Sokrates und Platon Erkenntnis und Ideologie – Eine Diskussion |
Beim folgenden Text handelt es sich um die Wiedergabe einer Diskussion zum Verhältnis von Wahrheit und Wissen(schaft) insbesondere am Beispiel des Sokrates und Platon, vor allem auch unter Berücksichtigung der uns heute betreffenden Implikationen, die 1999/2000 via Internet zwischen T. R. und mir geführt wurde.
Noch mehr Interesse an der Bewußtseinstheorie von Platon bis heute? Hier finden Sie (bisher) Texte wie einen Auszug des platonischen Dialogs Theaitetos, zu John Locke, zu "Realismus und Naturwissenschaft"
sowie eine Verbindung der Aufassung des Theaitetos mit der modernen Sehweise des Bewußtseins von meiner Hand.
Sophia Online-Zeitung für Philosophie bei der Uni Oldenburg
T.R.: Erziehung und Gerechtigkeit Ihre kleine Polemik gegen die Wissenschaftsgläubigkeit unserer Zeit [s. Artikel: Der Irrtum des Sokrates] hat mich gefreut. Ich kann Sie in vielen Punkten gut verstehen. Gut verstehen kann ich auch Ihren Einwand, bedenkenlos Zitate anzuführen, wenn man doch eigentlich nicht so genau versteht, welche Implikationen eventuell damit berührt werden. Ich bin kein Experte der griechischen Philosophie. Ich habe aber, wie ich glaube, einen begründbaren Einwand gegen den Haupttitel "Der Irrtum des Sokrates". Sokrates mag sich in vielem geirrt haben und manche Irrungen, die wir ihm in die Schuhe schieben, sind ihm bereits von Platon in die Sandalen geschoben worden. Unser Wissen über Sokrates ist vor allem ein Wissen, das uns von Platon übermittelt wurde. Sokrates hat selbst nichts schriftlich hinterlassen. Auch Aristoteles, den man als den eigentlichen geistigen Brandstifter des bestehenden Wissenschaftsverständnisses sehen kann, hat Sokrates die Einführung der Induktion angelastet. Es gibt aber schriftliche Überlieferungen von den sogenannten Vorsokratikern. Xenophanes beispielsweise beschrieb die Situation des menschlichen Erkennens bereits in einer Weise, von der ich mir wünsche, daß sie weitere Verbreitung finden könnte. Ich glaube, daß Sie mir darin zustimmen könnten. Er schrieb als Kritik gegen den historischen Pessimismus Hesiods: "Nicht von Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles; Aber im Laufe der Zeit finden sie suchend das Bess’re" (Übersetzung aus dem Griechischen K.R. Popper) Wissenschaft besteht nicht durch einzelne Wissenschaftler, die wie Hawking manchmal dazu verführt sind, wenn sie einen guten neuen Gedanken, eine Theorie oder eine gut manifestierte Hypothese gefunden haben, von erreichbaren vollständigen Theorien zu sprechen (s. TOE = Theorie of Everything). Darin bin ich mit Ihnen dagegen. Hawking hat diesen Gedanken inzwischen auch aufgegeben. Xenophanes hingegen offenbart doch ein anderes Verständnis für Erkenntnis, das leider mit dem Einfluß des Aristoteles verloren ging. Xenophanes’ Erkenntnisoptimismus ist offen für zukünftige Entwicklungen und beschreibt lose, wie wir zu Erkenntnissen kommen. Wir suchen und manchmal raten wir auch. Es ist das Bild des schwarzen Mannes, der im dunklen Keller einen schwarzen Hut sucht, von dem er nicht weiß, ob er tatsächlich da ist. (Popper) Dieses Bild der Wissenschaft ist nach wie vor aktuell und es ist die tatsächliche Beschreibung der Praxis eines heutigen Wissenschaftlers: Wir suchen und glauben aber wir wissen nichts! Ich glaube, Ihr Verhältnis zum Wissen ist mit dem meinen nicht weit auseinander. Das zeigt zumindest Ihr Text und Ihre Polemik gegen autoritäre Wissensgegebenheiten und sogenannte autoritäre Wissensquellen. Sie haben sich dem Begriff des Wissens, so scheint es mir, nur der im englischen und deutschen Sprachraum üblichen semantischen Deutung des Begriffes gewidmet. Hier bedeutet er freilich ‘Wissen’ im Sinne von "sicherem" Wissen. Doch genau diese Einstellung zum Wissen, das sich in der metaphorischen Gestalt und Verwendung dieses Begriffes äußert und nebenbei die seltsamsten Philosophien hervorgebracht hat, war nie die Sache der griechischen Philosophen bis zu Sokrates. Die Griechen haben geahnt: "Die Götter haben sicheres Wissen – epistéme; die Menschen haben nur Meinungen – doxa." Diese gesunde Einstellung zum Wissen ist wie bereits erwähnt, erst durch Aristoteles verirrt worden, der auch dem Menschen – epistéme – also sicheres, beweisbares Wissen zugestanden hatte. Um etwas beweisen zu können, muß man eine Methode des Beweises aufzeigen, die selbst keinen Beweis zu brauchen scheint!? Das war die Induktion. Diese Fehlentwicklung, die Jahrhunderte überdauerte, mündete in das Objektivitätspostulat der modernen Wissenschaft, das selbst, wie Monod sagte, für immer unbeweisbar bleiben muß! "Diese Objektivitätsforderung aber ist ein reines, für immer unbeweisbares Postulat, denn es ist offensichtlich unmöglich, ein Experiment zu ersinnen, durch das man die Nicht-Existenz eines Projektes, eines irgendwo in der Natur angestrebten Zieles beweisen könnte." (Monod; Zufall und Notwendigkeit) Auch wenn wir glauben, daß die "Objektivität" nicht mehr als eine Methode darstellt, derer wir uns zur Gewinnung von Erkenntnissen bedienen, so bleibt sie dennoch frei von einer bestimmenden Eigenreflexion, denn sie ist eine offene Methode, die jeder Idee begrenzte Gültigkeit vermittelt, oder sie mit Grund verwirft. Kein anderes Prinzip ermöglicht eine solch praxisnahe Auslese. Es gibt sehr viele Ideen von Menschen. Doch es gibt keine Theorien über die Notwendigkeit von wahren menschlichen Theorien. Was es jedoch gibt, ist die Möglichkeit wahre und falsche Theorien zu selektieren. "Die Wahrheit ist absolut und objektiv. Wäre sie es nicht, könnten wir uns niemals irren. Dann wären unsere Irrtümer genauso gut wie unsere Wahrheiten." (Popper, Sir K.R. "Alles Leben ist Problemlösen") Die Wahrheit ist es, die wir alle dauernd suchen. Dazu erfinden wir Theorien und Hypothesen, die wir dann mit der Wirklichkeit konfrontieren. Dabei kommen wir erst zu Widersprüchen, die uns dazu veranlassen, unsere Theorie zu verbessern. Es war Hawkings besonderes Verdienst, seine eigene Theorie möglicher lokaler Singularitäten auszumerzen, indem er nachweisen konnte, daß "schwarze Löcher" doch Strahlung aussenden, auf Grund quantendynamischer Effekte, bei der die übergroße Gravitation zu Potentialtrennungen führen kann. Diese Einsicht wurde nur möglich, weil es Einstein gelungen war, Energiebegriff und Massebegriff in einen äquivalenten Zusammenhang zu bringen. Das gelang nur durch eine vorläufig gute Theorie zum Licht und dessen Ausbreitungsgeschwindigkeit. Einsteins Bemühungen brachten die Newtonschen Gesetze in einen Gesichtspunkt der relativen Gültigkeit. Newton überzeugte die Kepplersche Genauigkeit, mit der er seine eigene göttliche Harmonieempfindung zu Fall brachte. Sie wurde tragischer Weise erst am 7. November 1631 durch Pierre Gassendi tatsächlich beobachtet, als der Planet Merkur vor der Sonnenscheibe vorbeiging. Keppler war im Jahr zuvor gestorben und konnte die empirische Bestätigung seiner Theorie nicht mehr erleben. Mit allen unseren schnellen Urteilen über die heutige Wissenschaft sollten wir nicht zu streng sein. Wir erwarten zuviel. Die Wissenschaft ist ein im Morast auf Pfählen gebautes Gebäude. Wir müssen die Pfähle ständig verlängern, damit es noch trägt. Darüber hinaus müssen wir auch noch die Stockwerke vermehren, weil die Details und Informationen immer zahlreicher werden. Das bedeutet aber nicht, daß wir bereits zuviel wissen! Womit Sie vermutlich recht haben könnten, ist die Tatsache, daß zu viele Informationen keinen erhöhten substanziellen Beitrag zur besseren Kritik an einer Theorie leisten können. Die jeweils neuen Informationen sind wertneutral, bis diese interpretiert werden. In ihrer ersten Phase werden neue Daten im eigens entwickelten wissenschaftlichen Sprachraum dargestellt und bearbeitbar gemacht. Doch das ist nicht der relevante Deutungsraum des Philosophen! Die Philosophie darf sich nicht abhängig machen von wissenschaftlichen Tagesveröffentlichungen. Darum ist auch die jeweilige wissenschaftliche Tagessprache, die sich ebenfalls verändert, gänzlich unwichtig. Entscheidend bleibt der substanzielle, von der Kritik nicht verworfene Anteil der wissenschaftlichen Theorien. Vielleicht konnte ich Sie durch die kurze Stellungnahme ermutigen, nicht an der Wissenschaft zu zweifeln, deren Hauptaufgabe der Zweifel ist. Das mag an der einen oder anderen Stelle nicht so deutlich werden. Aber zusammenfassend kann man, denke ich keine Bilanz einer unbrauchbaren Wissenschaft ziehen. "Ich weiß, daß ich nichts weiß" – bezieht sich auf eine Kultur, die im Wissen bescheidener war als unsere. Genau darum ist meiner Meinung nach Ihr Angriff auf die Abgehobenheit mancher Wissenschaftskundigen gerechtfertigt. Aus dem gleichen Grunde mag ich Ihrem Angriff auf Sokrates nicht folgen. Wenn man wie Sokrates und viele Vorsokratiker davon ausgeht, daß Wissen kein sicheres Wissen bedeuten kann, dann verstehe ich die Frage der Tugend und des Wissens so: Wir können kein sicheres Wissen haben. Alle unsere Theorien sind falsifiziert oder könnten noch falsifiziert werden. Über die Wahrheit unserer Theorien können wir niemals sicher sein! Wenn Wissen unsicheres Wissen meint, das sich selbst immer wieder in Frage stellt und Zweifel ausdrücklich mit einschließt, dann ist dies eine Tugend, der man vertrauen kann. Man muß mutig dieses Vertrauen wagen, denn es ist unsere einzige mögliche Form, wahre von falschen Theorien zu trennen. Platon hat diese Dinge alle gewußt. Er war ein großes Genie – unbestritten. Darum trifft ihn auch der schwerste Vorwurf. Er war ein eitler Blender, der trotz besseren Wissens eine utopische Staatstheorie entwarf, die noch Jahrhunderte später bis heute das Denken der Menschen verzettelte. Insofern gebe ich Ihnen, Herr Walther, recht, wenn Sie davon schreiben, daß die bloße Kenntnis des Guten und Richtigen uns nicht immer davor schützt, genau das Gegenteil dessen zu tun. In Kenntnis wiederum dieses Zusammenhangs ist es demnach unumgänglich zwei Forderungen immer zu berücksichtigen. Die Intellektuellen müssen größte Bescheidenheit an den Tag legen! Sie sollten nicht verkünden und sich als Propheten gebärden, sondern Vordenker für die Meisterung unseres Lebens sein! H.W.: Es ist mir sehr erfreulich zu sehen, daß Sie in weiten Teilen mit meinen Ausführungen zu "Sokrates‘ Irrtum" und vor allem mit der Grundtendenz übereinstimmen, was, wie Ihnen sicherlich auch selbst bekannt ist, nicht selbstverständlich ist. Vielmehr wird aus einer solchen Einstellung häufig eine Art von "Wissenschaftsfeindlichkeit" herausgelesen, was jedoch völlig unzutreffend ist; ganz im Gegenteil bin auch ich der Auffassung, daß die Bedeutung der modernen Naturwissenschaften so hoch anzusetzen ist, daß ein Philosophieren, das auf deren Ergebnisse keine Rücksicht nimmt, von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. Problematisch wird es erst dann, wenn einzelne Wissenschaftler oder deren Nachbeter ihre hypothetischen und falsifizierbaren Theorien mit der absoluten und endgültig erkannten Wahrheit verwechseln und von diesem Standpunkt aus meinen, Aussagen zur menschlichen Existenz machen zu sollen. Ob Sie meine zugrundeliegende Anspielung auf Sokrates und dessen "Irrtum" recht gefaßt haben, ist mir allerdings fraglich; ich gehe von jenem berühmten Diktum aus, daß für Sokrates noch ganz selbstverständlich Tugend gleich Wissen ist in dem Sinne, daß, wer nur das rechte Wissen besäße, ganz von selbst auch nur noch in rechter Weise handeln werde. M. E. sollten wir Modernen dazu eines Besseren oder vielmehr Schlechteren belehrt sein, daß nämlich "rechtes Wissen" am falschen Handeln durchaus nicht hindert, daß sich vielmehr das so effiziente heutige Wissen auch zu ganz verheerenden Zwecken einsetzen läßt. Nicht wenige unter den heutigen "Szientisten" vertreten aber nach wie vor die Meinung, und das halten sie für die Grundaussage ihrer "Philosophie", daß es genüge, den Menschen nur die "richtige", selbstverständlich von ihnen ausgewählte Bildung durch Wissen zu vermitteln, und so würde quasi ganz von selbst der "ewige Frieden auf Erden" einkehren – darin sehe ich aber noch genau die gleiche Fehlhaltung wie sie schon bei Sokrates – damals allerdings noch entschuldbar – zu beobachten ist. Nach meiner Auffassung ist "bloßes Wissen" aber folgenlos im Gegensatz zur individuellen und existenzumstellenden Erkenntnis – und zu eigener Erkenntnis sind nach meiner Beobachtung ganz offenbar sehr viele Menschen eben gar nicht in der Lage, völlig unabhängig davon, welches Wissen man ihnen anbietet. Diese Naivität des Szientismus möchte mein Sokrates-Artikel ironisch und polemisch aufspießen, ganz in der Tradition der Ironie des Sokrates; damit ist nichts gegen die Naturwissenschaften gesagt, aber doch manches, hoffe ich, gegen den metaphysischen Glauben an deren seligmachende Kraft, wie ihn manche Wissenschaftler und deren Nachgänger pflegen. Nicht übereinstimmen kann ich allerdings mit Ihrer Sicht des Aristoteles wie des Platon; ersterer hat im Gegensatz zur platonischen metaphysischen Deduktion, wie Sie richtig bemerken, fast auf allen Gebieten die Induktion angewandt, also die Ableitung des Wissens aus der Beobachtung und dem Vergleich der Phänomene – die Basis des Empirismus und auch noch unserer modernen Naturwissenschaften. Wahrheit reklamiert Aristoteles lediglich für "apodeiktische" ("logische") Schlüsse, auf allen anderen Gebieten begnügt er sich (wie modern!) mit der Wahrscheinlichkeit, indem er unter den verschiedenen verglichenen Modellen das ihm jeweils am besten erscheinende auswählt. Dies als eine "Verwirrung" einer "gesunden Einstellung", wie sie angeblich die Sophisten gehabt hätten, zu bezeichnen, scheint mir nicht möglich (mit diesem Themenkomplex befassen sich meine Artikel "Was ist Metaphysik" [s. hier den gleichnamigen Artikel], weshalb ich hier nicht weiter darauf eingehen möchte). Ebenso problematisch scheint es mir, Platon als "eitlen Blender" zu bezeichnen, und allein aus einer mißverstandenen Rezeption der Utopie seines "Staates" zu einem solchen Negativurteil zu gelangen. Der "Staat" ist nichts anderes als der konsequente Versuch, die metaphysische Ideenlehre samt deren Stufenhaftigkeit des sich aus dem Sein herleitenden Seienden auf einen "Idealstaat" zu übertragen; der Staat wird daher in drei Gruppen aufgeteilt, wie Platon die Menschen als in drei verschiedenen Kategorien (Stufen) vorkommend erscheinen, und diese drei Gruppen werden entsprechend ihrer "Ausstattung" aufeinander bezogen: daß jeder das Seine für die Allgemeinheit in der Polis auf bestmögliche Weise tue, macht für dieses klassische griechische Denken das Wesen der Gerechtigkeit aus. Sicherlich ist dies eine Utopie, erwachsen aus einem ganz anderen Gestelltsein des Individuums ins Allgemeine als heute – was andere aus dieser Utopie sich eklektisch zu ihren eigenen Zwecken herausgelesen haben, dem Platon zuzurechnen, wäre genauso abstrus, wie etwa Nietzsche für das Dritte Reich oder Wagner für dessen Judenverfolgung verantwortlich zu machen. Meines Erachtens ist es jedenfalls unredlich, solche Entwürfe nicht auf ihrem eigenen Boden, a priori, zu verstehen, und sie aus unserer aposteriorischen Sicht zu be-, verurteilen. Einige Originalstellen zu beiden (wie auch zu den Sophisten) können Sie übrigens in meinem Artikel "Was ist Dialektik" nachlesen. Ein "Experte vom Fach" bin ich übrigens selbst auch nicht, mich treibt nur das "Interesse", und so freue ich mich gerade deshalb über eine Kommunikation über diese Themen und bedanke mich nochmals herzlich für Ihr Plädoyer "Für mehr intellektuelle Bescheidenheit". T.R.: Sie haben natürlich unbedingt recht, wenn Sie mir vorhalten, daß man eine aus dem jeweiligen historischen Zusammenhang entstandene Idee oder Theorie nicht für deren Folgen verantwortlich machen kann. Auch den Urheber (Platon) kann man natürlich nicht dafür heranziehen, die Fehler nachfolgender Generationen rechtfertigen zu müssen. Auch der Einwand, daß Platons Einfluß ungebrochen anhält, trifft ihn nicht selbst. Er trifft höchstens die, welche immer wieder noch seine Ideen aufgreifen, um ihre eigenen zu rechtfertigen. (Kontrakttheorie, Souveränitätsprinzip – gerade wieder aktuell im Jugoslawienkonflikt) Das ist per se keine Entscheidung zu den Interpreten, aber wir sollten uns schon genau die Grundlagen der Interpreten anschauen! Ich möchte Ihnen nur ein kleines Beispiel geben, wie Platon mit seinen politischen Gegnern und deren Theorien über Gerechtigkeit und Wahrheit umging, wenn sie den seinen gefährlich wurden. Gerade Platon eignet sich vorzüglich zur Abschweifung in den Totalitarismus wegen seiner eigenen emotionalen Abkehr vom Protektionismus. (Schütze die Schwachen vor der Tyrannei der Starken) Diese Theorie des Lykophron zu Zeiten der Regentschaft des Perikles hat nichts von historizistischen oder egoistischen Tendenzen in sich. Aristoteles selbst bemerkt nämlich, daß Lykophron offenbar vergessen hätte zu erwähnen, daß es die oberste Absicht des Staates sei, seine Bürger tugendhaft zu machen. Das war aber nicht die Intention des Lykophron, als er von der kooperativen Vereinigung zur Verhinderung von Verbrechen sprach. Zunächst im "Gorgias" verteidigt Sokrates (= Platon) diese Theorie gegen die nihilistischen Tendenzen eines Kallikles und den Vorwurf des zynischen Egoismus. Er stellt die Theorie eindeutig als berechtigt und ausdrücklich humanitär dar. Doch im Staat schwenkt Platon um! Hier läßt er die Theorie, dessen Verfasser er nie nennt, von Glaukon vortragen und diskutieren. Gleichzeitig läßt er die Theorie als antihumanitär erscheinen, indem er sie konsequent mit der egoistischen und zynischen Einstellung des Thrasymachos identifiziert und seinen Lesern suggeriert, daß alle Formen des Individualismus letztlich nur Selbstsucht sind. "Platon wußte sehr wohl, daß die Theorie nicht auf Selbstsucht beruhte, denn im Gorgias hatte er sie nicht mit der nihilistischen Theorie identifiziert, aus der sie im Staat ‘hergeleitet’ wird, sondern sie ihr entgegengesetzt."(Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde) "Unrecht tun sei das Allerbeste, die Gerechtigkeit werde nur eingeführt, weil viele Menschen zu schwach sind, um Verbrechen zu begehen; und ein Leben voll Verbrechen sei für den einzelnen Bürger höchst vorteilhaft." sagt Glaukon zu den Prämissen des Protektionismus. Platon läßt niemanden auftreten, der den Protektionismus noch verteidigt. Im Staat stellt Platon seinen Führungsanspruch auf. Er sagt es nur nicht offen. Vieles deutet aber darauf hin, wenn man andere Schriften hinzuzieht. Die Kehrtwende in der Frage des Protektionismus ist nur ein Beispiel unter anderen, die zeitlich mit der Abschwächung des Einflusses der sokratischen Ideen bei Platon zusammenhängen. Platon entfernt sich zunehmend von seinem Lehrer, den zu zitieren er nicht müde wird. Genau wie Aristoteles versucht Platon seine eigentlichen Überzeugungen zu etablieren und zwar auf Kosten der natürlichen Autorität des Sokrates, der diese nie beanspruchte. Analog zur Verwirrung in der Moralphilosophie, die von Platon ausgeht, in der er Kollektivismus und Altruismus identifiziert, setzt er seine Feldzüge in seiner politischen Philosophie genauso folgenschwer fort. Dort wird die Frage: Wer soll herrschen oder wessen Wille soll der höchste sein?- zur Jahrhunderte prägenden Motivation, falsche Fragen zu beantworten. (Die Frage muß heißen: Wie soll geherrscht werden?) Auch Platons Auffassung über die notwendige Verbindung von Erziehung und seiner Theorie der Führerschaft, daß die Institutionen des Staates die Aufgabe hätten, die richtigen Führer auszuwählen, wird heute noch von vielen Intellektuellen für richtig gehalten. Diese Art der Problemformulierungen führten notwendig zu Antworten, die der nachplatonischen Geschichte ihren Stempel aufgedrückt haben. Alle Probleme, die aus diesen Antworten folgten, wurden selbstsüchtig beantwortet und mündeten immer in klassenbezogener Parteilichkeit. Der Versuch, Platon in unsere Zeit hinein zu extrapolieren, ist natürlich unredlich. Darauf hatten Sie mit recht verwiesen Herr Walther. Aber Platon war ein großes Genie. Man kann ihn dreifach deuten. Man kann ihn politisch-moralisch, mathematisch-physikalisch und seelisch-mystisch interpretieren. Weizsäcker hat einmal darauf hingewiesen, daß die Philosophie Platons zu verstehen darauf hinausliefe, diese drei Punkte in ihrer Einheit zu verstehen. Ich habe diesen Ehrgeiz eigentlich nicht. Was mich einzig interessiert, sind die Auswirkungen einer Lehre und als solche verstand Platon seine Dialoge. Seine Auswirkungen der politischen und moralischen Lehren sind leider katastrophal. Es scheint mir wenig nützlich, an einer Lehre ihre zeitliche Herkunft zu betonen, wenn die Lehre selbst darauf mit Absicht verzichtet und ewigen Anspruch auf Gültigkeit einfach voraussetzt. Genau dieser Umstand ist es letztlich, der so viele Geister nach Platon ihm auf den Leim gehen ließ. Hätte Platon hier und da betont, daß er die eine oder andere Theorie nicht wahrheitsgemäß dargestellt hat, wovon ich sehr überzeugt bin, und hätte er die eine oder andere Idee (zumal die Idee der Ideenlehre) nicht als pythagoreischer Weissager formuliert, wovon ihm Abstand zunehmen durchaus möglich gewesen wäre, dann hätten sich Generationen von Philosophen von ihm abgewandt oder nur seine wirklichen Leistungen gesehen. Aber ich bin fast sicher, daß Platon Wirkung erzielen wollte. Das ist ihm ausgezeichnet gelungen! Genau das aber ist schlechter Stil mit Vorbildwirkung, worauf meine kurze Intervention hinweisen sollte. Man kann gewiß nicht sagen, daß es so etwas wie Vorbilder nicht gäbe. Man kann gewiß ebenfalls nicht verleugnen, daß es ideelle Vorbilder gibt, von denen wir etwas lernen. Diese Kenntnis macht die große Verantwortung des Intellektuellen aus. Als Einstein die ihm von Szillard überbrachte Petition zum Bau der Atombombe unterschrieb, hat er sich entschieden etwas zu tun, was er zwar nicht überblicken konnte, doch wovon er allein, dem wissenschaftlichen Fachverständnis entsprechend, abgeschreckt hätte sein sollen. Er tat es trotzdem. Einstein hatte keinerlei politische Fähigkeiten und übersah somit auch die tatsächliche politische Situation nicht. Er war beeinflußt vom amerikanischen Patriotismus und war bürgerlicher Herkunft, die seinen Blick nie für die einfachen Menschen schärfen ließ. Als populäres Genie (in der Antipolis und später auch in der Polis) begann er sich weltweit zu Themen zu äußern, deren Geschichte er nicht einmal kannte. So sind auch seine warnenden Worte vor einer Weltregierung verständlich, die nun wirklich niemand beabsichtigte noch ernsthaft erwogen hatte. Das berühmte Diktum des Sokrates, ist von Ihnen völlig zu Recht in den Verschlag genommen worden. Wer das ‘Rechte’ weiß, handelt darum richtig, ist falsch! Dazwischen steht ja noch die Erkenntnis vom Wissen. Sie nannten es "existenzumstellende Erkenntnis", die uns dazu bringt, im Sinne dieses Wissens eben auch zu handeln. Ich glaube, das war eines der tiefsten Motive des Sokrates und nicht sein Irrtum! Seine Überzeugung glaube ich, war es, daß niemand gegen sein besseres Wissen handeln dürfe und daß alle moralischen Irrtümer einem Mangel an Wissen zuzuschreiben wären. (Wissen nicht im Sinne von sicherem oder autoritärem Wissen) Die Vermittlung von Wissen hat Sokrates nach allem, was uns glaubhaft scheint, immer als eine Art Geburtshilfe zum Verständnis betrieben und nicht als Faktenvermittlung. Ihm kam es nicht darauf an, wie es in heutigen Managerschulen üblich ist, irgendwelche Fakten zu verkaufen. Er wollte Erkenntnis und natürlich eine Handlungsumstellung erreichen. Es ist natürlich fraglich, ob ihm das gelungen ist. "Sein moralischer Intellektualismus ist ein zweischneidiges Schwert." Bei Sokrates finden wir eigentlich nur eine einzige Ausnahme, die es ihm notwendig erscheinen ließ, Autorität in der Erziehung auszuüben. Das ist die Frage der Notwendigkeit von Aufklärung und Erziehung. Doch Sokrates will keine autoritären Methoden einführen. Er sieht aber, daß gerade der Ungebildete eines Weckrufes bedarf, da er selbst nicht fähig sein würde, selbstkritisch zu handeln. Sokrates glaubt daran, daß es grundsätzlich möglich sei, Menschen Wissen zu vermitteln, egal welcher Herkunft sie entstammen. Das zeigt sich sehr eindrucksvoll bei seinem Versuch, einem Sklaven einen Spezialfall des pythagoreischen Lehrsatzes zu vermitteln.(Platon’s Menon) Wenn man das Lebenswerk des Sokrates interpretiert, kommt man wie die meisten Philosophen zu der Auffassung, daß er ein moralischer Intellektueller war, der nichts mehr liebte als die ungeschminkte Wahrheit, soweit sich diese ihm offenbarte. Doch er war nicht nur ein entschlossener Moralist und Enthusiast, sondern auch ein Verfechter einer grundsätzlich antiautoritären These: "Alle Autorität, die ich besitze, beruht einzig darauf, daß ich weiß, wie wenig ich weiß." Damit hat er eigentlich die moralische Kompetenz auf seiner Seite. Doch er hat seine erzieherische Kompetenz auf die politische ausgedehnt und sie damit identifiziert. Das wurde ihm zum Verhängnis gemacht. Wir wissen auch von wem. Es waren Platon und Aristoteles, die die Forderung erhoben, daß der Staat sich um die moralischen Belange seiner Bürger kümmern sollte. Und wenn der Staat diese Aufgabe nun einmal hätte, dann ist es höchst uneinsehbar, was die Demokratie leisten kann, weil in ihr doch die Ungebildeten die zur Erziehung Berufenen (die Elite) beurteilen müßten! Dieses sogenannte Pseudodilemma scheint in den Wahlkämpfen heutiger Art immer noch eine wesentliche Rolle zu spielen. Klassengegensätze vertauschen sich hier in Aktivitätsgrundsätze. "Wer nicht Unternehmer ist, ist ein Unterlasser!" Das führt zu der falschen These: Jedem Menschen ist per se durch Geburt eine gleiche Anzahl von Möglichkeiten eröffnet worden. Auf jeden Fall führt es zu der individualistischen These, der Sokrates entschieden entgegen tritt, daß individuelle Konstellationen etwas über die Fähigkeit zu höheren Einsichten aussagen. Sokrates hat die Falschheit dieser Theorie deutlicher gesehen als jeder nach ihm. Etwas Wahres ist jedoch dran an der Beitz’schen Theorie. Ohne eigene Aktivität gewinnt nicht der schlauste Mensch einen Blumentopf. Das ist auch nicht strittig mit Sokrates. Er identifiziert Tugend mit Weisheit in der Erziehung und nicht mit sicherem Wissen! Des weiteren macht er einen großen Fehler, den Sie ebenso sehen wie ich selbst! Sokrates geht von einer allgemeinen, vorauszusetzenden Intelligenz aus, die jeden befähigen könnte, eine adäquate Einsicht zu erlangen. Ich denke daß Ihr Problem eigentlich hier liegen könnte. Das impliziert einige Fragen: Kann nicht jede komplizierte Neuronenstruktur (wie die des Menschen), grundsätzlich humanistische Handlungen hervorbringen? Offensichtlich kann sie es nicht. Gibt es vielleicht ein verborgenes Element in dieser Struktur, die einem freien Willen und Wollen gehorcht, welcher oder welches von uns verschieden sein könnte? Offensichtlich nicht, wie wir heute glauben. Was macht bei all unserer evolutionären ‘Gleichheit’ unsere subjektive Verschiedenheit aus? Es kann nur bei allen genetischen Dispositionen, die selbstverständlich da sind und wirksam sind, die erfahrene Umwelt sein (im weitest-denkbaren Sinne). Es ist die von Sokrates richtig hervorgehobene Aufgabe der Erziehung, die uns zu moralisch Handelnden und erziehenden Menschen macht. Die Erziehung vermittelt im Sinne Sokrates’ ein höchst mögliches Maß an Vorbereitung zum moralischen Handeln. Es stellt aber keineswegs eine Gewißheit dazu da. So naiv war er nicht, daß er nicht sah, was um ihn herum passierte. Platon hat die sokratische Lehre natürlich auf die Spitze getrieben. Über Sokrates’ Natur erfahren wir nur etwas glaubhaftes, wenn wir alle seine Interpreten vergleichen. In Platons Werk äußert sich Sokrates auf verschiedene Weise zum selben Thema wie in der Frage des Protektionismus, dessen Urheber Lykophron, dessen jüngerer Zeitgenosse Platon war, er gar nicht erwähnt. Wer das nicht seltsam findet, mag dafür Gründe haben, die ich nicht kenne. Es gibt auch Übersetzungsprobleme und Übersetzungstraditionen. Jede Übersetzung ist problemorientiert. Sie kann aber als anerkannte Übersetzung nicht so schlecht sein, daß sie Widersprüche innerhalb eines Werkes selbst erzeugt! Wenn das möglich sein sollte, oder behauptet wird, dann ist eine Deutung der griechischen Philosophie ausgeschlossen. Die Falschheit der Erkenntnisse aber würde sich nur auf die Übersetzer verschieben. Damit wäre natürlich auch keine Entschuldigung der Befürworter Platons in Fragen der Vertragstheorie wie Hobbes möglich. Über Sokrates einen Irrtum auszusprechen ist nahezu unmöglich. Wir könnten nicht einmal unser beides Glaubensbekenntnis an ihm verifizieren, daß Wissen Nicht-Wissen bedeutet! H.W.: Daß bei Platon (wahrscheinlich drei) unterschiedliche Entwicklungsstufen angenommen werden, denen dann auch versucht wird, die einzelnen Schriften zuzuordnen, scheint allgemeine Meinung zu sein; daß er beim Übergang von seiner sokratischen Phase zu seinem eigenen System seine Auffassung änderte, scheint mir jedoch nicht in der Weise negativ bewertbar zu sein, daß er dies nur tun würde, um zu manipulieren. Vielmehr wird man doch eine solche "Kehrtwende" zunächst einmal als solche akzeptieren müssen, wenn ein Schüler über seinen Lehrer hinauswachsen möchte, ohne ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Sie haben völlig recht, daß sich Platon von Sokrates entfernt; aber ist das nicht sein gutes Recht, wenn ihm neue Einsichten aufgegangen sind, die über das Sokratisch-Maieutisch-Ironische hinausweisen und seine eigentliche eigene Bedeutung ausmachen? Sie haben sicher weiter recht, bei Platon auf mehrfache Deutungsmöglichkeiten hinzuweisen, zu welchen ich selbst eine vierte (und mir wichtigste) hinzufügen würde: Platon im Verein mit Sokrates und Aristoteles als bedeutende Station der kulturellen Evolution des Geistes in der Hervorbringung der Vernunft zu interpretieren. Unter diesem Aspekt werden mir dann die von Ihnen angesprochenen weiteren Deutungsbereiche (Politik/Ethik, Mathematik/Physik, Seele/Mystik) zu Möglichkeiten von konkreten Ausdrucksformen, in denen sich Vernunft zuerst und gebunden an ihre eigenen zeitlichen Umstände entdeckt; hier bereits die Reflexionshöhe unserer eigenen Zeit zu erwarten, scheint mir nicht möglich. Im übrigen folgt in trefflicher Dialektik sofort auf das idealistische System Platons als dessen Kritik der Hylemorphismus des Aristoteles, der in der Umschmelzung der platonischen Ideenlehre die Verbindung von Stoff und Form bereits wesentlich empirischer faßt und so zum Ahnvater der abendländischen Kultur wurde. Neben dem Versuch der Einordnung in die Phylogenese des menschlichen Geistes ist mir persönlich bei Platon noch sehr wichtig seine Fähigkeit der individuell-existentiellen Wirkung, wie sie etwa im Phaidon oder im Symposion zum Ausdruck kommt; daß es seine Philosophie also vermag, auch heute noch den Menschen lebendig anzusprechen und in ihm eine "Bewegung" auszulösen, sich in ethischer Hinsicht zum Ideal zu verhalten und in der eigenen Existenz das "Streben" nach deren "Erhöhung" nicht aufzugeben. Hierin sehe ich allerdings nichts Esoterisches oder Mystisches, sondern den eigentlichen Sinn jeder Philosophie im sokratischen Sinn: durch Erkenntnis ein erfüllteres Leben führen zu können. Auch diese "existentielle Ansprache" fasse ich also ebenso wie bei Sokrates dessen Ironie als "Maieutik", Geburtshilfe, die das Individuum auf seinen eigenen Weg bringen will. Wenn Platon fordert, daß "die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen" sein sollten, scheint mir persönlich dabei weniger die Frage nach dem "Wer" als vielmehr die Frage nach dem "Wie" im Vordergrund zu stehen. Sein System als totalitär zu bezeichnen, scheint mir wiederum eine Feststellung a postiori: im damaligen Griechenland gab es bekanntlich bereits verschiedene Formen von Tyrannis oder auch die spartanische Militärdiktatur (also im heutigen Sprachgebrauch "totalitäre" Herrschaftsformen) – von diesen Systemen aber wollte sich das platonische abheben, um jener "Gerechtigkeit" auch im Staat Ausdruck zu geben, wie sie Platon gefaßt hatte (und die selbstverständlich etwas völlig anderes ist, als wir Heutigen unter Gerechtigkeit verstehen(1)). Im übrigen führt ein direkter Weg von der Wissensauffassung des Sokrates zur "Staatstheorie" des Platon: nach der Auffassung des Sokrates würde ja niemand einem Arzt oder Steuermann, der sein Handwerk nicht gelernt habe, sein Leben anvertrauen; die Konsequenz daraus ist durchaus die platonische Meinung, daß vor allem auch im Staate jeder dasjenige ausüben solle, wozu er in der Lage sei. Gerade auch Sokrates kritisiert, daß ausgerechnet in der "Staatskunst" jeder mitreden wolle, ohne über die dazu nötige Befähigung zu verfügen. Ganz unabhängig von der Bewertung Platons stellt sich mir doch die Frage, ob die menschliche Vernunft nicht auch ohne Platon zu solch "katastrophalen" Systemen wie etwa im Faschismus gefunden hätte. M. E. ist das eine der Vernunft selbst innewohnende Problematik (auf die Platon mit seinem System unter dem Ideal seiner "Gerechtigkeit" eine erste Antwort zu geben suchte), ein Ideal (oder Schlimmeres, wie Macht pur oder "Rasse") absolut zu setzen und diesem alles unterzuordnen: die Instrumentalisierung der Vernunft zu einem absolut gesetzten Ideal oder Zweck. Dies aber konnte Platon noch gar nicht sehen, da er noch an die "Idee des Guten" glauben durfte, in der für ihn alle Einzelideen "aufgehoben" waren. Nicht umsonst steht das Höhlengleichnis ausgerechnet in der Politeia. Daß Platon selbst aber jedem realen Totalitarismus abhold war, läßt sich bereits seiner eigenen Äußerung im 7. Brief entnehmen: "... niemals aber soll man Gewalt anwenden zum Umsturz der Verfassung, falls es nicht möglich ist, ohne Verbannung und Niedermetzelung von Mitmenschen die beste Verfassung einzurichten, sondern in diesem Fall soll sich der Weise ruhig verhalten und sich und die Stadt den Göttern anbefehlen." (7. Brief, 331d) Wenn aber platonische "Problemformulierungen" auch späterhin wirksam wurden, so zeigt das m.E. nur, daß offensichtlich diese Art der Formulierung dem menschlichen Wesen durchaus entsprach – nicht entsprechende Lehren wären per se ipsum in Vergessenheit geraten; und hätte nicht Platon solche "Wesensarten" des Menschen der Vernunft aufgedeckt, so hätte dies eben ein anderer getan. Ein ebensolches "Würfelspiel Gottes" wie im Falle "seines Sohnes": die "Hochreligion Christentum" hätte sich ebenso (kontingent) an einen anderen Wanderprediger knüpfen können wie der Buddhismus an einen anderen Asketen. M.E. muß man also den Schluß so herumziehen, daß nicht die "Wesenslehren" des Platon katastrophal sind, sondern daß der Mensch als vernünftiges Wesen selbst die Katastrophe ist. Wie mir schon des öfteren aufgefallen ist, scheint Platon diejenigen Menschen, die sich überhaupt für ihn interessieren (und das sind ja doch die wenigsten...) stark zu polarisieren: entweder geraten sie in Schwärmerei über ihn, und wollen nichts auf ihn kommen lassen ("göttlicher Plato!"), oder aber er wird strengstens verurteilt, entweder als Idealist (etwa Nietzsche) oder als "Begründer" des "totalitären Staates". Persönlich scheint mir keine dieser Haltungen die rechte, ich versuche das "Phänomen Platon" innerhalb der kulturellen Genese der Menschheit zu verstehen, und da erscheint er mir als Mitglied der zentralen griechischen Troika Sokrates, Platon und Aristoteles (einschließlich von deren Wirkung auf Christentum und Renaissance) innerhalb der Entwicklung der Vernunft von nicht zu überschätzender Bedeutung. Sokrates Maieutik Sokrates ist der erste Philosoph, der seinen Blick ausschließlich auf den Menschen richtet(2); als "moralische Intellektuelle", wie wir Heutigen diesen Begriff verstehen, erscheinen mir allerdings viel eher die griechischen Sophisten, die "Aufklärung der Antike", in all ihren Spielarten. Sokrates ist mir ein Suchender, wo Platon und Aristoteles fündig werden. Seine "innere Stimme", sein "Daimonion" rät ihm bekanntlich nie zu, sondern immer nur ab. Nietzsche sieht diese Zusammengehörigkeit von Sokrates und Platon, und "verurteilt" beide entsprechend: Weil es beide sind, die den Menschen auf seine Vernunft stellen wollen, von dieser Vernunft her eine ganz neue Sicht des Menschen eröffnen. Wo der "nichtwissende" Sokrates mit der Dialektik dieser Vernunft seine Mitbürger fragend ironisiert und damit zu eigener Erkenntnis ihres gleichen Nichtwissens zwingen will, dort geben Platon und Aristoteles bereits Antworten, die mindestens 1500 Jahre als gültig bzw. zumindest als bedeutsam angesehen wurden. Die also, wenn sie über einen derartigen Zeitraum nicht ausgeräumt oder überboten werden konnten, so schlecht nicht gewesen sein können... Anders ausgedrückt: mir scheint es mit der kulturellen Evolution und Tradition ganz ähnlich zu sein wie in der biologischen: dort haben die bestangepaßten Individuen bzw. Arten einen Überlebensvorteil, und deshalb erhalten sie sich in dieser Form, hingegen sterben unangepaßte Arten und Individuen aus. Ebenso scheint es mir den kulturellen Errungenschaften der Menschheit zu ergehen: Was den Menschen auf Grund ihrer Wesensart bewahrenswert erscheint, um ihr Leben zu meistern, dies wird in der Tradition weitergetragen und an die folgenden Generationen vermittelt. Und daß die abendländisch-aristotelische Kultur (insbesondere in Form der Wissenschaften) sehr effizient war und ist, läßt sich bis heute beobachten... Sokrates beruft sich auf sein Nichtwissen, wo er noch nicht weiß, wir Heutigen tun dies, weil wir uns auch noch der Relativität jener Antworten bewußt geworden sind, die ihren Ausgang bei Platon und Aristoteles nahmen: das "Ende der Metaphysik". Wenn Sie allerdings nahelegen, daß letztlich Platon und Aristoteles mit ihren Antworten, die sie mit ihrer "Wesensschau" der Vernunft und den daraus jeweils verschieden gezogenen Konsequenzen gegeben hatten, für den Tod des Sokrates verantwortlich gewesen seien, so kann dies allein schon aus zeitlichen Gründen nicht richtig sein, insofern Platon erst nach dem Tod des Sokrates zu schreiben begann, und Aristoteles als Schüler des Platon naturgemäß noch später. Historisch gesehen verhielt es sich jedenfalls ganz anders: Nachdem die 30 Oligarchen abgetreten und die demokratische Partei wieder ans Ruder gekommen war, wollte diese die frühere politische Ordnung sowie die alten Sitten und Denkweise wiederherstellen und insbesondere die sophistische Bildung ausrotten. Sokrates wurde wegen Sophisterei und Asebie verurteilt, nicht, weil Platon und Aristoteles "die Forderung erhoben, daß der Staat sich um die moralischen Belange seiner Bürger kümmern solle", sondern weil die attische Demokratie die Restauration alter Denkweisen wollte, weil sie damit die Ausbreitung jener Gedanken, die von den Sophisten zu Sokrates und von diesem zu Platon und Aristoteles liefen, zu verhindern suchte. "Die Moral von der Geschichte" Wir sind uns doch sicherlich beide einig, daß es nicht Aufgabe des Staates sein kann, sich um die moralischen Belange seiner Bürger zu kümmern. Vielmehr hat er Rahmenbedingungen bereitzustellen, welche die größtmögliche Entfaltung seiner Bürger ermöglicht mit der Grenze der Entfaltungsmöglichkeit der jeweils anderen. Dies folgt m.E. zwingend aus der kategoriellen Verschiedenheit der Menschen, die sich entweder von ihrer Emotio, ihrem Verstand oder ihrer Vernunft entsprechend ihren Anlagen leiten lassen (müssen) – und dies führt notwendig zu ganz unterschiedlichen Auffassungen von Moral und Ethik (welche ich beide unterscheide) innerhalb eines Staates (für die Religion eines Menschen gilt das nämliche). Der Staat hat also nichts "Positives" an Moral und Ethik vorzuschreiben, sondern er hat lediglich eine abwehrende Funktion bei der Überschreitung ethischer Maßstäbe durch die Individuen. Damit sind wir auch beim eigentlichen Grundproblem, denke ich, der Sache mit der wesensmäßigen Gleichheit und der individuellen Verschiedenheit, die (m.E.) bisher häufig fälschlicherweise als Widerspruch gesehen statt zusammengedacht wurden. Meiner Theorie nach handelt es sich dabei "lediglich" um zwei verschiedene Interpretationen, basierend auf den unterschiedlichen Repräsentationen und Bewertungen durch die zwei rationalen "Vermögen" des Menschen, eben den Verstand und die Vernunft. Hebt der Verstand auf die Unterschiede der seienden Dinge ab (ist er es doch, der die Dinge überhaupt erst "in die Welt bringt", indem er sie benennend voneinander abgrenzt), abstrahiert die Vernunft auf die "wesentlichen Eigenschaften" der Dinge und entdeckt so die Wesensgleichheit vor allem des Menschen selbst. An dieser Stelle verheddern sich dann die meisten Denkarten, weil einerseits die von der Vernunft geforderte Gleichheit nicht von der Hand gewiesen werden kann, andererseits der Verstand "intuitiv" um die Unterschiedlichkeit der Individuen weiß. (Dies scheint mir auch die Wurzel des "Uraltstreites" zwischen "Realismus" und "Nominalismus", "Materialismus" und "Idealismus" zu sein.) Die "Naivität" des Sokrates scheint mir eben ein Stück weit darin zu bestehen, jedem Menschen die gleiche Befähigung zur Vernunft zuzuerkennen, wohingegen eine unbefangene Beobachtung der Menschen zu dem Schluß führen muß, daß sich die meisten Individuen nicht von der Vernunft und deren Sehweise des gleichen Wesens aller Menschen leiten lassen, sondern von den Werturteilen von Verstand und Emotio. "Humanistische Handlungen" können nur aus einer vernünftigen Sehweise erwartet werden, die sich nur aus dem Zusammenspiel von Veranlagung und Umweltkonditionierung ergeben kann. Da die "vernünftige" Konditionierung der Individuen jedenfalls in den meisten westlichen Demokratien zwar in der Tradition vorhanden ist und in der Erziehung und einem breiten Bildungsangebot wirksam werden will, bleibt nur der Schluß, daß die individuelle Disposition des überwiegenden Teils einer Generation nicht zu einer individuellen und vernünftigen Reflexion in der Lage ist(3). Hingegen ist die Fähigkeit zur Instrumentalisierung der Vernunft, sich also ihrer als Mittel zur Verfolgung von Zwecken des Verstandes bzw. der Emotio zu bedienen, weit verbreitet. Dies führt zu der heute verbreiteten Auffassung von "pragmatischer" Ethik, etwa bei Peter Singer, daß man die Menschen zu "humanistischen" Einstellungen ermuntern sollte, weil es für sie selbst nützlich sei – in anderen Worten: die Menschen sollen aus Egoismus ethisch handeln, aus Verstandesgründen vernünftig sein – eine solche "Ethik" steht meines Erachtens theoretisch auf dem Kopf, hat aber den praktischen Vorteil, die Prinzipien von Verstand und Vernunft zu verbinden bzw. der Ausstattung des überwiegenden Teils der Individuen zu entsprechen. Falsch jedenfalls ist sicher der unfruchtbare Rigorismus einer rein vernünftig-idealistischen Ethik wie etwa bei Kant, weil hier der Mensch nicht gesehen wird, wie er wirklich ist, sondern Forderungen erhoben werden, wie man ihn gerne hätte. Mit letzterem und Hegel(4) schließt sich jener Kreisbogen der Metaphysik, der einst bei Sokrates, Platon und Aristoteles begann, und idealistisch das Sein über das Seiende, das Allgemeine über das Individuelle erhoben hat. Nach dem Durchlaufen dieses Kreisgangs der Vernunft sind wir zu der Erkenntnis des Sokrates am Beginn desselben zurückgekehrt: Scio nescio. Dies war der Grund, weshalb Heidegger den Griechen meinte vorwerfen zu sollen, die "Gründung des Seins" am Beginn der Vernunft verfehlt zu haben, und so wollte er sie mit "Sein und Zeit" als einer "phänomenologischen Fundamentalontologie" überbieten; so richtig mir dabei seine Einsicht des Rücklaufes in den Anfangspunkt des abendländischen Denkens scheint, so falsch seine metaphysische Konsequenz. Der Gang der weiteren kulturellen Evolution des Menschen wird sicherlich nicht von Gedanken aus dem philosophischen Elfenbeinturm bestimmt werden, sondern von den wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten des Menschen, die in der medialen Vernetzung, der Computerisierung des Wissens und in der naturwissenschaftlichen Forschung das Bild des Menschen von sich selbst verändern können. Gestatten Sie mir an diesem Punkte eine Spekulation: Stehen wir heute nicht an einer ganz ähnlichen Stelle wie einst jene als "Vorsokratiker" bezeichneten Naturforscher, die mit ihren Gedanken über Natur und Mensch jenes abstrahierende Denken und dessen eigenständige Konditionierung als Vernunft in die Welt brachten? Nicht in einer weiteren Abstraktion auf das "Wesen des Wesens" wie schon bei Spinoza am Beginn der Reflexion der Vernunft und noch bei Heidegger, sondern durch die Erweiterung unseres Wissensbestandes etwa in der Quantenphysik wie in der Kosmologie, in der Biogenetik und der Neurobiologie werden neue Sehweisen möglich, die das Denken der und vom Menschen zu ändern in der Lage sind. Mit dem Computer und der KI einerseits und der Aufklärung der DNA-Doppelhelix hat der Begriff "Information" eine ganz neue Bandbreite gewonnen. Vielleicht erschließt ja die Aufhellung der "Informationsverarbeitung des Lebens selbst", aber auch in der anorganischen Materie, noch ganz andere Zusammenhänge? Nun, das hier als Spekulation Bezeichnete bitte ich auch nur als solche zu nehmen – geht es mir hier doch wie einst dem ironischen Sokrates: meine "innere Stimme" rät mir da niemals zu, sondern allenfalls ab... T.R.: Interessant ist Ihre Auffassung, daß Gerechtigkeit dem zeitlichen Diskurs unterliegt und Ideen einer Art evolutionärer Auslese unterliegen können. Somit sehe ich auch den kulturhistorischen Beitrag aller drei Autoren ein. Natürlich sind auch vor Platon schon tyrannische Regierungsformen entstanden und nach ihm auch. Aber man kann auch sehen, daß es Platons Idee des Führertums zu verdanken ist, daß so viele seiner Schüler später fürchterliche Tyrannen wurden.(Dion, Kallipos, Klearchos, Chion, insgesamt neun) Bevor sie jedoch ausreichend Regierungspraxis bekamen, wurden sie alle umgebracht und nicht selten durch ihre engsten Freunde. Platons Höhlengleichnis ist erkenntnistheoretisch von unerreichter Symbolhaftigkeit. Wenn Platon allerdings von den Philosophenkönigen redet, dann schlage ich mich reflexiv auf eine der beiden Seiten, die Sie erwähnten Herr Walther: Auf die Seite der schärfsten Kritiker, wie ich betonen muß. Denn Platon führt die gezielte Lüge als Mittel des Herrschers ein, um die Volksmassen zu ihrem "Besten" zu täuschen, wie er eilig hinzufügt. Wahrheitsliebe ist für Platon kein allgemein gültiger Anspruch sondern politisches Kalkül. Nirgends tritt deutlicher zu Tage, wie sehr er jede Verbindung zu seinem ehemaligen Lehrer und dessen Intellektualismus gezielt abschneidet, als bei der Verkündung der Hoffnung, daß selbst die Herrscher in einigen Generationen seinen Propagandalügen glauben schenken werden. (Rassenlehre, Mythos von Blut und Boden usw.) Zu Beginn fordert er die gezielte Irreführung ja nur für die Beherrschten, nicht für die politische Elite. Platon selbst führt seinen Mythos unverdeckt als gezielten Betrug ein. Doch ich könnte Ihnen noch eine Reihe von Beispielen aufzeigen, in denen Platon getarnt betrügt, wie er glaubt. Das ist sehr intelligent, was Platon da veranstaltet. Er schafft es, seine ärgsten Kritiker auf seine Seite zu ziehen. Das Paradebeispiel eines durchschnittlichen Politikers, könnte man ihn keinesfalls nennen. Nun könnte man sicherlich einwenden, daß die Überredung eigentlich nicht Lüge sei, und daß die Zeit Platons eine solche drastische und praxisorientierte Theorie brauchte. Sokrates hatte ihm gezeigt, daß große Entwürfe nicht individuelle Erkenntnis sein können. Er hatte ihn mehrfach auch deswegen kritisiert. Er entfernt sich von Sokrates nicht besseren Wissens, sondern besserer Ambitionen wegen! Dem von Ihnen skizzierten Kreisgang der Metaphysik stimme ich zu. Wie werden bestimmt noch weiteres zu diesen Dingen sagen können. H.W.: Zunächst möchte ich das Thema Sokrates/Platon und deren heutige Bewertung (zumindest einstweilen) außer Diskussion stellen – es sei denn, die Bedeutung der griechischen Troika für die Phylogenese des Denkens wäre anzusprechen –, da wir m.E. inzwischen unsere sicherlich differierenden Standpunkte ausgetauscht haben, und womöglich der eine vom anderen durchaus auch aus der jeweils differierenden Perspektive etwas mit aufgenommen hat – dabei mag es denn einstweilen sein Bewenden haben. Allerdings mag ich es mir nicht verkneifen, auf einen kleinen Widerspruch zu verweisen, wenn Sie einerseits dem Platon die Verantwortung für bedenkliche Entwicklungen in der kulturellen Genese der Menschheit vorhalten, andererseits aber behaupten, daß "sich Geschichte nicht wiederholt", sei ein "hypothetischer Allsatz", "uneingeschränkt gültig für biologische Systeme". Andere "Startbedingungen" führten zu anderen Ergebnissen, wie es uns etwa auch die Chaostheorie lehren will (gegen deren überzogene Anwendung allerdings wohl einiges einzuwenden wäre...), und so liegt ja der positive oder negative Effekt einer "Idee" außerhalb ihrer eigenen Reichweite – und so müßten Sie Platon Ihrer eigenen Theorie folgend mithin "freisprechen"? Anmerkungen: "... Gerechtigkeit scheint zu sein, daß jeder das Seinige verrichtet." (Staat 433b) "Ich kann mich nicht ‘selbst erkennen’, wie der Delphische Spruch sagt, da erscheint es mir lächerlich, solange ich hierüber noch in Unkenntnis bin, das Fremde zu betrachten." (Platon, Phaidros 229e) Die Zwillingsforschung hat denn auch gezeigt, daß die genetische Veranlagung gegenüber der Konditionierung durch die Umwelt meist übergewichtig ist. Nicht umsonst betont auch Hegel die Rolle des Staates.Sie sind der . Besucher seit dem 27.01.2001.
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