Deutsche Übersetzung zum englischen Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.mcgill.ca/douglas/fdg/kjf/)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM TA24 Commentary 18 (on Muller's TA 24,... and other postings)
ON THE CONCEPT OF 'BEING' FROM A ZERO-DERIVATION PERSPECTIVE
by Ernst von Glasersfeld

KARL JASPERS FORUM TA 24

Kommentar 18
(zu H. Muller's TA 24 und anderen Einsendungen)
von Ernst von Glasersfeld 14. Juni 2000, versandt 27. Juni 2000
Zum Konzept des "Seins" und zur Perspektive der Null-Ableitung

...

<11> In seinem Kommentar zu meinem TA 17 schlägt HM zwei Arten von Transzendenz vor: (a) "metaphysisch" à la Plato, was den Anschein erweckt, eine wissbare Beziehung zwischen Begriffen und dem Gebiet jenseits der Erfahrungsgrenze zu begründen; (b) die "Transzendenz" von Konstrukten wie etwa permanente Objekte, die innerhalb angehender unstrukturierter Erfahrung konstruiert wurden, als auf keiner früheren Struktur aufbauend, bezeichnet als "Null-Ableitung". Typ (a) liegt außerhalb der rationalen Sphäre, die den Konstruktivismus interessiert. Aber Typ (b) kann untersucht oder auf seinen eigenen unstrukturierten Ursprung hin "dekonstruiert" werden (TA17-C9<3>) – und dazu möchte ich einen möglichen Weg vorschlagen.

<12> Das Thema begegnete als erstes bei Platons berühmten Höhlengleichnis, das von Helmut Walther in die Diskussion eingeführt wurde (TA24, C11). Darauf Bezug nehmend kann ich meine Sicht der unstrukturierten Basis der Erkenntnis weiter klarstellen.

HW’s deutscher Text sagt: "Übereinstimmend mit Platon sind ein Wissen vom "Guten, Wahren und Schönen", der "Himmel der Ideen" und ihre Rangordnung nicht einsehbar für gewöhnliche Sterbliche (Höhlengleichnis); aber der "Weise" kann sich mit Hilfe des Rückzuges von der flüchtigen, schemenhaften Realität und unter Konzentration auf die präkonstruierte wahre Welt (GUW), sowie im mystischen Kontakt (Eros) vielleicht diesen annähern." (TA24,C11<10>).

Hier muß zur Kenntnis genommen werden, daß Plato eine gottähnliche Sehweise unterstellt und zu wissen behauptet, was jenseits der Erfahrung liegt. Das nämliche Ergebnis folgt aus seinem Höhlengleichnis, weil es einschließt, daß die gefesselten Menschen die Schatten auf die Mauer der Höhle projiziert sehen, und daß die schattenhaften Repräsentationen der FIGUREN und EREIGNISSE im Licht der Sonne tatsächlich existieren. In epistemologischer Hinsicht wäre die Metapher adäquater, wenn Plato gesagt hätte, daß das, was die Menschen sehen, eine Verwirrung sinnlicher Elemente sei, die sich beim Koordinieren und Konfigurieren einstellt im Versuch, erfahrbare Erscheinungen zu formen.

In gleicher Hinsicht würde ich einen Teil von HW’s Interpretation des Aristoteles (TA24. C11<11> modifizieren. Anstatt "Für uns Menschen liefert die sinnliche Welt die ‚Vorstellungen‘ (ein Wort, das Präsentation, Vorstellung, Idee oder Begriff bedeuten kann) würde ich sagen, daß es uns die sinnliche Welt erlaubt, diese Vorstellungen zu bilden.

Beides mag als kleinliche Modifikation erscheinen, aber von meinem Standpunkt aus legen sie den Ausgangspunkt fest dazu, was ich "Begriffsdynamik" nennen würde, d.h., vermutende geistige Prozesse, welche die Begriffe hervorbringen, die es uns wiederum erlauben wahrzunehmen und reichere begriffliche Strukturen aufzubauen, die wir "Wissen" nennen.

<13> In seinem reichhaltigen und fundierten Kommentar unterscheidet HW den Begriff Vernunft von dem des Verstandes (TA24, C11<18>). Er schreibt: "Es ist die hauptsächliche emergente Systemleistung der Vernunft, das Wesen der Dinge aus der Gesamtheit ihrer wesentlichen Eigenschaften zu gewinnen; die Hauptcharakteristik des Verstandes liegt in seiner Funktion, die Daten der einzelnen Sinne zu verbinden und daraus den Begriff zu formen (und sie außerdem unabhängig zu speichern als eine Mischung von sinnlichen ‚Eindrücken‘)" (TA24 C11, Arnm. 3).

Ich bin sehr für eine solche Unterscheidung und habe den Eindruck, daß dies helfen könnte, die Entwicklung der Begriffe zu verstehen; aber da HW’s Definitionen von Vernunft und Verstand für mich nicht transparent genug sind, um diese Begriffe in dieser Weise vertrauensvoll zu gebrauchen, würde ich diese Anwendung ihm überlassen, wozu ich versuchen möchte, das eine oder andere zu sagen.

<14> Die auf die Erkenntnis des Wissens zielenden Überlegungen Piagets treffen es m.E. besser als alles, was bislang seitens der "Kognitionswissenschaften" dazu gesagt wurde, jedenfalls im Hinblick auf die sukzessive Konstruktion von Wiederholungen, Regelmäßigkeiten und Regeln, als die erste und beste Methode hinsichtlich der Entwicklung von Wahrnehmungs- und Begriffs-Strukturen (e.g. Piaget & Inhelder, 1962).

a) Die Fähigkeit, gleichzeitig mehrere verschiedene sensorische Elemente in einem experimentellen "Rahmen" (ein Begriff, der erborgt ist von der Kinematographie in Cecattos Theorie der pulsierenden Aufmerksamkeit, 1964), erleichtert ihre Verbindung, um eine Mischung zu formen.

b) Wenn die gleiche Mischung in aufeinanderfolgenden Rahmen wiederholt geformt werden kann, so kann sie erinnert werden. Einmal erinnert, kann dies dazu führen, was ich eine "Wiedererkennungsmatrix" nannte. Mit Hilfe von Anpassung (d.h. unter Mißachtung kleinerer Unterschiede) haben solche Matritzen eine gute Chance, in mehr und mehr zukünftigen Erfahrungsrahmen wiedererinnert zu werden.

c) Wiederholte Wiedererinnung wandelt die genannte Matrix in eine relativ stabile Form von sensorischen Elementen, die als Basis eines dauerhaften "Objektbegriffs" betrachtet werden können. Aber dieser Status läßt sich nur erreichen, wenn das Kind fähig ist, das Objekt ohne die aktuelle Gegenwart des enthaltenen sensorischen Elements zu vergegenwärtigen. Diese Fähigkeit ist in der Tat die letzte und wichtigste Bedingung für die Konzeption von "Objekt-Permanenz".

<15> Diese kurze Beschreibung der Entwicklung ist selbstverständlich verdichtet, sollte aber dafür zureichen, meinen Standpunkt im Hinblick auf das "Sein" darzustellen. Die Fähigkeit, Objekte unabhängig von ihren aktuell gegenwärtigen sensorischen Elemten wiederzuerinnern, wirft unvermeidlich die Frage nach dem reflektierenden Geist auf, der sich selbst setzt, getrennt vom Fluß der Erfahrung, dabei aber selbst noch unwissend ist über seine eigene konstruktive Aktivität. Die Wiedererkennung eines Objekts als jene nämliche Einzelheit, die bei einer früheren Gelegenheit erfahren wurde, ist gleichbedeutend damit, ihm eine individuelle Identität beizulegen und eigenes Leben. Wie aber überlebt es in jenen Intervallen, in denen es nicht wahrgenommen wird? Die einfachste Antwort ist, daß es ein Gebiet jenseits des Feldes der Erfahrung geben muß, ein Gebiet, wo Objekte sich unabhängig befinden und ihre Identität wahren. Daher ist GUW, die Welt des "Seins", das Gebiet, wo Objekte "existieren", eine Konzeption, die sich auf der Notwendigkeit des Organismus erhebt, mit dem formlosen Fluß der Erfahrung fertigzuwerden, indem er sich Wiederholungen, Regelmäßigkeiten, permanente Objekte und Regeln zulegt.

<16> Aus dieser Perspektive, in der kein Platz ist für ontische Wahrheit, kann die Tragfähigkeit dieser Dekonstruktion der Ontologie ausschließlich vom jenem Individuum gewußt werden, das selbst seine Erfahrungen macht. Und er oder sie wird sich dabei bewußt sein müssen, daß die Voraussetzungen, die für diese Dekonstruktion notwendig sind (individuelle Erfahrung, reflexives Bewußtsein, Gedächtnis, und einige einfachere Vorlieben und Abneigungen), nicht in der Weise angesehen werden können, als hätten sie einen ontologischen Status – sind sie doch nicht mehr als Arbeitshypothesen zur Konstruktion einer Theorie.

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