Moral und Ethik
oder : Von der Kunst,
Begriffe zu unterscheiden


I. Herkunft und Begriffsgehalt

Warum ist es einerseits so schwierig, andererseits immer noch nötig, sich heute mit Ethik zu beschäftigen, wenn die Philosophen doch schon seit etwa 2400 Jahren (Demokrit) über diese Probleme nachdenken? Seither wurden unzählige Systeme der Ethik erdacht, und doch wissen wir anscheinend auch heute noch nicht rational zu begründen, warum es besser sein soll, ein sittlich gutes als ein unmoralisches Leben zu führen, beziehungsweise gehen die Meinungen nach wie vor weit auseinander, worin eigentlich ein gutes Leben besteht, und wie wir beurteilen können, ob das eine gut, das andere jedoch schlecht sei.

Drei hauptsächliche Kriterien lassen sich als Beurteilungsgrundlage für die "Güte" eines Lebens ausmachen: der Nutzen und das Glück für den Einzelnen beziehungsweise die Gemeinschaft, die "vernünftige Tugend", etwa als "Humanismus" (was immer das heißen soll), und die religiöse Sanktionierung. Moral, Ethik und Religion sind Phänomene des menschlichen Geistes; aus diesem gleichen Ursprung stehen sie in einem inneren Zusammenhang, der zu Verwechslungen und Gebietsübertretungen Anlaß gab und gibt – so auch in Singer’s "Praktischer Ethik", wenn moralisches und ethisches Verhalten nicht geschieden beziehungsweise jeder Zusammenhang von Religion und Ethik abgelehnt wird. Die Verwirrung rührt daher, daß man offenbar die Begriffe für die genannten Phänomene als eindeutig definiert und bekannt voraussetzt: Moral und Ethik werden als austauschbare Begriffe gehandelt, die einer näheren Erläuterung nicht bedürfen, und was der Begriff Religion meint, weiß schon jedes Kind. Wirklich?

Auf diese Weise vergißt man, um mit Heideggern zu reden, die eigentliche Anfangsfrage zu stellen, was denn diese Phänomene an sich seien, um vielmehr sofort mit der "Grund"frage zu beginnen, wie beziehungsweise worauf diese zu (be)gründen seien. Ein solcher Versuch bleibt notwendig in einem circulus vitiosus gefangen, weil das nämliche Vermögen, das diese Phänomene an das Licht der Wirklichkeit zog, innerhalb seiner selbst die Begründung dieser Phänomene liefern will: es ist die Vernunft des Menschen, die die ethischen Phänomene ebenso wie die Hochreligionen als Metaphysik gebar, und die sich jetzt mit ihrer eigenen Metaphysik schwertut. Es bedeutet immer noch Gefangenschaft in der Metaphysik der Vernunft, wenn die ethischen Werte als "apriorisches Sittengesetz" gefaßt werden, denen gegenüber gar eine "Liebespflicht" (!) bestehe (Kant): hier wird nicht begründet, sondern gefordert. Jedoch übersteigt andererseits diesen zweiten "Alleszerstampfer" Kant jedenfalls im Grundprinzip wohl keine nachfolgende Philosophie, und zwar aus einem objektiven Grund: mit Kant und dessen Selbstreflexion der Vernunft hat diese Vernunft ihr letztes Stadium erreicht, mehr als die Durchreflektierung ihrer selbst einschließlich aller vor ihr liegenden Vermögen vermag Vernunft nicht zu leisten.

Jene Reflexion vermag Vernunft aber nur zu leisten im rechten Stellen der Anfangsfrage – dies aber kann nicht sein die Frage nach den von ihr hervorgebrachten Phänomenen, sondern anhand dieser Phänomene muß zurückgefragt werden auf das Wesen der Vernunft selbst, was diese im Zusammenhang des menschlichen Geistes, und was dieser Geist des Menschen sei. Ohne die Beantwortung dieser Frage bleibt jeglicher Versuch zur Gründung von Ethik oder Religion beliebig und subjektiv; Utopismus oder Mitleiden sind dann in Wirklichkeit unbegründete existentielle Entscheidungen des Individuums, denen die Vernunft einen rationalen Schleier leiht. Hierher gehört der Schopenhauersche Pessimismus ebenso wie Nietzsches "Wille zur Macht"; bildet Heideggers metaphysisch-hohle Vernunftmystik den Höhepunkt der Verschleierungskunst, so gibt Popper das Gegenstück: den Offenbarungseid der ratio, daß sie über das positive Wesen der Welt nichts auszusagen weiß, und sich deshalb auf Mitleid und Falsifikation zurückgeworfen sieht, euphämistisch "Humanismus" genannt, der in Wirklichkeit positive Werte nicht beinhaltet. Werte wie "Freiheit" und "Demokratie" haben nur noch eine Art negativen Wertbezug, insofern sie selbst nicht mehr auf ein positives Ziel hin gerichtet sind, sondern einen Zustand bezeichnen sollen, in dem die Minimierung von Leiden und Zwängen das Maximum an individueller Freiheit gewährleisten soll, von der aber niemand weiß, wozu diese letztlich gut ist. Gerade auf das wichtigste Bedürfen des Menschen gibt Popper und der Kritische Rationalismus keine Antwort: wie kann der Mensch nach dem Zusammenbruch der hergebrachten Religionen wie des Idealismus wie der Ideologie seinen vornehmsten Antrieb, seine lebendige Innerlichkeit, einbinden? Worauf bezieht er aktiv seinen lebendigen Geist und seine Freiheit? Mit der Falsifikationsmethode macht man zwar weniger Fehler – aber heißt das richtig leben?

Eine Form unter vielen anderen möglichen ist zwar auch die Lebenshaltung des Kritischen Rationalismus. Es ist jedoch schwer einzusehen, warum Vertreter dieser Richtung einen anderen Ausdruck des menschlichen Geistes, etwa die Religion, verteufeln statt sie zu verstehen suchen. Wo bleibt da die Geistesfreiheit für die Religion? Solange man sich zu dieser antithetisch verhält, steht man prinzipiell noch auf dem gleichen Boden. Sind Philosophie und Religion nicht Schwestern, Kindern einer Mutter? Und sollte man, anstatt einen Apostata hochzuschätzen, nicht lieber darüber nachdenken, ob unser heutiges Denken, auch dasjenige des Kritischen Rationalismus, nicht nur deswegen möglich ist, weil wir gerade auch durch die Schule des Christentums gegangen sind? Um die Vernunft in die Breite und Höhe zu treiben, bedurfte es ganz anderer Mittel, als dies Rationalisten a posteriori scheinen mag.

Um die Frage nach der Gründung von Ethik beantworten zu können, muß als Anfangsfrage diejenige nach dem menschlichen Geist gestellt werden, was zunächst zu einer zweifachen Unterscheidung nötigt:

a) Der Begriff "Geist" muß in einer doppelten Bedeutung verwendet werden, nämlich einmal als funktioneller Begriff, der das menschliche Vermögen Ratio bezeichnet; zum zweiten als existentieller Begriff, der das lebendige Zentrum des Individuums meint, den "Kern der Person", den Geist, aus und in dem jedes Individuum lebt.

b) Der funktionelle Begriff Geist muß in seine unterschiedlichen Vermögen Verstand und Vernunft geschieden werden, wie er sich in phylogenetischer Entwicklung und auch heute noch in ontogenetisch-individueller Vermischung zeigt.

Damit kehren wir zur Einleitung zurück, in der ganz bewußt die Rede ist von Moral und Ethik als Phänomenen des menschlichen Geistes. Warum hat die Sprache hier zwei verschiedene Worte? Weil sich das damit Ausgedrückte unterscheidet; statt die Begriffe zu vermengen, gilt es sie kategoriell auseinanderzuhalten. Dies lehrt schon ein oberflächlicher Blick, wenn man auf die Bedeutung und Herkunft der Begriffe sieht, wie es schon Aristoteles in seiner "Politik" empfiehlt: "Die beste Methode dürfte ... es sein, daß man die Gegenstände verfolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln."

Das griechische "ethos" (Sitte) ist etymologisch verwandt mit "ethnos" (Volk), beides geht zurück auf "etho" und bedeutet zunächst soviel wie "zusammenwohnen" und von da aus "gewohnt sein" (s. die gleichartige Bildung im Deutschen von "wohnen" zur "Gewohnheit" und die Herkunft von "Sitte" aus "situ": "von eigener Art", also die Beobachtung von bestimmten Eigenarten, die aus der an bestimmte Gegebenheiten angepaßten Tradition stammen). Meint "ethos" also zunächst Sitte, Gewohnheit, so schlägt der Begriff mit dem Dreigestirn Sokrates, Platon und Aristoteles in doppelter Weise um: Ethik bedeutet nunmehr die Lehre von den Sitten, untersucht das Wesen des Menschen, um den Weg zum "wahren Guten" zu ermitteln (s. etwa die "Nikomachische Ethik" des Aristoteles); es kommt nunmehr nicht so sehr auf die einzelne Sitte (ethos) an, als vielmehr auf die Gesinnung und Geisteshaltung (das Ethos/aethos).

Moral als "mores maiorum" meint zunächst die "Sitten der Alten", die auf Grund ihrer örtlich-zeitlichen Bewährung im Wege emotional-utilitaristischer Konditionierung in den Traditionsbestand einer Gruppe eingegangen sind. Allerdings stammt auf Grund der römischen Eigenart das Wort "mos" aus einer ganz anderen Wurzel: "heftiges Streben", "Mut" meint die ursprüngliche Bedeutung, also die Be- und Überwältigung der Umwelt durch Regeln – man denke an das römische Organisationsgenie. Wenn also Cato Maior die Seinen zum "mos maiorum" aufruft, meint er ganz anderes als blutleere Sittlichkeit oder nostalgische Rückwendung zur Tradition; vielmehr zielt er auf die "innere Moral" ab, die einerseits auf hergebrachter Rechtschaffenheit basiert, andrerseits sich der Welt auf dieser Basis aus innerer Kraft stellt. In ähnlicher Weise sprechen wir noch heute etwa von "moralischer Standhaftigkeit", die aus der innerlichen Stabilität des Individuums stammt. Im Sprachgebrauch werden heute Ethik und Moralphilosophie gleichgesetzt – auch dies weist auf den unterschiedlichen Begriffsgehalt. Im Hinblick auf den Begriff "Moral" hat übrigens zu Recht schon die französische Aufklärung festgestellt, daß diese von örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten abhängig ist, und daß somit verschiedene Moralen nebeneinander existieren. Aber auch verschiedene Ethiken? Doch nicht, denn Ethik erwächst aus einem ganz anderen Boden, entstammt einer ganz anderen Kategorie und erweist sich trotz völlig unterschiedlicher örtlicher und zeitlicher Herkunft in ihren Kernpunkten zu allen Zeiten und überall als völlig gleich, wenn auch einzelne Anschauungen oder Begründungen bezüglich der (einen) Ethik sich über die Zeiten ändern.

Anders ausgedrückt: Moral verdankt sich dem Verstand des Menschen, Ethik der Vernunft, womit wir die zwei verschiedenen Kategorien des Menschen vor uns haben. Diese Unterscheidung ist zwar nicht neu, so hat sie schon Kant(1) und Hegel gesehen, auch Schopenhauer hält sich über die Verschiedenartigkeit dieser Vermögen auf, doch hat man bisher weder das Wesen noch die Bedeutung dieses Unterschiedes recht zu fassen gewußt. Erst die Beachtung dieses Unterschiedes erlaubt eine eigenständige Gründung der Ethik.

In ihrem Entstehungszeitpunkt (global gesehen seit dem 8. Jh. vC: Verwandlung der indischen Religion bis hin zum Buddha, Verwandlung der jüdischen Religion bis zu Jesus, griechische Philosophie von den Vorsokratikern über Platon/Aristoteles bis zu den Stoikern) ist Ethik zunächst Metaphysik als die Frage der sich eröffnenden Vernunft nach dem Wesen des Menschen; die Rezeption der Vernunft führt zu ganz anderen Werten als denjenigen der Moral der Alten. Erst in der Abwendung von den auf das Außen berechneten Werten der Moral (Stärke, Schönheit, Macht) wird die verinnerlichte wahre Tugend möglich. Warum ist die Zeitenwende eine solche, warum setzt sie sich global gleichzeitig durch? Weil sich im Gang seiner eigenen Entwicklung ein neues Bild des Menschen von sich selbst auftut, das nicht mehr auf seinem Verstand, sondern auf seiner Vernunft basiert. Um den Gehalt dieser Wertvorstellungen aus der Metaphysik zu befreien, ist es nötig, das Funktionale herauszuarbeiten, das offenbar überall notwendig zu im Kern gleichen Ergebnissen führt, weil es auf gleichen Strukturen beruht. Es hilft nichts, bevor wir die Frage nach der Ethik stellen, müssen wir die Frage nach diesen Strukturen und damit nach dem Menschen stellen, nach seinem Geist. Denn Ethik als das Gesamt der Kommunikationsregeln der Vernunft erwächst aus den Erkenntnissen der Vernunft; diese Erkenntnisse sind aber unlöslich damit verbunden, als was und auf welchem Hintergrund diese Erkenntnisfähigkeit sich selbst sieht. Damit bestimmt bereits die Sehweise des Vernunftvermögens alle entscheidenden Grundkriterien und -prinzipien der Ethik, und deshalb ist das Vorausgehen einer Erkenntniskritik unerläßlich. Soweit diese hier nicht fortgeführt wird, ist sie schon in den "Kategorien der Innerlichkeit" wie im "Ende der Metaphysik" geleistet; für die Ethik ergeben sich folgende Konsequenzen:

1. Unter Ethik versteht man die Verhaltensnormen der Vernunft, die im Wege von deren Rezeption als Wesensuntersuchung des Seienden ins Licht der Wirklichkeit gezogen und im Verlaufe der Reflexion der ihnen anhaftenden Metaphysik entkleidet wurden. Als solche stehen die Normen neben denjenigen Normen der anderen Vermögen des Menschen (Instinkt, Empfindung und Verstand), aber sie stehen auch über jenen, weil mit dem neuesten und bislang höchsten Vermögen hervorgebracht. Die vorhergehenden Normen werden von den ethischen Normen ebenso gehemmt, sublimierend modifiziert und erhöht, wie Vernunft selbst eine Hemmung, sublimierende Modifikation und Erhöhung des Verstandes ist. Aus einer umfassenderen Warte lassen sich diese Normen funktional als Verhaltensmuster fassen, welche als solche auf allen Ebenen des Lebens, sei es auf vegetativer, instinktiver oder empfindender Ebene hervorgebracht wurden: jedes Vermögen des Lebens rezipiert neuartige und qualitativ höhere Verhaltensmuster und reflektiert diese. Warum fragt man nicht nach einer Begründung für das mit der Emotio als richtig Erfühlte, warum nicht nach einer Begründung für das mit dem Verstand für recht Erachtete? Weil uns dies Selbstverständlichkeiten der Altvermögen sind, wie uns ebenso die ethischen Normen zur Selbstverständlichkeit werden müßten.

Sollte der Mensch, indem er die ethischen Normen verwirklicht, der Entwicklung des Lebens, die bis zu ihm hin führte, und sich selbst nicht ein Ende setzen, so wäre zu erwarten, daß Ethik ebensowenig der letzte Kodex der Verhaltensnormen ist, wie einst die Moralen der Ethik wichen.

2. Ethik bedarf keines Zusammenhanges zur Religion, denn ihre Normen basieren auf einem menschlichen Vermögen. Jede wirkliche Hochreligion enthält per se ipsum die nämlichen ethischen Normen, weil sie auf dem nämlichen Vermögen Vernunft gründet. Im Gegensatz dazu entstammen die Volks- und Nationalreligionen der ersten Kategorie, dem Verstand. Dieser Gegensatz wird auch heute noch spürbar etwa in allen wiederauferstehenden fundamentalistischen Strömungen, welche Vernunft und Ethik im Rückgriff auf die emotionale Konditionierung über Bord werfen. Dieser Rückgriff stammt aber gerade daher, daß die Durchreflektierung der Vernunft den Hochreligionen den Boden entzogen hat, sodaß der überwiegend erstkategoriell geprägte Teil der Menschheit sich die Ziele seiner Existenz aus der ihm je schon näherstehenden Ästhetik entnimmt. Im übrigen haben alle Hochreligionen in variierendem Umfang das Wesen der Volksreligion auf- und angenommen, um die weitüberwiegende erstkategorielle Schicht der Menschheit einbinden zu können – die schlimme Geschichte und die Auswüchse des Christentums zeigen den langen Weg, den diese Hochreligion brauchte, um den wesentlichen Gehalt dessen freizulegen, was ihr die Kraft zur Weltreligion verlieh: ethische Normen der zweiten Kategorie und der lebendige Bezug zur Transzendenz.

Andrerseits entwertet die Auflösung der Hochreligionen die Normen der Ethik keineswegs, sondern verhilft ihnen ganz im Gegenteil erst zu ihrem eigentlichen Recht, weil in der Akzeption dieser Normen der Mensch sein Wesen als Vernunftwesen annimmt. Erst in dieser Trennung und in der Verselbständigung der Ethik als den derzeitig gültigen Verhaltensnormen der Immanenz wird auch der Blick frei auf das Wesen der Transzendenz; denn das Heilige beziehungsweise Numinose ist den Hochreligionen im Wege der Reflexion der Vernunft ebenso entzogen worden, wie einst die Reflexion des Verstandes den Volksreligionen deren Heiliges austrieb. Transzendenz gehört der Innerlichkeit des Individuums an, wo Ethik auf das gesellschaftliche Verhalten unter Menschen zielt.

3. Zu unterscheiden sind die inneren Gehalte von Moral, Ethik und Religion, denn sie stehen in einem direkten Bezug zu dem Vermögen, aus dem sie hervorwachsen. Moralität, wie sie etwa Cato Maior versteht, meint die selbstverständliche Einhaltung des hergebrachten "mos maiorum" als Sittenstrenge seitens jedes einzelnen Gemeinschaftsmitgliedes und zielt auf die Behauptung und Erhöhung der eigenen Gemeinschaft; Ethos meint die Sittlichkeit als Grundhaltung des Individuums und zielt auf die Anähnlichung an das sittliche Ideal zur Erhöhung des Menschen und dessen Gesellschaftsverfassung. Auf der gleichen Folie wie Moral und Ethik, also Verstand und Vernunft, erwächst jeweils auch eine unterschiedliche Religiosität, die sich in jeweils eigentümlicher Weise mit den Verhaltensnormen verbindet und diese sanktioniert. Allerdings gehen alle Hochreligionen sofort in ihrem Entstehungszeitpunkt eine undurchdringliche Vermischung mit den erstkategoriellen Religionsformen ein, was in einer insgesamt erstkategoriellen Umwelt jedoch nicht weiter verwunderlich ist. Aus dieser Vermischung entstehen all jene Unzulänglichkeiten, die von den Gegnern der christlichen Religion beredt beklagt werden, weil das Wesen der zweitkategoriellen Hochreligion nicht von ihrer notwendig erstkategoriellen Ausformung getrennt wird. Um diesen Sachverhalt kurz deutlich zu machen: das Grundprinzip jeder Hochreligion auf Basis der Vernunft ist die Liebe zwischen dem einen Gott und Mensch, Gott ist die unaussagbare Allmacht. Ganz anders der Mensch der Volksreligion auf der Basis des Verstandes: er unterwirft sich seinen Göttern, er verehrt und pflegt (!) sie im Kult (das "do, ut des" des Verstandes), Götter werden auf der Folie des Menschen gedacht. Die Ausformung der christlichen Lehre und des Kultes stellt sich dann als eine zur Anpassung an eine bestimmte Umwelt notwendige Vermischung zwischen erst- und zweitkategorieller Verfaßtheit dar – alles Rituelle und Äußerliche des Christentums hat weniger etwas mit jenem Jesus zu tun als vielmehr mit denjenigen Menschen, die allein die Lehre annehmen konnten und sollten. So sind die meisten bedenklichen Gehalte wie Jungfrauengeburt, Wunder, Himmel und Hölle, Marien- und Heiligenverehrung, Intoleranz, Durchsetzung der Lehre mit Gewalt, durchgängig erstkategorieller Herkunft, beziehungsweise stammen sie aus den vorlaufenden Volksreligionen und stehen in einem inneren Widerspruch zu den zentralen Aussagen des Nazareners, der Erkenntnis des Leidens, dem "sola fide" – wider jeden Werkglauben und Ritus – und dem Doppelgebot. Allein diese drei Punkte sind es, welche dieser wie jeder anderen Hochreligion ihre Kraft verliehen, welche sie auf zwei Jahrtausende wirksam bleiben ließ – weil genau dies mit dem strukturellen Wesen und dem inneren Gehalt der Vernunft übereinstimmt: den Menschen als Individuum zu befreien, diese Freiheit in der Welt sittlich einzubinden und den Menschen mit dem Leiden, als welches die Welt der Interpretation der Vernunft erscheint, zu versöhnen.

II. Glück und Ethik

Ethik ist die Zusammenfassung der Regeln des Zusammenlebens auf der Basis der Vernunft; diese Regeln besitzen keinerlei Teleologie, sondern sind ebenso funktioneller Natur wie diejenigen des Verstandes als Moral. Die Teleologie dieser Regeln stammt nicht aus der Ethik selbst, sondern aus der inneren e.v.-Bewertung. Der Verstand reagiert mit seinem emotional zurückgebundenen e.v.-Zentrum letztlich intellektuell unbewußt auf den Nutzen, also das, was Individuum und Gruppe zuträglich beziehungsweise abträglich ist; sein Ziel ist die Macht, seine Weise das Haben-Wollen. Hingegen reagiert die Vernunft bewußt in der Verifizierung über den Verstand auf das "Gute": als das Zusammenleben der Individuen nach ihren Prinzipien; ihre Weise ist das Sein-Wollen (im Sinne von Gesinnung).

Glück und Ethik verhalten sich wie Inhalt und Form. Ethik als Formalbestand kann und soll Glück nicht definieren, sondern das Regelwerk bereitstellen, damit die sich kategoriell unterscheidenden Glückstatbestände der Individuen verwirklicht werden können. Angesichts der myriadenhaften und unterschiedlichen Glücksvorstellungen kann diese Glücksteleologie nicht allgemeingültig inhaltlich festgestellt werden, sondern wiederum nur als formaler Tatbestand: Glück besteht in der Verwirklichung des jeweiligen Selbst innerhalb einer Gemeinschaft. Diese Selbstverwirklichung jedem Mitglied auf seine Weise zu garantieren, solange diese gemeinschaftsver- oder gar zuträglich ist, ist Aufgabe der Regeln der Ethik.

Ethik hat daher auch nichts mit Transzendenz zu tun, auch wenn sie als Metaphysik jenseits des Verstandes in ihrer Entstehung selbst dessen Transzendenz war. Als metaphysische Transzendenz war Ethik zunächst völlig zurecht religiös gebunden, s. etwa bei Laotse und Konfuzius, bei Buddha, bei Jesus, wie auch bei den Griechen (Pythagoräer, Platon) – jeder Zusammenstoß mit der Transzendenz, sei es in der phylogenetischen Umwertung, sei es in der individuellen e.v.-migratio, wird als religiöser erlebt.

Die ethischen Prinzipien sind identisch mit den Wesensbestimmungen der Vernunft, wie sich diesem Vermögen die Entelechie des menschlichen Wesens einschließlich seiner selbst als durchreflektiertem zeigt. Das "Gute" ist das Wertprinzip der Vernunft und damit der Ethik, wie es der Nutzen für den Verstand und die Moral ist. Das "Gute" als das Wertprinzip des e.v. der Vernunft ist nicht unbedingt identisch mit dem "Richtigen" als dem Vermögensprinzip. So lassen sich Fälle denken, wo nur eine Entscheidung zwischen mehr oder weniger "schlechten" Möglichkeiten offensteht; das "Richtige" ist ethisch gesehen dann die Wahl des am wenigsten "Schlechten", das damit aber noch lange nicht "gut" wird.Vielmehr ist dann nur die Gesinnung des so Wählenden "gut".

Wenn das Glück Selbstverwirklichung ist, so gibt es ebensoviele Glücksvorstellungen, wie es kategoriell verschiedene Individualitäten einschließlich der jeweiligen besonderen prägenden Umstände gibt. Gleichzeitig sollten die differierenden Glücksvorstellungen einer ebensolchen objektiven Wertung unterliegen, wie die Kategorieverschiedenheit ja durch verschieden "hohe" Auswicklungen der Vermögen des Menschen und deren e.v.-Vernetzung bedingt ist. Diese objektive Bewertbarkeit ändert nichts an der Tatsache der subjektiven Gleichwertigkeit aller solcher Vorstellungen. Verwirklichung des Selbst bedeutet, die eigene Entelechie auszufüllen, den diesem Selbst in seiner Veranlagung und Auswicklung entsprechenden "Platz" zu finden. Das bedeutet gleichzeitig, daß das eigene Glück als Selbstverwirklichung immer verwiesen ist auf die umgebende Gesellschaft, in der allein sich das Selbst als kommunizierend tätiges verwirklichen kann. Deshalb wird das jeweils eigene Glück auch immer im Zusammenhang zum "Glück" der eigenen Gemeinschaft stehen müssen, weil jede individuelle Verwirklichung ein Teil der Gesamtverwirklichung einer Gesellschaft ist. Am umfassendsten glücklich wird daher jene Gesellschaft leben, die allen Mitgliedern die Verwirklichung ihrer je eigenen Glücksvorstellungen ermöglicht, weil auf diese Weise die verschiedensten Beiträge das Gesamtleben und die Gesamt-"Güte" einer Gesellschaft bereichern. Jedes Glückstreben ist insoweit auf das "Gute" bezogen, als nach Aristoteles ja alles Seiende nach irgendeinem Gut strebt. Was das Gute eines Menschen sei, wird individuell bestimmt vom Sitz seines e.v. als Bewertungszentrum, wohingegen sich das Gute der Gesamtgesellschaft bestimmt nach der Auswicklung der Vermögen und der Stellung des e.v. in der Tradition dieser Gesellschaft. Von daher wird es immer eine Spannung zwischen dem Einzelglück des Individuums und der Auffassung von Glück in der Tradition geben, die heute nach der Reflexion der Vernunft entsprechend diesem derzeit höchsten Vermögen für und von der Gesellschaft aufgefangen wird: jedes Glückstreben des Einzelnen findet seine Grenze an den Grundregeln der Ethik für das Zusammenleben der Menschen.

III. Wille und Ethos

Wille ist im Grunde aktive Kommunikation als Verwiesenheit des Seienden. Alles Seiende "will", weil alles Seiende in seiner Weise auf anderes Seiendes verwiesen ist. Die Art und Qualität des Willens hängt ab vom jeweils höchsten Vermögen des Seienden: Begehren/Emotio, Wünschen/Verstand, Wollen/Vernunft. Ebenso, wie das Begehrte nicht in der Wahl des Vermögens liegt, was es will: so will das Begehren Lust, das Wünschen den Nutzen – ebenso für das Wollen der Vernunft: das "Gute" zu wollen, wollen zu müssen, liegt außerhalb ihrer selbst, ist notwendig, weil das "Gute" geradeso das vorgegebene Entscheidungskriterium für die Vernunft ist, wie es die Lust für die Emotio und der Nutzen für den Verstand ist. Kein Mensch fragt danach, warum man sich für die Lust wie für das Nützliche a priori entscheidet – ebenso gilt dies für das Gute der Vernunft.

Das "Gute" wollen, den eigenen Nutzen wünschen, dem Begehren folgen – in allem spricht sich die notwendige Annahme der eigenen Lebendigkeit als Verwiesenheit der aktiven Kommunikation aus: lebendig sein heißt kommunizieren, kommunizieren "um etwas willen" – und so sagte schon Aristoteles zurecht, daß alles Seiende "irgendein Gut erstrebe". Was das jeweilige Vermögen in Bewegung setzt, ist das Erstrebte. Die Entscheidung für den Nutzen oder das Gute liegt nicht im Vermögen, ist nicht individuell: dem Verstandesmenschen steht es ebensowenig frei, das Nützliche nicht zu wollen, wie es dem Vernunftmenschen nicht freisteht, das "Gute" nicht zu wollen. Allerdings ist hier kein Platz für Metaphysik oder ein "Sittengesetz" a la Kant. Vielmehr liegt die Notwendigkeit der Befolgung im wie bewußt auch immer angenommenen Ja zum eigenen Leben als dieses Seiende entsprechend der Weise des eigenen obersten Vermögens. Da nichts Seiendes existiert, das Nein zu sich sagt (sonst würde es damit seine Existenz aufheben), entscheidet sich alles Seiende vorindividuell als dieses Seiende, das seiend sein will, eben damit auch für das der eigenen "Art" und dessen Vermögen entsprechende "Gute". Wille will dasjenige, was das individuell Seiende ist als aktive Verwiesenheit des höchsten Vermögens: der Mensch will a priori Mensch sein, d.h., als Mensch der Vernunft will er gut sein, weil dies identisch ist mit Menschsein auf dieser Ebene.

Das "Nichtgut-Sein" eines Menschen ist insoweit eine privatio ("steresis") dieses individuellen Daseins, als ein solches nicht an der bislang erreichten höchsten Form des Menschlichen teilhat (als Wesensteilhabe – "methexis"), nicht teilhat am "Guten" der Vernunft, was verschiedene Gründe haben kann, unter anderem die Vernunft selbst! Privatio, Einschränkung ist dies deshalb, weil das jeweils neueste und höchste Vermögen einer Art, derzeit die Vernunft am Menschen, eine neue Entschränkung des "um wessen willen" für das ganze Seiende, das Seiende im Ganzen, ist, demgegenüber die Vorformen als Einschränkungen erscheinen. Die Vernunft wird dann der Feind des "Guten", wenn sie sich auf sich selbst allein stützt – als Verbindung des e.v. mit der Vernunft in der Verwechslung der Vernunft mit e.v., anstatt zu sehen, daß das eigentlich "Gute" außerhalb ihrer selbst liegt als das Lebendige/Innerliche, dessen Modalitäten durch sie, die Vernunft, nur geformt werden sollen. Die privatio des unvernünftigen Daseins ergibt sich als Nichtteilhabe an der Vernunft und das nur durch jene zu vermittelnde "Gute" von selbst; aber auch vernunftbegabte Menschen können insoweit eingeschränkt sein hinsichtlich des Lebendig-Guten, als jedes individuelle Dasein eine Mischung mehrerer Vermögen ist, weshalb der "Wille zum Guten" der Vernunft durch die älterkategoriellen Vermögen und deren "Willen" eingeschränkt werden kann, solange das Individuum die e.v.-migratio in die Vernunft mittels aktiver Erkenntnis nicht vollzogen hat: Erkenntnis-Wissen (im Gegensatz zum erlernten) ist gleich Wollen, weshalb der alte Sokrates zugleich Recht und Unrecht hatte! Denn dies Wissen ist gerade nicht lehrbar wie jener glaubte, sondern es ist ein selbsterarbeitetes und ereignetes Wissen als Wesensübereinstimmung zwischen Wissen und Selbst: nur dieses "Wissen" hat die "Tugend" zur Folge.

Alles Seiende ist Wille, weil es "um etwas willen" Seiendes ist; Seiendheit und kommunikative Verwiesenheit sind identisch – hier liegt auch der Widersinn in Schopenhauer’s Auffassung: als ob es Seiendes ohne dies "um etwas willen", ohne aktive Kommunikation, geben könnte. Seiend sein und Wille sind identisch, beides wird als Eines gesetzt. Dann ist jedoch die Verneinung des Willens ein Unding, eine Unmöglichkeit; müßte man doch damit auch das eigene Seiend-Sein verneinen – Schopenhauer aber will seine Seiendheit durchaus behalten (was immer noch Wille ist), um im Musikgenuß den Willen auszuhängen – er will den Kuchen behalten und doch zugleich vertilgen.

Jedes Seiende ist dabei einer doppelten Privation unterworfen:

– individuell, wenn es die in seiner Art liegenden Fähigkeiten des diese Art ausmachenden höchsten Vermögens (die Verwirklichung der Entelechie des Wesens dieser Art) nur unvollständig in der Realität auswickelt.

– vorindividuell, indem jedes Vermögen im und des Seienden (mit Ausnahme des jeweils letzten und damit höchsten Vermögens, derzeit die Vernunft des Menschen) durch ein höheres Vermögen überlagert wird, sodaß von dem jeweils höheren aus alle niedrigeren Vermögen als Privation erscheinen.

Seiend-Sein und Beschränkt-, Begrenzt-Sein sind aber ebenfalls identisch; denn alles Seiende ist es nur dadurch, daß es vom anderen um es Seienden abgegrenzt ist. Das bedeutet, daß es Seiendes ausschließlich als privatio geben kann, Seiendheit a priori "steresis" ist. Wendet man auf diese beiden Urteile ("Alles Seiende ist Wille", "Alles Seiende ist Beschränkung") den Syllogismus des Aristoteles an, so erhält man den Schluß: privatio ist gleich Wille.

Was heißt das? Es ist die Einschränkung selbst, die den Willen ausmacht, nicht im Sinne von Kausalität, sondern als Identität: Eingeschränkt-Sein und Wollen sind dasselbe, sind die zwei Seiten einer Medaille. Das Seiend-Sein "um etwas willen" geht damit in der Grundakzeption dieser eigenen Seiendheit gegen die beiden Formen der Beschränkung als individueller (Ontogenese gerichtet auf die Entelechie des eigenen Wesens) und vorindividueller (Phylogenese im Vortreiben der Vermögen) an und bewirkt dadurch das Werden als eine gerichtete Entwicklung.

Wie jedes durchreflektierte Vermögen schließt auch die Vernunft zuletzt die Willensfreiheit aus: was bei Platon und Aristoteles noch wie beseligende Freiheit sich ausnimmt, ist in Wirklichkeit (und a posteriori gesehen) selbstgemachter e.v.-Genuß innerhalb der Vernunft. Diese "Freiheit" der Rezeption, in der der Mensch glaubt, das Universum neu von sich her auszumessen und die rechte Verhaltensweise im eigenen "nous" als Freiheit entdecken zu können, wird nach der Durchreflektierung der Vernunft zu einer unausweichlichen Notwendigkeit, zu einer ebensolchen Selbstverständlichkeit, wie es der Nutzen des Verstandes beziehungsweise die Neigung der Emotio ist. Diese notwendige Selbst-Verständlichkeit ist kein kategorischer Imperativ, keine petitio prinicipium, etwa gar als "Liebespflicht" – es ist vielmehr die eigenständige Verselbständigung dieses Vermögens Vernunft als einer Selbstverständlichkeit (in jedem Sinne), die eine andere Möglichkeit nicht zuläßt. Emotio, Verstand und Vernunft "kennen" das ihnen jeweils Zuträgliche, hier ist keine Wahl, hier sind nur Motive. Freiheit im eigentlichen Sinne ist immer nur möglich in der Transzendenz des bisherigen obersten Vermögens. Aristoteles darf und muß daher von der Willensfreiheit ausgehen, wir können und dürfen es nicht mehr, was die Vernunft anlangt ... womit wir wieder (und endlich) einmal beim Heiligen angelangt wären, in dem allein Willensfreiheit ist: sich zu ihm zu verhalten – oder nicht. Freiheit ist eine Frage des e.v., und nicht des Vermögens.

IV. Ethik und Entelechie des menschlichen Wesens

Das Problem der Ethik ist nicht ihre Begründung, sind nicht ihre Regeln, sondern besteht in zweierlei:

– ihre Durchsetzbarkeit angesichts der Kategorieverschiedenheit der Menschen.
– ihr innerstes Prinzip, ihre Wertigkeit angesichts der Leere der Vernunft als Vermögen.

Ebenso wie das Vermögen Verstand gleicht das Vermögen Vernunft einer Waage: in die eine Waagschale gibt man den zu entscheidenden Sachverhalt, in die andere den zu erwartenden Nutzen (aus Verstandes-e.v. oder Emotio) und beobachtet, ob im Austarieren der Waage sich die Vorstellung vom Ergebnis des Sachverhalts mit der Vorstellung vom erwarteten Nutzen ausgleicht. Was aber ist der Nutzen der Vernunft über die reine Richtigkeit und über den "allgemeinen Nutzen" hinaus, wenn es um lebendige Fragen geht, also um nichtfestgestellte Gebiete (festgestellte Gebiete lassen sich aus den zugehörigen Vermögen immer ohne weiteres entscheiden)?

Es ist sehr nützlich, Sklaven zu halten (bis heute etwa in den Entwicklungsländern, wo selbst Kinder unter sklavischen Bedingungen arbeiten müssen). Obwohl aber bereits die Rezeption der Vernunft bei den Sophisten zu einer vereinzelten Ablehnung der Sklaverei geführt hatte, konnte die Überdeckung der Vernunft durch den e.v. nach der Zeitenwende etwa einen Kirchenvater Augustinus dazu veranlassen, die Versklavung von Menschen für gottgewollt und damit gerechtfertigt zu halten. Ein Beispiel dafür, wie sich Religion irren kann, wenn sich der Mensch einseitig auf den e.v. setzt. Denn Sklaverei ist ethisch nicht richtig, weil es der dafür zuständigen Erkenntnis der Vernunft von der Gleichwertigkeit der Menschen widerspricht. Benutzt ein Mensch einen anderen in dieser Weise, degradiert er ihn in Bezug auf sein Mensch-Sein, wie es sich der Vernunft in der Gleichwertigkeit der Individuen zeigt. Die Vernunft legt also als ihren Wert auf die Waagschale die Entelechie des Wesens des Menschens, wie es sich ihr zeigt und wie sie meint, daß das Zusammenleben allgemein gestaltet sein sollte. Dieses "Sollen" ist keine petitio principium, kein kategorischer Imperativ, sondern lediglich die Feststellung einer Differenz: daß zwischen dem Zustand, den Vernunft mit ihren Mitteln als das richtige Zusammenleben von Menschen in der Entelechie des menschlichen Wesens anstrebt, und dem tatsächlich-zeitlichen Zusammenleben ein erheblicher Unterschied besteht. Es handelt sich nicht um eine Forderung, sondern um ein Meßurteil, ein Abwägen zwischen Entelechie und Realität. Welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, ist ein ganz andere Frage.

Die Antworten des Verstandes auf die ihn betreffenden Fragen sind deshalb leicht, weil sie aus einem festgestellten Vermögen und Wert stammen, und so gesehen unlebendig sind. Die Probleme entstehen aber aus der Notwendigkeit einer lebendigen Reaktion als "nichtfestgestelltes Tier". Alles Festgestellte weiß genau, wie es sich zu verhalten hat; nur das Nichtfestgestellte hat keinen Rahmen, der endgültige Antworten erlaubt. Diese Antworten "ins Offene" auf lebendige Fragen sind es gerade, welche im rechten Treffen der e.v.-getragenen Entscheidungen die Entwicklung des Menschenwesens weitertreiben einmal in Richtung auf Verwirklichung der Entelechie der vernünftigen Ethik, zum andern über die Ethik hinaus.

Die Inkommensurabilität der wichtigsten Fragen mit der Ethik verweist darauf, daß Antworten darauf nicht von der Vernunft aus sich selbst gegeben werden können, sondern daß sie hierin nur Vermittlerin des e.v. ist. Kommensurabel, der Vernunft zu- und angemessen, sind die Wesensfragen, die aus der piktographischen Richtigkeit = Gleichheit als "Wesens"-Fragen entschieden werden können – dies trifft auf Lebensfragen nicht zu, weil diese nicht auf Gleichheit beziehungsweise ein von der Vernunft "festgestelltes" Wesen zurückgeführt werden können.

Ethik ist die Kommunikationsweise der Vernunft und als solche das Bemächtigen von Welt mit Vernunft; Religion und recht verstandene "erste" Philosophie sind das Bemächtigen von Welt mit e.v.. Die Weise des e.v. ist lebendig-innerliche Kommunikation ("Liebe"); die Kommunikationsweisen von Vernunft, Verstand, Emotio und Instinkt sind Vermögenskommunikation, welche Vermögen zu Strukturen des jeweils Seienden werden und nach e.v.-migratio und Reflexion deren Bestand bilden. Erkenntnis wird zur Eigenstruktur, Wissen zur Fremdstruktur. Bloßes Wissen führt so zur Entfremdung des Menschen von sich selbst, ähnlich den unreflektierten Emotionalkonditionierungen: Faktizität im Sartreschen Sinn, die Verlorenheit ans Man Heideggers, das nicht zu sich selbst Kommen des Wissens als ausbleibende Reflexion. Die eigentliche Transzendenz als Hervorbringen des Selbst ist aber noch einmal etwas anderes als die reflektierende Einwohnung ins Rezipierte: das "Verwirklichen der Möglichkeit", das Erreichen der "Eigentlichkeit" ist ein wahrhaft transzendierender Akt als das Hervortreiben eines originären Selbst auf der Basis des e.v., das sich schöpferisch als neue Seinsweise ereignet. Denn die Innerlichkeit leidet an der Selbstfremdheit, und dieses Leiden wird zum Motor der Reflexion wie zum Anlaß der Transzendenz der zuletzt erreichten Gleichzeitigkeit des Ich mit sich als durchreflektiertem.

Das Verstandesprinzip des Nutzens ist in verschiedener Hinsicht unbewußt:

a) individuell, wenn der Nutzen nach emotionalen Kriterien entschieden wird: das gefühlsmäßig Gewünschte beziehungsweise Abgelehnte.

b) überindividuell, insofern die Einschätzungen des Verstandes, was dem Individuum nutzt oder schadet, in großem Umfang traditionell, aber unbewußt konditioniert sind.

So, wie der Verstand, um Nutzen zu erlangen, das Rechte treffen muß, ebenso muß die Vernunft das Richtige treffen, um das sittlich Gute zu tun. Der Nutzen der Vernunft ist als Wert das Gute, und das Gute ist das Richtige. Die Konditionierung und Sanktionierung dieses "Guten" hält die meisten Menschen mehr oder weniger dazu an, dies Gute zu tun, das damit in Konkurrenz zum Nutzen tritt. Diese Umwertung ist so diametral, daß der Verstandesmensch den Vernünftigen von seiner Warte aus zu Recht für verrückt erklären muß, wenn letzterer ausgerechnet die Uneigennützigkeit für gut erklärt. Begibt er sich damit doch nach Meinung des ersteren des einzigen Maßstabes, den der Mensch lebendig in sich wahrnehmen kann. Im übrigen "verifiziert" der Verstand seine "Abstraktionen" des Nützlichen geradeso über die Emotio, wie Vernunft den Verstand zum Nachweis ihrer Abstraktionen benutzt.

Dagegen wird der Vernünftige einwenden, daß er in sich die "Stimme des Gewissens" höre, die ihn zu solchem Tun dränge. Der Inhalt des Gewissens sind mehr oder weniger bewußt die Regeln und Sätze der Vernunft, die diese im Laufe ihrer Rezeption und Reflexion entwickelt und bestätigt hat, wie dies ebenso einst war beim Verstand und dessen Auswickeln des Nutzens. Diese Sätze gehören, soweit sie in die Tradition eingegangen sind und den Indivduen aus dieser entgegenkommen, ebenso zum Bestand des Menschlichen wie diejenigen des Nutzens.

V. Das Prinzip der gleichen Erwägung aller Interessen

Die "gleiche Erwägung aller Interessen" ist kein Satz a priori, sondern eine petitio principium der Vernunft wie jede andere Utopie auch. Denn diese Forderung macht sich nicht bewußt, woher das Axiom der Gleichheit kommt, das hier statt fur die Gleichheit der Individuen, deren Behauptung inzwischen unhaltbar geworden ist, "nurmehr" auf die Gleichrangigkeit von deren Interessen abstellt; diese "Gleichheit" ist nach wie vor eine Forderung aus dem Wesen der Vernunft, ein "logisches Axiom" aus der Wesensschau der Vernunft in Bezug auf den Menschen, welches als Wesen für jedes Mitglied der Spezies die gleichen Möglichkeiten als objektiv erreichbare (wenn auch nicht unbedingt als subjektiv vollziehbare) bereithalten muß. Ein Axiom, welches so der Verstand noch gar nicht kennen konnte, weil für ihn die menschliche Spezies vor allem aus unterschiedlichen Einzelnen besteht, und für den die "Gleichheit" vor allem im Nutzen für die eigene Gruppe besteht, jedoch unter Zugrundelegung einer Rangordnung innerhalb der Gemeinschhaft; Gleichheit bedeutet hier Gruppenzugehörigkeit im Sinne von gleicher Art und gleichem Stamm, niemals aber von gleichem Recht!

Die Gleichrangigkeit ist eine unabweisbare und notwendige Forderung aus der Funktionsweise der Vernunft, damit aber natürlich immer noch eine Forderung, die gleichzeitig die Verschiedenartigkeit der Individuen in ihrer Einzelausprägung berücksichtigen muß, die in der Realität allzumeist und -oft zu großen Ungleichheiten in den Rechten führt. So behauptet ja etwa der Kapitalismus, in dieser Hinsicht die beste denkbare Gesellschaftsordnung zu sein, weil in seinem (angeblich) "freien Spiel" der Kräfte jedes Individuum in der Lage sei, sein Wesen wie weit auch immer es nur selbst wolle, zu entwickeln. Und doch führt gerade dieser Kapitalismus zu einer wesentlichen Verschärfung der Gegensätze und der Ungleichheit, je "freier" man die Kräfte "spielen" läßt. Weil der Mensch in seiner Spezies über zwei Vermögen verfügt, deren Zusammenwirken erst die Realität ausmacht, so tragen beide auf ihre Weise zu dieser und zur Sicht von dieser bei. Der ideale Gesichtspunkt der Wesensgleichheit, auf der die Forderung nach Chancengleichheit und Gleichrangigkeit der Interessen beruht, gerät dabei notwendig in Widerspruch zur realen und vom Verstand wahrgenommenen Ungleichheit der Individuen, die sich dem "intellegiblen Charakter" des Menschen in sehr unterschiedlicher Weise annähern, und dieser Widerspruch wird umso schärfer, wenn die Fähigkeiten der Vernunft im Dienste des Verstandes (und damit des Eigennutzes) angewandt werden, ohne das in derselben Vernunft vorhandene Gesetz der Wesensgleichheit zu beachten. Denn die dem Verstand überlegene Vernunft verschärft die Ungleichgewichte dann in einer Weise, zu der Verstand allein niemals in der Lage wäre, weil auch er in seiner Weise an die Gemeinschaft zurückgebunden ist – welche Rückbindung aber von der Vernunft als für sie überholt nicht vorhanden ist. Skrupellosigkeit ist die Bezeichnung für ein solches Verhalten, das mit der Vernunft die Rückbindungen des Verstandes über Bord wirft, ohne sich doch dafür an die Wesensbindungen der Vernunft zu halten.

Das Gesagte legt nahe, daß es ein Prinzip, an dem sich alle Handlungen des Menschen ausrichten lassen, allein schon deshalb nicht geben kann, weil der Mensch seit dem Eintritt in die Ethik aus zwei Vermögen heraus handelt. Das neuere Vermögen hat zwar das ältere "anzuleiten"; wenn es sich aber als das alleingültige setzt, unter der doppelten Nichtbeachtung

a) daß es nicht das einzige Vermögen des Menschen ist;

b) daß die meisten Menschen gar nicht zur Vernunft kommen können (contra Kant: es handelt sich hierbei nicht um eine Selbstverschuldung, sondern um ein schuldloses Unvermögen),

so ist das Scheitern und der Mißbrauch vorprogrammiert. Sollte es also überhaupt ein einfaches Prinzip geben, auf das sich die Ethik zurückführen läßt, so kann dies nicht allein aus der Funktion der Vernunft als der Wesensschau gewonnen werden (der Fehler, der auch Kant unterlief, obwohl er doch wußte, daß die Vernunft nur dazu da ist, um das Allgemeine aus dem Einzelnen abzuleiten – womit sie jedoch keinerlei eigenen Wertmaßstab zu begründen vermag!) – und das tat Vernunft ja auch gar nicht. Vielmehr wendete sie in dem Versuch der Schaffung eines eigenen Prinzips ihre Verallgemeinerungsfunktion auf das Prinzip des Verstandes an, den Nutzen – und so wurde aus dem Eigennutz der angebliche allgemeine Nutzen als Prinzip der Sittlichkeit – der kategorische Imperativ in nuce. Damit hatte die Vernunft aber erstens in dieser Notehe mit dem Verstand ihre Reinheit und Jungfräulichkeit verloren, und zweitens ist auf diese Weise das Problem des ethischen Grundprinzips nicht zum Stehen zu bringen: das "Gute" des Nutzens ist ein anderes "Gut" als dasjenige der Vernunft! Der qualitative Wechsel der Wertebildung kann so nicht eingefangen werden, sonst landete man wieder beim Empirismus und Positivismus, Subjektivismus und Relativismus.

Was bislang fehlt, ist die Verschmelzung der Systeme Vernunft und Verstand in der Weise, wie Verstand und Emotio miteinanderwirkend in uns vorhanden sind: zwar überprüft die Vernunft seit Aristoteles ihre Ergebnisse anhand des Verstandes (erste und zweite Substanz), ebenso wie es der Verstand ganz fraglos hält, indem er die Emotio zur Überprüfung des Nutzens zu Rate zieht; es fehlt aber die Selbstverständlichkeit des Ineinandergreifens, wie es Emotio und Verstand tun, weil und seit es Vernunft gibt. Die Dualität zwischen Fühlen und Denken, sie meint ja gerade nicht einen Widerspruch zwischen Fühlen und Verstand (wie auch: Fühlen ist doch in Verstand übersetzte Empfindung), sondern sie meint den Widerspruch zwischen Vernunft und einem Verstand, der sich in der Empfindung rückversichert! Verstand und Fühlen sind seither dermaßen zu einer Einheit geworden, daß kaum jemandem der Unterschied zwischen beiden auffällt, sondern daß beide das Gegenüber der Vernunft bilden.

Erst das Erscheinen des neuen übergeordneten Vermögens stellt jeweils die Zusammenarbeit der darunterliegenden Vermögen fest. Mithin ist zu erwarten, daß eine ähnlich selbstverständliche Zusammenarbeit wie zwischen Verstand und Emotio zwischen Vernunft und Verstand erst möglich wird, wenn sich ein weiteres Vermögen im Menschen beziehungsweise über den Menschen hinaus eröffnet, womit der Typus der zweiten Kategorie denn festgestellt wäre. Es muß mithin ein Prinzip gefunden werden, das Verstand und Vernunft übergreift. Dies wird aber wohl erst dann der Fall sein können, wenn der "Odysseus der Vernunft" an der Vernunft "vorbeigeht", sprich, eine erneute Hemmung, als Eröffnung eines weiteren vertikalen Neuronenbestandes, der Vernunft ein neues Vermögen überlagert.

Das Vernunftprinzip der Gleichwertigkeit der Individuen verleitet leider auch oft dazu, den Gedanken der Verschiedenartigkeit zu tabuisieren, offenbar weil man davon ausgeht, daß die Konstatierung dieser Varietäten zum Mißbrauch derselben und zu einer bewußten Ungleichbehandlung einlade. Dadurch wird aber in einer verkehrten Weise das Wissen des Verstandes verdeckt und die daraus notwendig folgenden Konsequenzen, die wir in und als Realität ja denn auch wahrzunehmen haben, daß es ganz offensichtlich sowohl zwischen den Individuen wie auch zwischen den Rassen Unterschiede gibt, aus denen sich, ob wir das wollen oder nicht, ob wir es gutheißen oder nicht, sich ganz allein schon faktisch eine Rangordnung in der kommunizierenden Wirklichkeit ausbilden muß. Wenn die Vernunft aus eigenem schlechten Gewissen (nämlich aufgrund des Mißbrauches ihrer selbst) hier die Augen vor dem Wissen ihres eigenen Verstandes verschließt, so werden die Ungleichheiten hinter dem Schleier einer angeblichen Gleichheit dennoch aufeinanderprallen und wegen dieser offiziellen Unsichtbarkeit die Ungleichheit noch verstärken.

Auch daraus geht hervor, daß ein Prinzip der Ethik, basierend allein auf Vernunft, fehlerhaft sein muß, wenn es nicht die gewachsene Realität der Emotio und des Verstandes miteinbezieht. Gleichzeitig ist das Prinzip des "allgemeinen Nutzens" als einer bloßen Abstraktion des Nutzens des Verstandes ungeeignet, weil es den qualitativen Sprung vom Verstand zur Vernunft auf der Wertseite nicht berücksichtigt. Die Wertinterpretation des e.v. der Vernunft ist etwas anderes als eine bloße "Verbreiterung" des Nutzen des Verstandes: sie ist zunächst und zurecht idealistisch. Das Scheitern des Idealismus in der Realität sagt noch lange nichts über den Wert des Ideals aus. Vielmehr sagt das Scheitern nur soviel, daß auch schon im Idealismus sich die Vernunft fälschlicherweise allein als Maßstab gesetzt hat. Deshalb aber den Idealismus über Bord zu werfen, hieße, ohne Not das Kind mit dem Bade auszuschütten. Vielmehr muß der Idealismus der Vernunft mit dem Realismus des Verstandes zusammengesetzt werden, die lebendige Wertesetzung muß aber von der Vernunft angeleitet werden, sich aus ihrem e.v.-Bezug bestimmen. Was dem e.v. des Verstandes die Lust am Seienden ist, das ist dem e.v. der Vernunft die Liebe zum Wesen(tlichen). Vernunft hat nicht nur eine Funktion als Abstraktionsvermögen, sondern vor allem eine lebendige Aufgabe in der Erhöhung der Kommunikation als ein Sein, das sich wesentlich zueinander verhält. "Gut Sein" heißt im Sinne der Vernunft, die Entelechie des Wesens des Seienden herauszubringen, den "intellegiblen" Charakter in Realität umzusetzen: die Wesensbestimmungen der ethischen Maßstäbe der Vernunft zur Grundlage der Realität zu machen. Die Selbstverständlichkeit des Ethos als Gesinnung muß den Willen des Verstandes nach Nutzen ebenso überlagern, wie jener die Wünsche der Emotio überlagert, ohne sie damit anheimzugeben.

Da natürlicherweise immer nur relativ wenige Menschen zu einer echten Gesinnungsethik in der Lage sind, muß die Einhaltung des ethischen Regelbestandes ebenso gesichert werden, wie dies der Verstand mit seinen Regeln den individuellen Gefühlen gegenüber tat, die sich dem Nutzen der Gemeinschaft beziehungsweise der leitenden Gruppe nicht beugen wollten. Diese nämliche Erfahrung mußte auch schon Luther machen, der zuerst dafür hielt, daß es genüge, wenn jeder einzelne Mensch das Wort Gottes selbst erfahren könne – weshalb er die Bibel ins Deutsche übersetzte. Sehr bald aber wurde er sich seiner idealistischen Blauäugigkeit bewußt und revidierte seine Auffassung vom Menschen dahin, daß nur sehr wenige in der Lage seien, von sich selbst aus im religiösen Sinne "gut" zu sein, der große "Rest" aber müsse durch Gesetze und Strafandrohungen zu entsprechendem Verhalten "angeleitet" werden, weshalb er sich zu diesem Behufe mit den Landesherren verband.

(1) Kants Werke, Akademie-Ausgabe, Band III. (2. Aufl.) S. 427 : "Die Vernunft hat ... nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstand."


Sie sind der  Counter. Besucher seit dem 06.01.1999.  
Dank für diesen Counter an   http://www.digits.net/