnex zu dieser Realität des Umseienden aufgewiesen hätten?

TA24 scheint davon auszugehen, daß alle Dinge, die vor dem Erscheinen des Menschen liegen, belebte und unbelebte Natur, keinerlei Dinglichkeit besäßen, sondern diese erst vom Menschen zuerkannt erhielten7). Umgekehrt wird ein Schuh daraus: die Natur hat sich bis hin und vor dem Menschen bereits sehr erhebliche und komplexe Wirkungsbeziehungen zugelegt, in der Organisches und Anorganisches notwendig aufeinander bezogen sind, ob hier ein dingwahrnehmender Mensch ist oder nicht. Der Mensch schafft nicht diese Kommunikation des Seienden, wie es vor ihm gegeben ist, sondern er interpretiert sie – dies im Widerspruch zu [5] von R8: der Mensch legt die Naturgesetze nicht willkürlich in der Natur hinein, sondern er holt sie hypothetisch tastend aus ihr heraus. Real ist diese Kommunikation, und "objektiv", sprich bewußtseinsunabhängig, auch wenn nur subjektiv interpretierbar – aber diese Subjektivität und die real gegebene Kommunikation des Seienden können immer mehr einander angenähert werden – insbesondere, da der Mensch bereits in vielerlei Hinsicht "Welthaftigkeit" = "objektive Realität" in sich trägt – nämlich all jene, mit der die Vorstadien des Menschen die reale Kommunikation durchführen. "Objektivität" meint hier also das zur Deckung bringen der subjektiven Interpretation des Menschen mit dem realen Kommunikationsverhalten von Seiendem.

Die Rückführung der Begriffsdynamik auf evolutionäre Gesichtspunkte ist in meiner Sicht daher kein "erweitertes Merkmal" und keine "sekundäre (objektive, GUW)Ebene" (R8[5]), sondern unabdingbare Voraussetzung, um auch noch die Rezeption und Reflexion, also die Möglichkeit der "Transzendenz der Begriffe" sowie das "Umgreifen der Erfahrung" überhaupt verstehen zu können.

(10) Mystik:
Nur vermittels einer evolutionär unverbundenen Begriffsdynamik kann es zu einer Auffassung von Mystik wie in TA24 und R8 ([30 ff.]) kommen, wenn sie verstanden wird als "eine extreme Form" des Errichtens "geistiger Strukturen innerhalb der unstrukturierten Erfahrung". Hier ist an das oben unter (2) Gesagte zu erinnern, daß Begriffsbedeutung immer bereits einen Bedeutungszusammenhang voraussetzt. Im Gegensatz dazu wird in R8[30] Mystik als "etwas Frühes, noch nahe bei der Matrix des unstrukturierten Ursprungs (des Umgreifenden)" aufgefaßt; also so, als ob auf diesem "mystisch unstrukturierten" Weg womöglich "richtigere" Anschauungen, oder "wissenschaftliche Durchbrüche" erzielt werden könnten – und weiter, daß eine naiv-wissenslose Verfaßtheit quasi sich noch vor der Subjekt-Objekt-Spaltung befinden könne. Weiteres Indiz für diese Auffassung HM’s ist, daß er mystische Erfahrungen insbesondere mit einem "nebelhaften oder benommenen Zustand" korreliert, mit "Inkubationsperioden" oder "Frustrationen".

HM will Mystik also offenbar so definieren, daß sich vom "unstrukturierten Umgreifenden" her Unbegriffliches und Unverstandenes in einem Individuum (wie auch immer) kundtut, das sich in einem Stadium "jenseits" der Spaltung von Subjekt und Objekt befindet, woraus sich dann offenbar im Rücktritt in die Spaltung neue Begriffenheit ergebe (sonst hätte nie ein Mystiker ein Wort seiner Erlebnisse zu schildern gewußt). Eine solche Auffassung ist m.E. einigen inneren Widersprüchen ausgesetzt:

a) Wie haben wir uns ein Individuum "jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung" zu denken? R8[30] legt nahe, daß Mystik als "etwas Frühes" einfach deshalb schon möglich sei, weil der Geist eines solchen Individuums selbst noch unstrukturiert sei (oder durch "Benommenheit" wohl "dekonstruiert") – es wird offenbar vermutet, daß so die "mystische Erfahrung" leichter eintrete. Versuchen wir uns einen realen Menschen in diesem Stadium vorzustellen, so wird dieser ja nicht "im Unstrukturierten" leben, sondern vielmehr von seinen instinktiven und emotionalen Vermögen beherrscht werden. Damit kämen wir aber genau zu jener falschen (und auch schon von Eckehart bekämpften) Auffassung, daß die Versenkung ins Emotionale mit Mystik verwechselt wird.

Wird Mystik aber als über die Subjekt-Objekt-Spaltung hinausgehend, diese transzendierend gedacht (also nicht in Richtung rückwärts ins Emotionale, sondern vorwärts), ist dies niemals aus einer naiv-unwissenden (oder durch "Benommenheit" "dekonstruierten") Konstitution heraus möglich, die das rationale "Ich" einfach "fallen läßt", sondern ganz im Gegenteil im bewußten Durchgang durch die Spaltung hindurch und über diese hinaus: als eine vor und über dem Individuum liegende "Einung" inklusive aller seiner ihn bildenden Vermögen, insbesondere also auch Verstand und Vernunft.

Und: ein solches Denken, das quasi einen "naiv freischwebend spaltungslosen" menschlichen Geist für möglich hält, ist zumindest stark dualismusgefährdet, weil es diesen Geist unverbunden und als "Eigenes" neben jene diesen Geist erst vorbegründenden Vermögen stellt.

b) Kein Wissenschaftler wird behaupten, er verdanke seine "Durchbrüche" einem solchen Fallenlassen ins Unbewußte; überhaupt wird man einen naiv-unwissenden Menschen wohl kaum mit einem Wissenschaftler vergleichen können (die Argumente HM’s scheinen sich hier also selbst zu widersprechen) – er wird bei seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vielmehr höchsten Wert auf die Anwesenheit von Verstand und Vernunft legen; unverstanden ist für das Individuum hier nur, "woher" ihm der gelungene Durchbruch "gegeben" worden sei. Es liegt hier psychologisch nahe, derartiges mystisch zu verrechnen, da man sich den Durchbruch nicht selbst als in einem bewußten Akt erzeugt zuzurechnen vermag. (s.a. oben (6) Poincaré bei Damasio)

Hier erscheint es aber völlig unnötig, zu mystischen Erklärungen zu greifen – wenn dies, wie gesagt, auch psychologisch naheliegend ist, insbesondere auch im Hinblick auf die mit der geistigen Erkenntnis einhergehenden somatischen "Sensationen", die sich ja auch bei der "Inspiration" des Künstlers beobachten lassen (s. etwa die Schilderung Nietzsches8)). Vielmehr lassen sich gerade Erkenntnis-Durchbrüche ausschließlich rational und ohne jede mystische Krücke erklären, indem im Wege der normalen "Gehirnmechanik" spielerisch und vorbewußt Assoziationen sich einstellen, die im Wege von gesuchten (oder ungesuchten) Analogiebildungen auf neuronaler Basis neue Einsichten ermöglichen – und welche Mechanik ja bereits unseren Verstand wie unsere Vernunft in ihrer normalen Funktionsweise überhaupt fundiert.

Im Gegensatz zur Meinung in TA24 und R8 sind solche Durchbrüche nach dieser Auffassung keinesfalls in irgendeinem "unstrukturierten Umgreifenden" möglich, sondern setzen jede Menge strukturiertes Wissen voraus, aus dessen Neukombination solche neuen Einsichten erst erwachsen können.

c) "Wenn man die begriffliche Basis erreichen will, muß man zurückgehen auf die Spaltung" (R8[30]) – in dieser Hinsicht bin ich mit HM völlig einig, aber keinesfalls im Hinblick auf den Ursprung der Mystik, sondern im Hinblick auf die Entstehung des menschlichen Geistes überhaupt; denn hier haben wir es genau mit dem Übergang vom Tier zum Menschen zu tun. Ersteres kennt keine Subjekt-Objekt-Spaltung, weil es keinen reflektierenden Verstand besitzt; vielmehr kennen (höhere Säuge-)Tiere nur ein Empfindungsbewußtsein aus ihrer reflektierenden Emotio. Allerdings ist in der Reflexion der Emotio, also dem Selbstempfinden des limbischen Systems, bereits "dunkel" die Wurzel zu jener "Spaltung" gelegt, die als Verstand hell aufscheint und nur in dieser "Spaltung" das Menschsein erlaubt.

Die Basis der Begriffe liegt hier nicht im 0D vom Umgreifenden her, sondern verdankt sich den Vorvermögen (s.u. zu E.v.Glasersfeld) sowie der neuartigen Verbindung derselben, die zusammen mit der Entwicklung des Sprachzentrums den Verstand ausmacht. Letzteres ist es, was die Konstruktion des menschlichen Gehirns hauptsächlich von dem der sonstigen Hominiden unterscheidet (Broca- und Wernicke-Zentrum).

Hinzukommt: der frühe Mensch wie heute noch der Säugling im Zeitpunkt des rezeptiven Spracherwerbs leben noch nicht in der Subjekt-Objekt-Spaltung; dies läßt sich etwa daran ablesen, daß in diesem Zeitpunkt, vor der Leitungsübernahme des Verstandes, das Kleinkind noch kein eigenes "Ich" kennt, sondern von sich selbst (unter Führung der Emotio) in der dritten Person spricht, indem es von sich selbst mit dem ihm entgegengebrachten Namen redet. Mit dem "Ich" tritt die "Spaltung" ein; nach Aussagen aller ernstzunehmender Mystiker muß deshalb auf dem Weg zur "unio mystica" zunächst dieses "Ich" "vernichtet" werden – wozu etwa der "Edle Pfad" Buddhas dient. Dies setzt aber voraus, daß dieses "Ich" und die Subjekt-Objekt-Spaltung zunächst einmal vorhanden sein muß. Es kann also keine Rede davon sein, daß eine apriorische oder durch "Benommenheit" auftretende "Ichlosigkeit" in irgendeiner Weise etwas mit Mystik zu tun haben könnte. Vielmehr führt dies nur zur Bewußtlosigkeit, der Aufhebung des menschlichen Bewußtseins an sich, wo es der Mystik um die Überwindung des "Ich"-Bewußtseins geht, und zwar unter höchster Anspannung dieses menschlichen Bewußtseins.

d) Nach meiner Auffassung ergibt sich die Möglichkeit der Mystik am genau entgegengesetzten Entwicklungspunkt, und zwar für Verstand und Vernunft in je eigener, aber paralleler Weise: im Moment der individuell erlebten Leitungsübernahme dieser Vermögen nach ihrer individuellen Rezeption (woraus sich beiläufig ergibt, daß auch noch Mystik die Subjekt-Objekt-Spaltung voraussetzt, und deshalb nach hiesiger Terminologie in der "Einung" besteht). Denn erst in diesem Moment eignet sich dieses vollrezipierte Vermögen im Individuum die auf seine Weise sichtbar gewordene Welt vollständig an, sieht sich in völliger Parallelität zu und in dieser Welt und in einem (aus diesem Vermögen erwachsenden) lebendigen Bezug zu derselben – genau dies aber ist das Erleben der "Einung", der von allen Mystikern geschilderte "Durchbruch" mit seinen persönlichkeitswirksamen Folgen einschließlich somatischer Sensationen (welcher Durchbruch ein ganz anderer ist als derjenige in der Wissenschaft).

Dies alles aber ist niemals möglich in einer rezeptiven 0D-Phase, in der das Individuum weder sich selbst noch die (der Vermögenssicht entsprechende) Welt kennt – vielmehr wird in solchen Phasen die Welt ausschließlich phantastisch mißinterpretiert, wie uns die Rezeptionsphasen von Verstand (etwa Animismus) und Vernunft (griechische Naturphilosophie) zeigen.

Beide Formen der Mystik sind heute, nach der Durchreflektierung von Verstand und Vernunft, phylogenetisch überholt, aber natürlich in der ontogenetischen Wiederholung nach wie vor möglich9) (einschließlich Mischformen beider, je nach leitendem Vermögen).

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zu Ernst von Glasersfeld C18<12ff>

(11) Es soll hier versucht werden, die dort von EvG angeregte Verbindung zwischen der Unterscheidung von Verstand und Vernunft sowie den "epistemologischen Erörterungen" Piagets herzustellen, da EvG ein solches Konzept selbst für möglicherweise hilfreich ansieht. Ich hoffe dies, in zwei Schritten zu leisten:

– Was könnte in diesem Sinne eine 0D-Matrix bedeuten?
– Verbindung der Wahrnehmungspsychologie Piagets mit der Begriffsdynamik auf evolutionärer Basis

(12) 0D-Matrix
Hier scheint mir von außerordentlicher Wichtigkeit der von EvG eingeführte Begriff "recognition matrix", der im weiteren auch im Plural als "matrices" begegnet; in welchem Zusammenhang sollen nun diese beiden: 0D-Matrix und "recognition matrix" stehen?

Dazu zunächst eine Rückführung auf die beiden möglichen Wortbedeutungen, die sich im Deutschen einmal als "Matrix", zum andern als "Matrize" angeben läßt. Es ist für die hiesige Diskussion von ausschlaggebender Wichtigkeit, welchen der beiden Gehalte man verwendet; beide Begriffe gehen aus vom lat. "matrix", das sowohl "Hohlform" als auch "Mutterboden" bedeuten kann. Scheint mir bei der 0D-Matrix jene Bedeutung des "mütterlich Hohlen" im Vordergrund zu stehen, so weist der Begriff Matrize, wie er von EvG als "Wiedererkennungsmatrize" vewendet wird (und von mir schon seit vielen Jahren verwendet wurde10)), eher auf jene "hohle Gußform", die insbesondere eine "Mutter von Kopien" ist.

Schlägt ersterer Begriff in seiner Verbindung mit dem "jenseitigen Umgreifenden" (wobei sich "Herkunft"/"Mütterlichkeit" sowie "Unstrukturiertheit"/"Hohlheit" zu jenem "Umgreifenden" zusammenfügen) und der damit verbundenen Verweigerung der Rückführung auf immanente Empirie sehr leicht in falsche Metaphysik und Dualismus um, so läßt sich letzterer zwanglos mit Piaget und meinen eigenen Vorstellungen verbinden.

(13) In C18 <14ff.> wird die Wahrnehmungstheorie von Piaget geschildert, ohne daß dabei genau unterschieden wird, welche Interpretationsebene jeweils tätig ist. Die Sensorik einerseits und ihre vegetativen, instinktiven und emotionalen Interpretationen andererseits werden nicht geschieden. Insofern ist dieses Modell unstrukturiert und läßt etwas ratlos, wie es mit dem funktionalen Aufbau des Gehirns und den beobachtbaren Leistungen desselben verbunden werden könnte. Andererseits lassen sich diese Feststellungen Piagets und ihre theoretische Einordnung wiederum problemlos mit der hier vertretenen Auffassung verbinden.11)

Wie die Neurobiologie lehrt (und wie es ebenso phänomenale Beobachtung und Introspektion zeigen), haben wir es bei der "Dingwahrnehmung" und "-speicherung", auf die ich mich hier zunächst beschränken will, bereits mit einem sehr komplexen, parallel und seriell interpretierenden Vorgang unter Beteiligung all der soeben genannten Interpretationsebenen zu tun, die bei der Wahrnehmung sämtlich aktiv beteiligt sind.

a) Ein erster wichtiger Punkt dabei ist sicherlich dasjenige, was von EvG (und mir) mit "Wiedererkennungsmatrize" angesprochen wird; dieses Verfahren wird das Leben aber bereits lange vor dem Menschen erworben haben, da selbst die Ebene des Instinkts in Form von Schlüsselreizen bereits eine solche Wiedererkennung notwendig voraussetzt (wenn dort die Matrizen auch noch genetisch erworben und weitergegeben werden). Unter Matrize wird hier ein gespeichertes neuronales Muster verstanden – damit ist eine "reduzierte Kopie" des in Impulse umgesetzten Sinnessignals gemeint, die sich insbesondere auf die für das jeweilige Sinnesorgan "vorspringenden" Anteile der Wahrnehmung stützt –, das mit den neuronalen Sinnesimpulsen einer aktuellen Wahrnehmung verglichen werden kann und dann im Falle des Instinktes bei Gleichheit12) die entsprechende Reaktion auslöst. Diese Muster sind bereits im Falle des Instinktes jeweils den einzelnen Sinnen und deren Speicherzentren zugeordnet. Solche Matrizen sind mithin neuronale Repräsentationen für im Außen Begegnendes, auf das jenes Lebewesen in seiner aktiven und passiven Kommunikation mit dem Umseienden verwiesen ist. Des weiteren verfügen Lebewesen spätestens seit der Entwicklung des Instinkts über eine kartierte Repräsentanz des eigenen Körpers in Form von solchen Matrizen für die Zuordnung der Sensationen des Tastsinnes. Die Abspeicherung solcher Sinnesimpulse erfolgt grundsätzlich sicherlich in Impulsmustern mittels Synapsenverbindung beim zugehörigen Sinneszentrum.

b) Über das Instinktsystem entwickelt sich vertikal (zunächst als dessen Hemmung) das emotionale (limbische) System der Empfindung. Dieses System arbeitet zunächst so, daß neuronale Matrizen von individuellen Wahrnehmungen selbständig gespeichert werden können, zunächst im Dienste des Instinkts (das erste begegnende "Ding" wird von der neugeborenen Gans als "Mutter" konditioniert, notfalls auch ein Ball). Insbesondere in der individuellen Speicherung der Sensationen des Tastsinnes sowie der vegetativen Innensignale des Körpers (für die, soweit sie "lebenswichtig" sind, das neue Zentrum "geöffnet" sein muß) wird so das Emotionalsystem rezipiert, das schließlich ein eigenes "Zentrum", eine eigene Bewertung und die erste Form des Bewußtseins als Empfindungsbewußtsein ausbildet. In der Reflexion dieses Zentrums werden die Informationen der Vorsysteme sowie der Emotio-Rezeption aufgespalten zum Zwecke einer eigenen Interpretation, die auf die Intensität des jeweiligen Sinnessignals prüft ("Emotio-Potentiometer" im Abgriff der Neurotransmitter). Auf diese Weise ermöglicht das emotionale System die individuelle Prüfung und Speicherung von den Sinnen entsprechenden Eigenschaften der "Dinge"13) sowie individuelles Lernen (tierliche Tradition; eigenständige "Matrizen" und Bewertungen des Emotio-Systems in vertikaler Vernetzung der Sinneszentren).14)

c) Diese "Vorgeschichte des Verstandes"15) entspricht in etwa denjenigen Voraussetzungen, die sich bei Piaget herauslesen lassen ("the successive construction of repetitions, regularities, and rules as the first and primary method in the development of perceptual and conceptual structures"; "recognition matrix") – ohne daß uns bis dahin der Verstand selbst zu Gesicht gekommen ist: das Wiederkennen von Strukturen und Eigenschaften, das Lernen durch Wiederholen, interaktive Laut-Kommunikation und Empfindungsbewußtsein (als Verbund aktiver Neuronal-Netze) sind alles tierliche Leistungen, auf denen der Verstand aufsetzt.

Der menschliche Verstand selbst wird in <14>a-d hauptsächlich in zweierlei Hinsicht angesprochen im Hinblick auf Leistungen, welche die tierlichen übersteigen:

– "The simultaneous availability of several different sensory elements in one experiential 'frame'".
– "when the child is able to re-present the object to him- or herself WITHOUT the actual presence of the contained sensory elements. This ability is, in fact, the last and most important condition for the conception of 'object permanence'."

Die erste Fähigkeit setzt bereits die Ding-Erkenntnis voraus, zumindest diejenige des rezipierenden Verstandes, hingegen wird für die zweite Fähigkeit bereits die Reflexion des Verstandes benötigt.

Genau jene erste Fähigkeit bildet in meiner Hypothese das, was Verstand ausmacht: die "Synästhesie" als die Verbindung verschiedener Eigenschaften zum zugehörigen "Wirkungsträger" dieser Eigenschaften16) bilden die Dinge aus, die mittels Sprache als solche konditioniert und miteinander (und nebeneinander) verbunden werden und damit als Sachverhältnis den Sachverhalt ergeben.

Die sprachliche Stellvertretung der sinnlichen Piktogramme (Matrizen) bedeutet das Erreichen der Reflexion des Verstandes, der nunmehr in eigener Aktivität auf dem sich vom Empfindungs- zum Verstandesbewußtsein verwandelnden eigenständigen Neuronalbereich sich der Matrizen seiner Vorvermögen und in deren Verkürzung auf das jeweils "Hervorspringende" eines Wirkungsträgers mittels dessen "Namen" bedient (das Lautmalerische der Sprachen stammt genau daher, daß jener "Name", in dem das "Ding" "begriffen" wird, möglichst eine bestimmte "Dingwirkung", wie sie sich den Sinnen, insbesondere dem Gehör zeigt, nachahmt). Das reflexive "Nachstellen des Realen" in reiner Innenrepräsentanz (wie in <14>c gefordert) wird durch die Aktualisierung der entsprechenden Matrize erreicht, die bei dieser Aktualisierung (ganz ebenso wie bei der Wahrnehmungsaktualisierung) das entsprechende "Verschlüsselungszentrum", mit dessen Hilfe die Matrize als Impulsmuster angefertigt wurde, umgekehrt als "Entschlüsselungszentrum" durchläuft – wofür wohl der Thalamus zuständig ist – und damit im Bewußtsein unter Tätigwerden des entsprechenden Sinneszentrums denjenigen "Eindruck" hervorruft, wie ihn einst die aktuelle Wahrnehmung lieferte (und so weit für diese Einzelheiten gespeichert sind).

Dieses reflexive Verstandesbewußtsein repräsentiert die Wirklichkeit, ist aber nicht mit dieser identisch (und es bewegt sich immer in einem minimalen zeitlichen Verzug zur Wirklichkeit selbst, insofern die Repräsentationsvorgänge Zeit erfordern). Diese Nichtidentität folgt vor allem auch daraus, daß nicht nur Sinneswahrnehmungen und -interpretationen a priori zunächst nur innerhalb bestimmter geöffneter Bandbreiten möglich sind, etwa beim Licht; sondern noch mehr daraus, daß im Durchgang durch die Interpretationssysteme phylogenetische und individuelle Vorkonditionierungen interpretativer und wertmäßiger Art mit eingehen, aus denen unser "Bild der Welt" erst entsteht.

Die Gefühle des Menschen (im Unterschied zu den Empfindungen, die wir mit den Tieren teilen) erstehen aus der Verbindung und der Zusammenarbeit von Verstand und Emotio: die emotionalen Bewertungen, die bei den Empfindungen in direktem Zusammenhang mit den einzelnen Sinnen stehen, werden bereits beim rezeptiven Verstand auf dessen Dingfeststellungen übertragen und im neuronalen Bereich des Verstandes mit abgespeichert – daher ist der Gefühlsabhängigkeit des Menschen und deren früher Konditionierung so schwer beizukommen.

d) Vertikal zum Verstand (parallel wie jener zur Emotio, aber innerhalb des "auf Vorschuß" recht großzügig bemessenen menschlichen Neokortex) erhebt sich die Vernunft als eigenständiges Vermögen, die jenem die soeben mittels der "Synästhesie" der Sinnes-Matrizen erworbene reiche Ding-Wirklichkeit (die ja meist als empirische und "sinnliche" Wirklichkeit mißverstanden wurde und wird) sogleich wieder entzieht, indem sie auf die strukturbildenden Merkmale der Matrizen allein abstellt, das "Wesentliche", wie es sich als Wiedererkennungsmuster in den Piktogrammen des Verstandes vorfindet und diese wiederum eigenständig konditioniert und auf dieser abstrakten "Wesensebene" miteinander verbindet. Auf diese Weise entstehen zwar die Naturwissenschaften und die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten in der Natur sowie die Ethik17), aber gleichzeitig wird (zunächst) aus dem (angeblich) "bloß Seienden" (das selbst schon ein höchst zusammengesetztes Interpretationsergebnis war) (angeblich) das "wahre Sein", das "ontologische Wesen", "Hochreligion" und Metaphysik (und natürlich auch die Philosophie ...)

Nach dem Abkassieren der fehlerhaften Vernunftergebnisse mittels Selbstreflexion und Rückführung auf deren Basis (mittels eines richtigen Reduktionismus, der gleichzeitig die Möglichkeit der Emergenz beinhaltet), stehen wir heute am "Ende der Metaphysik", haben damit aber gleichzeitig die Chance, die jeweiligen Systemleistungen von Verstand und Vernunft in Realitätsinterpretation und Wertsetzung miteinander zu verbinden anstatt sie, wie in den letzten 2500 Jahren, einander entgegenzusetzen.

Anmerkungen:

1) Wie gesagt, schrieb Heidegger dies später nurmehr als durchgestrichenes "Seyn", nicht um eines "Verbotes" willen, sondern da sich dieses Seyn, identisch mit dem "Heiligen", in unseren Zeiten nicht zu erkennen gebe, s. dazu den "Humanismusbrief".

2) Der Fehler Hegels liegt meiner Auffassung nach allerdings darin, daß er diesen "Rahmen" idealistisch formuliert, von einem vorgegebenen "Geistigen" her, insofern Aristoteles verhaftet (s. C11<11>); hier wird dieser Rahmen ganz entgegengesetzt evolutionär gesehen: der Verstand schafft Geistiges, indem er die Interpretationen der Vorvermögen zusammensetzt (Ding). Vernunft wiederum deckt Strukturen auf, indem sie allein auf die piktografischen Speicherungen des Verstandes abstellt (die "Synästhesie" aus den Speicherungen der den Verstand begründenden Vorvermögen, die dazu ihre jeweiligen piktografischen Speicherungen zuliefern – "Piktogramme" sind dabei jene einzelsinnlichen Abspeicherungen, welche bei ihrem Aufruf im Durchgang durch den Thalamus die Rekonstruktion einer Wahrnehmung erlauben) – und diese zueinander in Beziehung setzt (Wesen).

3) Hier wäre auch die Frage am Platze, ob unser Gehirn nicht überhaupt so "vor-konstruiert" ist, daß es mit einer mehrwertigen Fuzzy-Logik arbeitet und es auf eine 100%-ige Übereinstimmung wie in der zweiwertigen Logik bei der Feststellung der Übereinstimmung von Wahrnehmung und Realität gar nicht abgesehen ist. Gerade in der "Synästhesie" des Verstandes als der gleichzeitigen Auswertung mehrerer Sinnesparameter im Hinblick auf eine "Dingwahrnehmung" würde das Arbeiten mit einer zweiwertigen Logik (vollständige Übereinstimmung ja/nein) sowohl im Hinblick auf die Identifikation überhaupt wie auch im Hinblick auf die Arbeitsgeschwindigkeit eher hinderlich sein. Als Hinweis darauf können wir das Schwanken von Interpretationsmustern ansehen, die sich bei bestimmten Strukturen nicht eindeutig zum Stehen bringen lassen, sondern von weiteren Parametern abhängig sind. Gleichzeitig könnte eine solche Fuzzylogik auch Grundlage der Analogiebildungen des menschlichen Gehirns sein, da sich auf diese Weise auch Ähnlichkeiten geltend machen müssen, selbst wenn nicht alle Parameter einer Wahrnehmung eine entsprechende Übereinstimmung aufweisen.

4) (Heidegger, Nietzsche Bd. I, S. 567, Verl. G. Neske, Pfullingen 1961, 4. Aufl.)

5) Grundkurs Neurobiologie G1 (Universität Bremen / Prof. Dr. G. Roth): Die tatsächliche oder angebliche geistig-kognitive Überlegenheit des Menschen gegenüber den Tieren wird häufig auf die Einzigartigkeit seines Gehirns zurückgeführt. Allgemeinbiologisch sowie neurobiologisch gesehen ist dies nicht gerechtfertigt. Genetisch sind Mensch und Schimpanse enger miteinander verwandt als Schimpansen mit Gorillas. Auch verhaltensbiologisch sind Menschen typische Schimpansen. Das Gehirn des Menschen unterscheidet sich in seinem Aufbau nur unwesentlich von dem anderer Primaten und ist darüber hinaus ein typisches Wirbeltiergehirn (s. oben). Es ist ziemlich groß (rund 1.4 kg), aber bei weitem nicht das größte Gehirn (Elefantengehirne sind bis 5 kg, Walgehirne bis 9 kg schwer). Es ist relativ zur Körpergröße sehr groß (2% der Körpermasse) und zwei- bis dreimal so groß wie bei einem Menschenaffen gleicher Größe, aber Delfingehirne kommen diesen Verhältnissen sehr nahe. Die relative Größe und die Zahl der Windungen der Großhirnrinde des Menschen entspricht dem Durchschnitt der Säugetiere; ob der Mensch einen relativ größeren Assoziationscortex bzw. einen präfrontalen Cortex hat als andere Primaten, ist umstritten. In jedem Fall wird der Mensch darin absolut und relativ von Elefanten, Delfinen und Walen übertroffen. Es gibt auch keine vernünftige Erklärung dafür, welche Bedeutung die relative und nicht die absolute Größe des Gehirns, der Großhirnrinde, des assoziativen Cortex usw. haben könnte. Größere Gehirne beinhalten mehr Nervenzellen (wenn auch die Zahl unterproportional zur Gehirngröße ansteigt), und dies sollte es sein, was zählt.

Der zelluläre und neurochemische Aufbau der Großhirnrinde des Menschen unterscheidet sich nicht von dem anderer Primaten. Das Vorhandensein eines für Sprachbedeutung zuständigen Zentrums (Wernicke´sches Sprachzentrum) bei Primaten gilt als erwiesen. Funktional gesehen ist der einzige Unterschied zwischen Menschen und nichtmenschlichen Primaten das Vorhandensein oder die starke Weiterentwicklung eines Sprachzentrums, das für Grammatik/Syntax der Sprache zuständig ist (Broca´sches Sprachzentrum). Dies würde mit der Tatsache übereinstimmen, daß Menschenaffen auch bei intensivem Training und der Verwendung nichtvokalisierender Sprachen (Gebärdensprache, Symbole usw.) über eine nicht-syntaktische oder rudimentäre syntaktische Sprache verfügen, wie sie für Kinder im Alter zwischen 2 und 3 Jahren typisch ist. Im dritten Jahr beginnt die linke Seite des präfrontalen Cortex , wo sich das Broca´sche Sprachzentrum befindet, zu reifen (es scheint das am spätesten ausreifende Areal im menschlichen Gehirn zu sein). Um das Ende des dritten Jahres nimmt die Entwicklung einer syntaktischen Sprache beim Kleinkind schnell zu. Auch wenn die komplexe, syntaktische Sprache des Menschen kein völliger evolutiver Neuerwerb sein sollte, so ist doch klar, daß sie die kognitiven Fähigkeiten des Menschen gegenüber denen der Tiere stark erhöhte, insbesondere hinsichtlich des abstrakten Denkens und der Handlungsplanung. (Quelle: Internet – Universität Bremen)

6) Erinnert das nicht an Hegel und die Kierkegaard-Kritik an diesem? – Auch dort waren es bereits die Begriffe, aus deren "hölzerner Maschinerie" (K.) sich das Neue und zuletzt der "Weltgeist" selbst entbergen sollte.

7) Bezeichnet man die "Dingwelt" des Menschen als eine rein subjektive, der nichts Reales korrespondiert, so gerät man allerdings in die Gefahr, daß sich nicht nur die "Objektivität", sondern auch noch die Realität selbst auflöst wie bei George Berkeley ("esse = percipi").

8) Ecce Homo. Also sprach Zarathustra, Nr. 3, Inspiration:

– Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andren Falle will ich's beschreiben. – Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Tränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein unvollkommnes Außer-sich-sein mit dem distinktesten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fußzehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung ... Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit ... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichnis ist, alles bietet sich als der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustras zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnis anböten (– »hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichnis reitest du hier zu jeder Wahrheit. Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen –«). Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende zurückgehn muß, um jemanden zu finden, der mir sagen darf »es ist auch die meine«. –

9) Reinformen der Vernunftmystik würde ich etwa in Buddha und Eckehart erblicken; hingegen mischen sich etwa bei Paulus und Augustin Verstandesanteile ein – für ihre Mystik ist durchaus auch bedeutsam, was sie selbst und für sich selbst brauchen können.

10) (HW, KdI 1993): "Die Kurzzeitfunktion des Bewußtseins steht in einem sehr engen Zusammenhang mit der schematisch zu fordernden Ver- und Entschlüsselung von Sinnessignalen seitens der Sensoren wie aus dem Gedächtnis: die "Datenaufbereitung" (Ver- und Entschlüsselung) wie auch die gebrauchsfähige Darstellung derselben sind das Ergebnis wenn nicht eines, so doch direkt aneinandergrenzender Prozesse. Hypothetisch: das Kurzzeitgedächtnis vermittelt die Signale zum Langzeitgedächtnis, wozu es eine erste "Muttermatrize" der aufbereiteten Signale herstellt; von daher wäre am ehesten wohl so zu definieren, daß Kurzzeitgedächtnis und Bewußtsein identisch sein sollten? Denn offenbar geschieht die Ver- und Entschlüsselung vorher? Mit dieser Matrize kann das Bewußtsein arbeiten, je nachdem, was die entgegenkommende Wiedererkennung samt den in ihr enthaltenen Bewertungen über die Daten aussagen: Latenz, Interesse, sofortige Bearbeitung im "Rechenzentrum" oder reflexhafte Reaktion sind die Folge. Die Konditionierung des Langzeitgedächtnisses (Lernen) scheint dabei auf zweierlei Art möglich: entweder durch eine Verstärkung und Gewöhnung (Wiederholung) des Signales aus dem Kurzzeitgedächtnis, oder aber mittels einer starken Bewertung durch das individuelle Steuerzentrum. Ab einer bestimmten Stärke der Beimischung von Positiv- oder Negativ-Bewertung (sei es durch die momentane Situation oder durch eine Vorbewertung aus dem Gedächtnis) wird das Langzeitgedächtnis ein solches durch die Sinneswahrnehmung aufgenommenes Ereignis ohne wiederholende Einübung direkt speichern, weil dies Ereignen frisch und kräftig bewertet wird (also für das Individuum wichtig ist), und/oder weil es in einem direkten Zusammenhang mit dem Steuerzentrum steht, sei es in Form intellektueller Grenzwerte, des Ich oder Ich-Ich. Daraus ist ersichtlich, daß wir ab der Stufe der Reflexion der Vernunft, in welcher wir über die emotionale Bewertung hinausgelangen und die Wertung ins bewußte Ich/Ich-Ich bekommen, Herr unseres Gedächtnisses zu werden vermögen, indem wir die in ihm liegenden emotionalen Vorbewertungen reflektieren und gegebenenfalls löschen oder ändern; sowie dadurch, daß nunmehr Neubewertungen und deren direkter Zugang zum Gedächtnis nur im Zusammenhang mit der überemotionalen und bewußten Bewertung des jeweiligen Steuerzentrums möglich sind. Diese "Durchmusterung" der bei emotionalen Menschen meist unbewußten Gedächtnisinhalte ist es, auf welche es die Psychoanalyse abgesehen hat: weil der Mensch im Falle von Verdrängungen und Illusionen nicht Herr seiner selbst ist, sondern, wenn Verdrängungen zentrale "Personal"-Bereiche betreffen – und nur dann kann man eigentlich von solchen sprechen – im Zwiespalt mit sich selbst ist.

Am Rande: Da wir sehr viele Informationen gleichzeitig und mit verschiedenen Sinnen aufnehmen, werden wir im Gedächtnis mehr an anhängender Information speichern, als wir selbst, das Ich, bei der Wahrnehmung im Bewußtsein bemerkt haben, da das Wahrgenommene immer nur eine Auswahl des uns Angehenden und Vorspringenden des Gegenstandes ist. So können auch Nebenumstände, ohne daß wir davon bewußt wissen, ins Gedächtnis gelangen und gelegentlich der Erinnerung einer Hauptsache mitauftauchen. Nicht jedoch wird man sich willentlich solcher Nebenumstände erinnern können, denn deren wiedererkennbare verschlüsselte Impulse fehlen auf dem oberen Karteireiter-Gedächtnis, vielmehr ist diese Information nur auf der Karteikarte enthalten, so daß hier, wenn entsprechende, die Information abtastende Signale das Karteireiter-Gedächtnis abgreifen, für jene Nebeninformation keine Oberkennung vorhanden ist.

Rekapitulation: das Kurzzeitgedächtnis läßt sich einer ständig erneuernden Matrize vergleichen, in der einerseits der Inhalt der Sinneseindrücke, andrerseits der entgegenkommende und durch die Sinnesimpulse mitaufgerufene Gehalt der Erinnerung miteinander gemischt und als neuronale Vernetzung vorübergehend "eingeritzt" werden. Durch das Rechenzentrum des Bewußtseins in Verbindung mit dem Steuerzentrum des Individuums wird entweder eine direkte, weil wichtige Abspeicherung im Langzeitgedächtnis vorgenommen, oder durch willentlichen Entschluß ein Lern-/Gewöhnungs-/Konditionierungsvorgang eingeleitet, der ebenfalls zu einer Speicherung im Langzeitgedächtnis führen kann.

Hypothese: das bei den Tieren horizontal aneinanderreihende (additive) Gedächtnis, das sich auf bewertende Empfindungen stützt, wird beim Menschen vertikalisiert. Diese Fähigkeit zum vertikalen Aufspalten der Information ist identisch mit der Abstraktionsfähigkeit des Verstandes und führt zur Spezialisierung der Hirnhälften in links/rational und rechts/emotional. Interessant dabei ist, daß räumliche und bildhafte Vorstellungen in der rechten, emotionalen Hälfte angesiedelt sind; sie stehen offenbar der inneren und unbewußten Wahrnehmung näher. Auch werden diese Informationen schon auf tierischer Empfindungsebene von großer Wichtigkeit sein, denn sie müssen schnell und direkt erfaßt werden. Andrerseits setzt die rationale Betrachtung die Zeit zu eben dieser Betrachtung voraus, weil die Ratio eine Hemmung der Emotio ist, und sich aus einer anderen Fähigkeit herausentwickelt: der Verbalisierung (Kombination von Piktogramm und Sprache) und dem sozialen Kontakt. Der Verstand heißt deswegen so, weil er versteht; dieses neuartige Verständnis dient zunächst der besseren Organisation der Gruppe. Verstand baut auf und benutzt die schon im tierischen Bereich vorhandene Fähigkeit, sich zu verständigen. Verbalisierung ist identisch mit Vertikalisierung."

11) Zur Verdeutlichung meiner Ausführungen ist meine schematische Grafik [denken2.jpg - engl.] beigefügt, die Schichten, Vermögen und Phänomene der menschlichen Gehirnleistung zu parallelisieren versucht.

12) Bereits hier taucht die Frage der "Fuzzylogik" auf, ob für solche Impulswiedererkennungen absolute Gleichheit notwendig ist oder ob nicht bereits eine Teilübereinstimmung in Höhe eines "Mindestprozentsatzes" zur Reaktionsauslösung ausreicht.

13) Auch Seheindrücke ("Bilder") sind auf dieser Ebene lediglich Eigenschaften, die sich im Umseienden kenntlich machen – daher die vielen Mimikry-Veranstaltungen in der belebten Natur.

14) Diese Auffassung der Emotio sollte sich in etwa damit decken, was Damasio unter "somatischen Markern" versteht.

15) Auf viele noch beizubringende Einzelheiten mußte zwecks der gebotenen Kürze natürlich verzichtet werden.

16) So sehe ich etwa die heutigen Menschenaffen und die dem homo sapiens sapiens vorlaufenden Hominiden als Rezeptionsformen dieses Verstandes, denen aber offenbar ein unabdingbarer Hauptbestandteil, die Sprache, fehlte, während sie auf dem Wege der "Synästhesie" sicherlich bereits weit fortgeschritten sind.

17) auf Grund der Erkenntnis des gleichen Wesens aller Menschen ...

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