Der Heilsgedanke und das Numinose

Helmut Walther (Nürnberg)


Diese Gedanken entstanden einst wandelnd auf den Spuren von Nietzsche in Sorrent; nachfühlend, wie er hier 1876/77 sein "Menschliches Allzumenschliches" aufschrieb, in Diskussionen mit Paul Rée, Albert Brenner und Malwida von Meysenburg ("Nietszche habe ich niemals so lebhaft gesehen. Er lachte vor lauter Freude." (1)), an der Stätte der letzten Begegnung zwischen ihm und Richard Wagner. Auf einer Felsspitze über dem Meer am Golf von Neapel sitzend, im Blickfeld den fast immer von einigen Wolken gekrönten Vesuv, den Booten mit den Augen folgend, die nach Capri und Ischia hinüberfahren, ließ sich jenes Glücksgefühl leicht nachvollziehen, das den Deutschen nach Italien zieht.–

Bekanntlich hatten die Alten eine andere Vorstellung vom Heiligen als wir Heutigen, das sie vom Profanen unterschieden und darunter den dem Göttlichen geweihten Bereich verstanden: die zerlegende Empirie weist dem Gebanntwerden durch die transzendente Erfahrung einen anderen und außerhalb des Profanen gelegenen Bereich zu, wohingegen nach der Zeitenwende, und darauf weist bereits die Begriffszusammengehörigkeit von "Heil" und "Heilig" im Deutschen hin, die Reflexion dazu nötigte, diese beiden Bereiche als und in der Innerlichkeit zusammenzubinden. Seither steht im Zentrum des Göttlichen weniger die Erfahrung des Ausgesetzt- und Gebanntseins, dessen unerfindliches Wirken es zu beeinflussen gilt, als vielmehr das Vertrauen auf das Heil, welches die Gottheit dem Menschen zu wirken vermag – das aber setzt die Erkenntnis einer im Unheil befindlichen Menschheit voraus. Diese Umkehrung ist es, welche die Zeitenwende erst zu einer solchen macht: der antike Mensch geht von einer grundsätzlichen Befindlichkeit im Heil aus, dessen vorübergehende Störungen es zu beheben gilt. Im Stadium der Leitungsübernahme durch die Vernunft, die das Christentum wie den Buddhismus hervortreibt, findet sich der Mensch grundsätzlich im Unheil vor, aus welchem ihn nur die Gottheit zu erlösen vermag. Dies weist darauf hin, daß offenbar in den verschiedenen, auch heute noch nebeneinander vorhandenen Kategorien sich prinzipiell unterscheidende Heilsvorstellungen und -erwartungen herrschen. Nur vordergründig ist die Begrifflichkeit des Heils, des Heilens (als der Aktivität zu diesem Heil hin) und die Vorstellung einer "heilen" Welt (mit der Betonung auf dem adjektivischen Begriff und dessen Schwingungen) die nämliche. Auf die Gemeinsamkeit der Verwendung in den verschiedenen Ausprägungen der Vernetzung von Verstand und Vernunft gesehen, ist lediglich der Grundgedanke identisch: das Heilen zielt auf die Herstellung eines Heilszustandes, der offenbar als gestört empfunden wird. Nun ist die Feststellung geradezu banal, daß die Definition dieses Heilszustandes direkt abhängig ist von der individuellen Konditionierung und der daraus hervorgehenden neuronalen Vernetzung, denn je nachdem, ob sich das Wertezentrum des Individuums in Emotio, Verstand oder Vernunft befindet, wird es zu völlig verschiedenen Auffassungen dessen gelangen, was sein Heil ausmache beziehungsweise wodurch es gestört sei.

Weniger banal ist es schon, einmal danach zu fragen, was an welcher konkreten Ausprägung zu den jeweils spezifischen Heilserwartungen führt? Zwar soll in allen Fällen des Heilens ein aus seiner gehörigen Ordnung gefallenes "System" in dieselbe zurückgeführt werden – doch haben wir inhaltlich damit etwas ausgesagt? Ja und nein: ja, weil offenbar alle Menschen davon ausgehen, daß es eine Art "vorbestimmte Ordnung" geben müsse, aus welcher man wodurch auch immer gefallen sei (s. etwa die "Erbsünde"); nein, weil wir keine für alle individuellen Ausprägungen gleich gültige Antwort haben, wie diese Ordnung eigentlich beschaffen zu sein habe, wie sie her- beziehungsweise wiederherzustellen sei (wenn sie denn existiert haben sollte). Dieses Nichtwissen gilt ja doch schon für die Ärzte, wenn sie auf dem rein leiblichen Sektor ans Heilen gehen – um wieviel mehr muß dies für den Bereich der Vorstellungen und deren Kategorialität, insbesondere im Hinblick auf das Numinose gelten? So sehen wir zwar immerfort durchaus alle Menschen nach ihrem Heile – meist nennen sie es "Glück" – streben, aber dieses Streben an sich ist schon das einzig allen Gemeinsame(2). Die Ausgangslage, das Un-Heil, dem sie sich ausgesetzt wähnen, wie das Ziel, in welchem dessen Aufhebung erlangt werden soll, sind grundverschieden. Die erste Frage hat demnach zu sein: ist der Mensch wirklich und grundsätzlich im Unheil – oder ist dies ein bloßes Wähnen? Sollte jedoch wirklich eine Lage des Un-Heils erkennbar sein: wie und aus welcher Ordnung fiel der Mensch heraus, was ist seine Heilslage?(3)

Dies ist die Stelle, um nach den objektiven Gegebenheiten des menschlichen Existierens zu fragen, und zwar vergleichend mit seinen Mitgeschöpfen. Sind diese doch offenbar nicht in gleicher Weise gezwungen, im Un-Heil zu leben, denn sie streben nicht in gleicher Weise wie der Mensch nach irgendwelchen Erfüllungen, sondern halten sich samt und sonders im Rahmen ihrer Art, welche Notwendigkeiten ihnen diese vorschreibt. Für den Menschen bedeutet dies umgekehrt, daß aus dem objektiven Gesichtspunkt eine Art sich dann offenbar noch nicht im Heilszustand befindet, solange sie ihre Ordnung als eine befriedende und befriedigende Einordnung in die sie umgebenden natürlichen Systeme noch nicht erreicht hat, das heißt, daß sie durch und mit diesen anderen Systemen noch nicht festgestellt ist. Nun ist aber gerade der Mensch als Träger des lebendigen Stromes der Evolution mittels seines Geistes (kulturelle Evolution) das "nichtfestgestellte Tier" (Nietzsche); von daher wäre es geradezu zu erwarten, daß er sich auf Grund dieser Offenheit nach vorne in seiner laufenden Entwicklung gar nicht im Zustand des Heils befinden kann.

Gilt aber für den Einzelnen ebenso selbstverständlich, was für die Art gelten mag? Oder ist ersterer durch die konkrete Gestaltung seiner Anlagen in einer je bestimmten Umwelt vielmehr nicht doch festgestellt? Die Antwort wird hier zweifach ausfallen müssen: Der Eintritt des Festgestelltseins wird dann anzunehmen sein, wenn sich der konkrete Einzelne, wie er sich als Produkt von Onto- und Phylogenese vorfindet, innerhalb der bis zu ihm hin erreichten tradierten und konditionierenden Werte zufriedengeben kann und muß; sein ihn feststellender Lebensplan folgt dann einer durch ihn selbst (gleichgültig, ob bewußt oder unbewußt) festgelegten Spannung: von einem Ausgangspunkt in der Immanenz zu einem durch Emotio oder Ratio konditionierten Zielpunkt ebenfalls in der Immanenz. Das Heil wird hier grundsätzlich als ein in der Immanenz erreichbares angesehen – dies ist aber nichts anderes als die Fortsetzung des "tierischen Heilsgedankens" und eine individuelle Feststellung. Nichtfestgestellt und damit zumindest zunächst heil-los ist nur derjenige (und über derartig Ausgestattete wiederum die Spezies selbst – und so gesehen in einem weiteren Ausgreifen dieses Gedankens nicht nur die Spezies, sondern das gesamte Leben und selbst noch das Anorganische, soweit es sich der Spezies und deren Nichtfestgestelltheit zur Verfügung stellt ...), der sich trotz und wegen der auch auf ihn wirkenden Faktoren Anlage und Umwelt mit der Tradition und deren Konditionierungen nicht zufrieden geben will und kann – so wird er zum "Versuchstier der Evolution" werden.

Eine einfache und eindeutige Antwort, die die Heilsbedingungen für den Einzelnen wie für die Art umschreibt, ist aus dem objektiven Gesichtspunkt der verschiedenen Vernetzungsmöglichkeiten zwischen Emotio, Verstand und Vernunft offenbar nicht möglich; zwar folgen die meisten Menschen einem festen Lebensplan innerhalb der tradierten Werte (egal wie bewußt konditioniert beziehungsweise gleichgültig, ob unter der Leitung von Emotio oder Ratio), wodurch sie sich objektiv in einem geschlossenen System bewegen, dessen Wege und Ziele prinzipiell rationaler Beurteilung zugänglich sind. Soweit sie sich mithin dieserhalb im Unheil wähnen, so nur auf Grund eines Irrtums oder unrichtiger Einordnung von gegebenen Fakten. Indes wird dieser Wahn nur allzusehr dadurch unterstützt – was gleichzeitig das Ausweichen vor eigentlich nötigen Konsequenzen aus Fehleinschätzungen erlaubt –, daß sich die Gesamtheit der Art eben doch in der (kulturellen) Evolution befindet und durch ihre "Fortschritte" den subjektiven Konditionierungs- und Orientierungsrahmen, und dies heutzutage mit zunehmender Beschleunigung, zu sprengen scheint. Zugleich führt die ungehemmte Innovation durch die Wissenschaften, die ebenfalls dieser kulturellen Evolution des Menschen als der Ausschöpfung des in seiner Ratio liegenden Potentials zuzurechnen ist, zu Zusammenstößen mit den umgebenden Umweltsystemen, deren Wirkungen ähnliche Ängste auslösen wie einst das Erdbeben von Lissabon: über alle individuellen, vernetzungsbedingten Sehweisen hinweg wird dem Menschen ein Bewußtsein davon aufgenötigt, daß die Ratio nicht in der Lage ist, die beste aller Welten und damit das Heil zu schaffen. Diese doppelte Rückwirkung der kulturellen Evolution auf alle vorhandenen festgestellten Vernetzungsmöglichkeiten bringt eine Art indirekte Unheilslage hervor, denn der Normalmensch würde doch etwa wie folgt argumentieren: "Für mich selbst, in meinem eigenen Rahmen, wäre soweit alles durchaus in Ordnung, wenn nur nicht diese und jene Umstände, die zu beeinflussen ich nicht imstande bin, ständig meine Planungen durchkreuzen beziehungsweise mir Zukunftsängste aufzwingen würden!" Demgegenüber wäre jenes andere "Un-Heil" aus "selbstverschuldeter Unmündigkeit" (um hier mit Kant zu reden) als uneigentliches Unheil zu bezeichnen: der eigentlich festgestellte Normalmensch, der sich von Emotio, Verstand oder Vernunft anleiten läßt, wäre durchaus in der Lage, "sein Glück zu machen", wenn nicht eine subjektive Unzufriedenheit hinzuträte, welche aus einer unrichtigen Handhabung der eigenen Emotio beziehungsweise Ratio erwächst. Ungenügende Selbstkenntnis führt dazu, daß man im Verhältnis zur eigenen Anlage falsche Zielvorstellungen hegt (und im Falle des Ausbleibens "unglücklich" ist), beziehungsweise daß man deren Durchsetzung in einer vorgegebenen Umwelt falsch einschätzt. Die bei den meisten Menschen vorhandene Apriorität der Emotio wird sie dann darauf schließen lassen, daß ihnen hier etwas eigentlich Zustehendes vorenthalten wird, wo in Wirklichkeit die eigene Erwartungshaltung das Empfinden von Unheil erst schafft. Denn wenn jeder solche (und dies ist auch die Grundannahme der Freud’schen Psychoanalyse – nur so weit reicht sie) sich selbst innerhalb des ihm gezogenen Rahmens nur recht zu erkennen und zu akzeptieren vermöchte, so wäre er durchaus in der Lage, den angestrebten Heilszustand zu erlangen. Dieser "zufriedene" Typus existiert auch in mehr oder weniger angenehmen Spielarten: von einer geglückten ästhetischen Ausgewogenheit bis hin zum selbstgerechten Ethiker. Voraussetzung ist jedenfalls, den eigenen emotionalen und rationalen "Haushalt" zur Deckung zu bringen (gleichgültig, wie bewußt diese Arbeit geleistet wird) und sich dann in realistischer Einschätzung der eigenen Anlagen sowie deren Durchsetzungsfähigkeit und -möglichkeit erreichbare Ziele zu stecken. Da aber all diese Bedingungen nur selten zusammentreffen, wird sich die überwiegende Mehrzahl der Menschen zumindest in einer dieser Beziehungen unzufrieden empfinden, so daß mithin deren Unheilssituation einerseits als eine uneigentliche, andererseits als eine nur indirekt echte zu bezeichnen wäre.

Auch noch der "Ausnahme-Ethiker": darunter sind jene selteneren Idealisten zu verstehen, welche unter Leitung der Vernunft an das "Gute" und dessen Machbarkeit glauben, und dies auch wirken wollen – um es an Personen beziehungsweise Positionen festzumachen: auch Kant und Hegel wären hierher zu rechnen, welche sich aus den Hervorbringungen der Vernunft letztlich den idealen Staat und damit eine "im besten Sinne" festgestellte Menschheit erwarten; oder jene ebenfalls seltenen wahrhaften Kommunisten (wobei der Marxismus ja nur eine Spielart des Hegelianismus ist), deren Modell heutzutage als an der Wirklichkeit gescheitert über Bord geworfen worden ist; oder jene "ethischen Macher" (wie etwa der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt), welche das Heil in der blanken Rationalität des Besseren, mithin des kleineren Übels suchen, auf das Beste sind sie gar nicht mehr aus (so gesehen könnte man solche auch als bloße Verwalter des Unheils bezeichnen) – jedenfalls: dieser Typ des Ethikers, dessen phylogenetische Blüte und Berechtigung wohl mit der Renaissance anzusetzen ist, auch er sieht das Heil des Menschen im Prinzip für machbar an. Die Störungen werden hier allerdings nicht im Außen gefunden, sondern in einer Art Unausgereiftheit der normalen Menschheit, welcher es beizukommen gelte, was im Wege der Bildung für möglich gehalten wird – mithin ist hier auch die gesamte idealistische Aufklärung herzusetzen (etwa Helvetius oder Rousseau). Dieser Typ wähnt sich selbst schon auf der besseren Seite, als Erkennender und demjenigen größeren Teil der Menschheit den Weg Weisender, der in der Finsternis des Un-Heils verharrt – und subjektiv befindet sich dieser Typ wohl sogar in einer "heilen Lage", jedenfalls solange er sich einerseits von den Folgen der kulturellen Evolution der Spezies Mensch freizuhalten vermag (wer aber vermöchte das heute noch? welche Vernunft könnte heute noch das gute Gewissen ihrer selbst bewahren angesichts der Wechselwirkungen von technischer Revolution, Umweltveränderungen und deren Rückwirkungen auf den Menschen?), und andrerseits solange, als er nicht genötigt ist, auf jenes eigentliche Weiterschreiten der Evolution der Innerlichkeit des Menschen aufmerksam zu werden, welche über diesen Typus längst hinaus ist – wenn auch vorderhand nur durch auflösende Reflexion. So ist dies eine Lage des uneigentlichen Heiles, denn wer als Ethiker bis hierhin durchgestoßen ist, von dem wird eine andere Wahl verlangt als das gute Gewissen einer auf sich selbst stehenden Vernunft.

Bewußt und wirklich im Unheil und mithin dort, wo er hingehört, sitzt allein derjenige, der die Immanenz und Bedingtheit der Normalexistenz samt deren Heilsvorstellungen bis hinauf zum besten aller denkbaren Ethiker erkennt – und sich selbst wählen will: denn das einzige, was er mit all seinem Streben, mit seinem ganzen Leben erreichen und ausdrücken will, ausgerechnet das kann er nicht, jedenfalls nicht aus sich selbst.

Wie aber geriet der Mensch ins Unheil? Natürlich durch seinen Geist, denn keine Tierart existiert für sich selbst und direkt im Unheil. Ohne die bewußte Vorstellung einer "besseren" Situierung als der real erlebten wäre die Annahme einer unheilen Lage gar nicht denkbar. Damit ist gleichfalls gesagt – was sich aus dem Komparativ ergibt -, daß dazu phylogenetisch zumindest die Stufe der Rezeption der Vernunft erreicht sein mußte, als hierzu ein vergleichendes Reflektieren Voraussetzung ist (welche Vergleichsfähigkeit dann wiederum in die Verstandeskategorie zurückwirkte). Des weiteren müssen sich die Antworten auf diese Frage darin unterscheiden, ob es sich entweder um eine "uneigentliche Unheilslage" handelt, welche auf fehlerhafter Einsicht in die eigentlichen Bedingungen des eigenen Heils beruht, oder aber ob dies andere "unaufhebbare Unheil" angesprochen ist, das – ja, wie? – über die Menschheit gekommen zu sein scheint.

Alle uneigentlichen Unheilsmöglichkeiten lassen sich herleiten aus dem (falschen) Dualismus zwischen Emotio und Ratio beziehungsweise aus der Funktionsweise der Ratio selbst. In der Funktionsweise gründet mancher Irrtum deshalb, als unsere Ratio zwecks Wahrnehmung und Handhabung des Außen gezwungen ist, fließende Vorgänge festzustellen und zusammenzufassen, so daß es schon aus dem rein funktionalen Gesichtspunkt nicht ganz einfach ist, zu einer richtigen Lagebeurteilung seiner selbst zu gelangen. Als Beispiel mag hier etwa die große Gruppe abergläubischer Menschen stehen: dieser auch heute noch weitverbreitete Typus unterstellt auf Grund ungenügender Aufklärung der Ratio die Wirksamkeit von Einflüssen auf die eigene Existenz, die damit in keiner Weise etwas zu tun haben können. Fehlerhafte Verknüpfungen führen so zu einem Wahn von Abhängigkeit, Möglichkeiten negativer Wirkungen auf die eigene Emotio werden verdinglicht, um sich mit ihnen ins Benehmen zu setzen.

Der funktionale Dualismus, der als solcher im Zusammenbau von Emotio und Ratio zunächst einmal gegeben ist, bei welchem aber alles darauf ankommt, hier nicht ein unvermitteltes Neben- und Gegeneinander zu "spüren", sondern das Auseinanderhervorgehen und die jeweilige "Zuständigkeit" ineinander zuzuordnen, – diese funktionale Dualität enthält per se ipsum zwei verschiedene Auffassungsmöglichkeiten von Realität und eben damit auch von der Annahme einer unheilen Lage:

– einmal in der Weise, daß Wirkungen mit dem verkehrten Zentrum angegangen und aufgefaßt werden, daß also Dingen, welche die Ratio angingen, mit der Emotio begegnet wird, und umgekehrt;

– zum andern in der Weise, daß man zwar Wirkungen des Außen in der Wirkungsweise korrekt zuordnet, diesen Wirkungen aber aus der eigenen Konditionierung heraus einen verkehrten Wert zumißt.

Arbeitet im ersten Fall der Verstand fehlerhaft und führt so seinen Träger in falsche Abhängigkeiten, so verknüpft er im zweiten Fall zwar richtig zwischen Ursache und Wirkung, aber die bewertende Einordnung, welche aus der individuell konditionierten Betroffenheit herrührt, geht fehl. Dächte man sich all diese Fehlerquellen hinweg, so wäre der "heile Mensch" (wenn er sich mit seinen Anlagen nicht über die Tradition hinausbewegen kann und muß) durchaus vorstellbar. So aber, wie es ist, lassen diese Fehlerquellen und deren Kombination in den Individuen soviele Unterschiede und Irrtümer (4) ("Meinungen") zu wie Sand am Meer. Dabei drängt sich eine schwierige Frage auf: warum "funktioniert" der Geist bei den meisten Menschen so ungenügend, daß deren Ratio jene Fehlerquellen nicht zu beseitigen vermag, obwohl dies doch gerade ihre vornehmste Aufgabe wäre? Eine zunächst unbefriedigende Antwort: weil es für die menschliche Art und deren Individuen nicht nur (nicht hauptsächlich?) auf die Durchdringung mit Ratio ankommt, sondern auf Existenzfähigkeit insgesamt, welche zuvörderst auf die Bewältigung des Außen, und erst im zweiten Schritt auf die Bewältigung des Innern gerichtet ist. "Evolutionär" ist diese Antwort wohl sogar befriedigend; denn für die Gesamtheit einer Art ist es weniger wichtig, wie sie die Existenz, sondern vielmehr daß sie sie bewältigt. Insoweit liegt auf der rationalen Durchdringung des Innern gar kein Evolutionsdruck, dies bleibt vielmehr zufälliges Ereignis. Denn diese Durchdringung ist nur ein Mittel unter vielen, mit welchen sich Menschen existenzfähig und -willig zu halten vermögen. Ebensogut wie jene wirken soziale Zwänge und individuelle Ausweichmöglichkeiten (etwa Verdrängungen), ja noch jene oben genannten Fehlhaltungen: als Unheil erfahrene Wirkungen müssen nicht als möglicherweise fehlerhaft erkannt werden, sondern von der Evolution her genügt es, sich in irgendeiner Weise damit ins Benehmen zu setzen. Anders ausgedrückt: die Natur gibt jedem Individuum immer und gerade je nachdem, wieviel oder wie wenig es eine Unheilslage zu erkennen vermag, auch die Mittel an die Hand, mit dieser "fertig" zu werden, wenn dies auch nicht unbedingt die Ratio sein muß.

Alle wirkliche Unheilslage läßt sich herleiten aus der Tatsache des Bewußtseins als solchem: daß der Mensch Geist habe – und dies wieder in einer doppelten Weise:

erstens funktional aus dem Zusammengesetztsein dieses Bewußtseins mit dem Außen, wie unter Ausschaltung obiger Fehlhaltungen von Emotio und Ratio die Wirkungen dieses Außen dem Bewußtsein erscheinen müssen;

zweitens existentiell aus der Notwendigkeit einer subjektiven Wertetafel, mit welcher sich die lebendige Innerlichkeit gegenüber dem Außen zu bewähren hat.

1. Die Herkunft des Unheils von der Außenseite

Welche Vorstellung dieses Bewußtseins vom Außen ließe nun auf ein objektiv unaufhebbares Unheil schließen? Obwohl ein bis in die Doppelreflexion gelangtes Bewußtsein in seiner Innerlichkeit durch die Außenwirkungen in keiner Weise erschüttert zu werden vermag, so hat es doch darauf zu achten, daß und wie dies seiner Innerlichkeit gegenüberstehende Außengeschehen durch und für es selbst wie auch durch und in der gesamten Spezies "Sinn" hervorbringt. Ohne eine vorurteilsfreie und bewußt hypothetisch bleibende Teleologie des Seienden, insbesondere ohne eine Abschätzung der Teleologie des Menschlichen, wie es bis zur Eigen-Art eines solchen Bewußtseins gelebt wurde, würde man sich ohne Not und voreilig vom Zusammenhang des Seienden ablösen. Denn sind alle Menschen letztlich in der gleichen Unheilslage, so sollte auch der äußerliche Weg der Vielen, wenn womöglich auch schwer entzifferbar, doch einen "Teil des Heils" sichtbar machen, um das man sich selbst bemüht.

Gegenüber den Stufen des Seienden, wie sie vor dem Menschen gegeben sind, also gegenüber der Natur, fällt sofort die Freude, ja Bewunderung seitens des Menschen ins Auge, in der sich sowohl ein eigenes Differenzbewußtsein wie auch Heilssehnsucht ausspricht: seit ältesten Zeiten bewundert der Mensch die Wohlgeordnetheit der Schöpfung, sieht sich selbst aber spätestens seit der Rezeption der Vernunft in diese Harmonie nicht einbegriffen. Was liegt dieser Einschätzung der Schöpfung zugrunde, welche sich wohl auch heute noch bis hin zu emotionaler Naturschwärmerei zu äußern vermag? Hinter dem Euphämismus der Ordnung verbirgt sich in Wirklichkeit die Tatsache des Festgestelltseins des Seienden: alle vor dem Menschen liegende Schöpfung ist unausweichlich an "über" diesem Seienden selbst stehende "Gesetze" gebunden (5); im Gegensatz zu dieser Gebundenheit erlebt sich das Bewußtsein des Menschen als frei – und in dieser Freiheit liegt sein Heil wie sein Unheil: zwar über alles vor ihm Seiende gesetzt, sieht sich der Mensch als dessen Herr; aber in seinem "freien Handeln" diesem Seienden gegenüber löst er selbst Wirkungen aus, die ihn in solches Unheil, solche Turbulenz und Ausgesetztheit bringen, daß er sich nach dieser "Wohlgeordnetheit" der Natur auch für sich selbst sehnt (s. etwa die "edlen Wilden" Rousseaus). Mithin: das Außen erscheint diesem Bewußtsein anders als allen vor ihm selbst liegenden "Bewußtseins"-Formen, es erlebt in sich selbst die Unfestgestelltheit der eigenen Art, welche Unfertigkeit der Art per se ipsum sich als ein Nichtvorhandensein von "Ganzheit" bemerkbar machen muß – wo aber die Ganzheit fehlt, ist notwendig Un-Heil. Sowohl der Weg der Vielen (in ihrer "uneigentlichen Unheilslage") wie der des wirklichen Individuums zweckt, wenn auch nicht in gleicher Weise, auf die Aufhebung dieses Un-Heils ab: wo die Gesamtheit dem nahen und schnellen Nutzen folgt (in einer Verwechslung dieses Nutzens mit dem Heil), dort versucht das Individuum das Heil in der Gründung des eigenen Selbst hervorzuziehen. Damit dient es in der Rückwirkung der Gemeinschaft, die wiederum in der Unbewußtheit ihres Werkelns in Richtung auf Heil Nebenwirkungen hervorzubringen vermag, die den zunächst angestrebten Nutzen weit übersteigen können (in positiver wie negativer Hinsicht). Beider Wege laufen letztlich parallel und befruchten sich gegenseitig, vor allem in der Auslesefunktion der Gemeinschaft gegenüber dem Wert der Selbstgründungstätigkeit des Individuums im Hinblick auf dessen Originalität und Tragfähigkeit zwecks Übernahme dieses Beitrages in die Tradition.

2. Die Herkunft des Unheils von der Innenseite

a) aus dem rational-funktionalen Aspekt

Die Innerlichkeit seit der Rezeption der Vernunft läßt sich als ein weiteres Festmachen der Ratio deuten: der sich den unbeeinflußbaren Turbulenzen des Außengeschehens (diese Turbulenzen sind notwendige Folge aus dem Mit- und Gegeneinanderwirken kategorieverschiedener Systeme, welche insgesamt "die Natur" ausmachen) ausgesetzt erlebende Geist befestigt sich selbst, indem er sich eine von dieser Außenwelt unabhängige Innenwelt schafft. Dies aber nicht in einem Um-Zu, vielmehr sollte diese neue innere Vorstellungswelt der Vernunft eine notwendige Folge, eine "neuronale Reaktion" sein, mit welcher vertikalen Neuvernetzung der unfestgestellte Mensch (mithin derjenige an der Phylogenesespitze) auf die Informationsübermenge antwortet, welche aus der bisherigen Verstandestätigkeit hervorgegangen ist. Mit diesem Erstehen der Vernunft als einer neuen vertikalen Gedächtnis- und Bewußtseinsplattform integriert der Mensch über die reinen Außenwahrnehmungen und füllt nunmehr in dieser Rezeptionsphase der Vernunft das Innen mit ganz neuen Inhalten und Werten, welche jetzt das Selbst des Menschen sein sollen, um im Gegensatz zur Turbulenz des Äußeren einen festen Gegenpol zu finden. Auch evolutionär gesehen waren solche Individuen gegenüber dem "alten Menschen" im Vorteil: sie standen in ihrer Innerlichkeit dem Äußeren fester gegenüber und sie sahen durch das abstrahierende Vergleichen die Außendinge richtiger. Das Selbst des Menschen machte dabei in den damit selbständig begabten Individuen einen Sprung von der rein fühlenden (emotionalen) Selbstwahrnehmung hin zum rationalen Selbst, das sich nun in einem Konglomerat von Ideen von sich selbst findet. Wer aber das Wesen, den Zweck und Weg seiner Existenz in Ideen von sich selbst sieht, hat die erste Seite der Innerlichkeit hervorgebracht. So sehr diese Weiterführung der unfestgestellten menschlichen Fähigkeit Geist zunächst eine bessere Befestigung und Einsicht dem Außen gegenüber erlaubt, so steigert sich dadurch auf der anderen Seite, sobald die Reflexion dieser Ideen des Selbst von sich selbst einsetzt, die Un-Heilslage noch. Denn die zunächst abstrahierend gewonnenen Ideen üben auf den innehabenden Menschen einen idealen Druck aus, dies sein Ideal in der Wirklichkeit vollständig auszudrücken und wiederzufinden. Die Unmöglichkeit dieses Anspruches einer dazu vorkategoriellen Umwelt gegenüber, in welcher es eben nicht ideal zugeht, sondern in welcher die verschiedenen bis dorthin erreichten Kategoriestadien im real-chaotischen Zusammenstoß ausgestragen werden, läßt den Menschen seitens der Funktionalität des Vergleichen-Könnens und der daraus abzuleitenden Forderung nach Idealität ins Un-Heil geraten. Hingegen sieht sich der "alte" Mensch prinzipiell und der Möglichkeit nach durchaus im Heil; für jenen kommt alles darauf an, sich "nur" in ein entsprechendes Benehmen, etwa mit den Göttern zu setzen. Was ihm an Unheil widerfährt, führt er auf den in seiner Unerklärlichkeit akzeptierten Willen dieser Götter beziehungsweise selbstverschuldete Kultfehler zurück – aber dies läßt sich nach der alten Auffassung wieder einrenken und die grundsätzliche Heilslage wiederherstellen.

Dieses "bessere Innen", das in der Rezeption der ethischen Ideale den "neuen Menschen" heraufführte und die Antike zum Abschluß brachte, wirkte nunmehr auf die reale Existenz des Menschen zurück, diese neue und andersartige Bewertung des Selbst von diesem Selbst her drängte den Menschen in einer ganz neuen Weise in die Transzendenz, erzwingt einen Zusammenstoß mit der hergebrachten Religion seitens dieses Wechsels in der Funktion Ratio: der Umsturz der alten Gottesbilder ist zwangsläufig, da das Wesen der Transzendenz nicht im Widerspruch zu menschlicher Ratio jeweils einsehbarer "Wahrheit" stehen darf. Dies aber gilt für den Olymp der Griechen ebenso wie für den Jahwe des AT, beide befinden sich nicht auf der Höhe dieser Vernunft – so müssen erstere untergehen, während letzterer im "Neuen Bund" Mittelpunkt der christlichen Hochreligion wird. Götter, beziehungsweise nunmehr "der Eine Gott" muß unter Zugrundelegung der Rezeption der Vernunft notwendig und in jeder Hinsicht größer und besser gedacht werden als der Mensch; die "Folie" des Göttlichen ist nunmehr der ethische Mensch, so daß jenes als die Rein-Inkarnation aller menschlichen Ideale aufgefaßt werden muß. Dabei entspricht der Monotheismus der konsequent durchgeführten Rezeption der Vernunft: das Wählen-Können unter Komparativen erzwingt die Vorstellung des "Einzig-Wahren" (s. etwa Platon). Daher denn auch der Wechsel in der Auffassung des Jenseits in den Hochreligionen: das in den davorliegenden Religionen als solches gar nicht gesehene (etwa AT) beziehungsweise als bruchlos leibhaftiges aufgefaßte "Jenseits" (Ägypten) verwandelt sich in eine jenseitige Heilssituation, deren Kern von der Ratio her die Inkarnation des Ethischen ist, seitens der Existentialität aber der Brennpunkt des Heiligen. Diese neuen Hochreligionen, in welchen der Wechsel dieser Weltauffassung bildlichen Ausdruck gefunden hat, werden dadurch gekennzeichnet, daß nunmehr an die Stelle der Kultpflege durch das Gemeinwesen die individuelle Gottesliebe tritt. Dies soll uns direkt zum nächsten Gesichtspunkt überleiten:

b) Die Herkunft des Unheils unter dem Gesichtspunkt von Lust, Freude und Liebe

Die Dreiheit und Rangfolge dieser Begriffe entspricht der Dreiheit der Kategorien: im Erleben von Lust, Freude und Liebe (deren "Äußerungsform" am ehesten mit Wonne anzugeben ist) als einer mit "Wärme" bis "Hitze" verbundenen Innenbewegung drückt sich die Zustimmung und Bestätigung der Menschen aus. Zwar werden im normalen Sprachgebrauch alle drei Begriffe häufig durcheinandergeworfen, was veranschaulicht, wie die Menschen untereinander und in sich zwischen den Kategorien hin- und herschwanken; hier nun sollen sie als jeweils den Kategorien entsprechend definiert werden: Ästhetik und Lust, Ethik und Freude, Transzendenz und Liebe/Wonne. Der ästhetische/emotionale Mensch hat einen sehr direkten Maßstab seines Heils: reagiert sein Emotio-Potentiometer, das ihn in seiner Festgelegtheit auf Außenreize in Verbindung mit einer mehr oder weniger großen Anzahl von intellektuellen Grenzwerten regiert, mit angenehmer bis lustvoller Empfindung, so ist das Heil vorhanden; bewegt sich sein Empfindungsstrom jedoch in neutralen oder gar negativen Zonen, so erwächst ihm daraus der Antrieb, im beziehungsweise dem Äußeren gegenüber alles zu tun, um diesem Zustand so schnell wie möglich zu entgehen. So ist etwa für den Typus des reinen Ästhetikers der Schlaf ein probates Mittel, um Zeiten der belastenden Empfindung oder Langeweile auszuweichen. Unheil ist in dieser Kategorie so recht ein Fehler, was phylogenetisch genau korrespondiert mit dem Kultfehler im Religiösen zu jenen Zeiten, als das Verstandesvermögen die menschliche Phylogenesespitze vorstellte: auch hier wurde die Wiederherstellung des Heiles durch die entsprechende Pflege der Götter zu erreichen gesucht. Beidem liegt das gleiche Schließen eines unreflektierten Verstandes am Grunde; die Emotio-Reaktion (Lust) ist noch ungebrochen und direkt, ist ohne Bewußtsein von der eigenen Konditioniertheit – so kann jene uneigentliche Innerlichkeit des Verstandes die Ursache von Lust und Unlust, Heil und Unheil immer nur im äußeren Gegenüber vermuten, welche es aufzusuchen beziehungsweise welcher es zu entkommen gilt. Denn man erkennt hier nicht das Warum des Betroffenwerdens im positiven wie negativen Sinne, sondern empfindet lediglich die Tatsache der Betroffenheit, der man sich apriorisch ausgesetzt sieht, und für welche es eine Ursache außerhalb des emotionalen Ich geben muß. Ein weiterer Fingerzeig für diese Verfaßtheit ist, daß in dieser Kategorie das Heil immer nur in der Gegenwart gefunden wird. Religiöse und ethische Werte können diesen Typ höchstens in der sozialen Rückwirkung und am Rande beunruhigen beziehungsweise erfreuen. Seine eigentliche Heilslage wird hiervon in Wirklichkeit nicht berührt, da diese in der Direktheit der Emotio-Reaktion auf ein real und momentan gegebenes Motiv hin besteht; sowohl die ethischen wie auch die religiösen Werte sind hier nur rückwirkend konditioniert.

Mit der Rezeption und Reflexion der Vernunft gerät der Mensch in eine andere Art von Unheil, weil er von hier aus sein Heil ganz anders definiert als mit dem Verstand, und damit verändert sich auch der innere Gehalt des Erlebens. Es kommt nunmehr der Ratio in Form der vergleichenden Vernunft zu, ein Geschehen als richtig(er) – Rezeption – beziehungsweise dem Ideal angehörig – Reflexion – zu erkennen. Die Zustimmung beziehungsweise Ablehnung erfolgt nicht mehr unbewußt, sondern vom Individuum aus als eines Individuums, das dieser seiner Selbstverfaßtheit als Individuum bewußt ist. Diese Innentätigkeit der Ratio sowohl in der Motivauswahl (wo beim Verstand das Motiv per se ipsum wirkt – oder nicht) wie in der Beurteilung weist sich anders aus als das emotionale Erleben, die Tätigkeit des rationalen Erkennens wie der erlebte Bezug zum Ideal werden mit selbstbewußter Freude beantwortet. Nicht den geringsten Anteil dürfte daran haben, daß das Individuum dies als Eigenleistung dem eigenen Ich zurechnet, was wiederum das "Selbtsbewußtsein" erhöht – welcher Begriff auch noch eine ganz andere Wertigkeit als das rein Funktionale enthält. Die Nichterfüllung von für wichtig gehaltenen Werten dieser Ratio löst Ungenügen aus; diese Form des Unheils in der Vernunft ist insofern kein eigentliches, als es für den Rationalisten wie den Ethiker immer Gelegenheit gibt, mindestens der Teilverwirklichung des Richtigen oder Idealen bezogen auf eine bestimmte Zeit beziehungsweise auf eine bestimmte Person beizuwohnen (6) beziehungsweise selbst Teilverwirklichungen des Heils, sei es als Erkenntnistätigkeit oder als konsequente Befolgung eines Ideals selbst existentiell auszudrücken. In beiden Fällen wird sich eine Reaktion mit Freude einstellen, welche die neugeschaffene Bewertungsform der Ratio ist – im ersteren Fall als Freude der Ratio an sich selbst, im zweiten als existentielle Freude, insofern hier eine zumindest teilweise Leitungsübernahme der Vernunft zum Idealen hin stattgefunden haben muß. Das Individuum vermag sich damit zumindest zeitweise über die als Ungenügen erkannte Unheilssituation zu erheben, hält sein Ideal ("das Richtige" beziehungsweise das "wahre Mensch-Sein") "eigentlich", der Möglichkeit nach für verwirklichbar – wenn es nicht immer wieder eine Umwelt, die seiner Meinung nach eben "noch nicht so weit ist" wie es selbst, auf den Boden des Ungenügens zurückholte. Daher denn auch das "Pathos des Handelns" aller Ethiker, das auf die Einrichtung einer "richtigen" beziehungsweise "idealen" Realwelt zielt (und welches Pathos sich jedenfalls nicht immer so negativ ausnehmen muß wie die Hohlheit und Eitelkeit in der Besserwisserei mancher Politiker). Diese Freude der Vernunft ist immer Freude an sich selbst, am eigenen Selbst, sei es an der eigenen Erkenntnisfähigkeit als solcher (Stolz der Ratio), sei es in der Selbstüberhöhung der Ratio als existentieller Idealismus (ethischer Anthropozentrismus als Freude an der eigenen Spezies und deren Möglichkeiten).

Die Reflexion dieses ethischen Standpunktes und die Erkenntnis seiner eigentlichen Leere zwang die hierzu begabten Individuen an der Phylogenesespitze über diesen hinaus in die Doppelreflexion, beziehungsweise in "Einem Sprung" in den Bezug zur Transzendenz; dies natürlich zunächst in einer Gegenbewegung zu hergebrachten Religionen (den Olymp der Griechen, den altjüdischen Werkglauben), welche in ihrer Erstarrung und Ethisierung des Religiösen als dem wahrhaft Lebendigen und Göttlichen schädlich verurteilt werden mußten (und manchen Zyniker wie Sophisten so weit führten, die Religion überhaupt abzulehnen – s. die Parallele dazu in der Aufklärung). In einer doppelten Bewegung wiesen den Weg im Abendland einerseits die griechische Philosophie von der Ratio her (den rezipierenden und reflektierenden Anteil), während andrerseits der lebendige Gehalt an religiöser Innerlichkeit durch das Christentum eingelöst wurde. Buddha löste diese gleiche ihm gestellte Aufgabe in einem Zuge; deshalb wird bei ihm eine bewußte Scheidung von der traditionellen indischen Religion weniger sichtbar (etwa wird die unselige "Seelenwanderung" beibehalten), und in seiner Lehre vermischen sich wesentlich rationale, ethische und spekulative Elemente mit dem wahrhaft Religiösen. Für Platon wie für Jesus mußte zum zentralen und einzigen Wert die transzendentale Ein-heit (Gott-heit) und der Bezug zu jener die Liebe werden; denn parallel zur Zusammenfassung aller Ideale seitens der Ratio beziehungsweise der lebendigen Erkenntnis des Einigen Gottes müssen die im ästhetischen Bereich zerstreuten Empfindungen gereinigt und konzentriert werden. Liebe ist die auf ihre Spitze getriebene, in einem Punkte konzentrierte, letztübriggebliebene, von allem Äußerlichen gereinigte Leidenschaft: das Pathos der Innerlichkeit, in welchem allein die grundsätzliche menschliche Unheilssituation in der Einung aufgehoben werden kann, indem das Individuum – die Ratio weiß nicht wie – erst in jener seine Ganzheit erfährt, das Heil. Unterhalb der Transzendenz ist eine derart unbedingte Liebe immer fehl am Platze, sei es in der Unbedingtheit einem intellektuellen Grenzwert gegenüber, sei es als Liebe zwischen Mann und Frau oder als Idealismus; denn dahinter verbirgt sich, wenn auch immer unbewußt, Eigenliebe des Individuums, entweder bezogen direkt auf sich selbst oder in falscher Überhöhung bezogen auf die eigene Spezies – und dies verbunden mit auf dieses Selbst hin bezogenen Reaktionsformen von Lust oder Freude. Mit diesen emotionalen oder rationalen Konditionierungen, die der Tradition von Emotio und Ratio entnommen werden, werden vor-individuelle Bewertungen als Grundlage des "Bestätigungserlebens" akzeptiert, welche die eigene Individualität "spürbar" eingrenzen. Damit gewinnt man zwar subjektive Fixpunkte für die Existenz, erkennt deren Schein-Natur jedoch nicht, sondern bleibt indirekt an die Unheilslage des Geschlechts angekoppelt. Indem man sich auf diese Weise quasi aus der Unheilslage herausmogelt und durch jene Begrenzungen in falscher Sicherheit wiegt, taucht die Frage nach einer existentiellen Stellung zur Unheilslage gar nicht auf. Wenn sich aber dann doch einmal, trotz aller Begrenzungen einerseits, trotz aller gesellschaftlichen "Sicherheitsmaßnahmen" andrerseits, das Unheil unabweisbar meldet, stürzt es den Betroffenen in Verzweiflung: eine als unbedingt genommene Bindung zerbricht – und oft genug damit das Ich eines solch "Unbedingten" – die Zeitungen sind stets voll von solchen Zerbrechungen ...

Vielleicht möchte nun einer sagen, daß es also darauf ankomme, durch die Bewegung in die Doppelreflexion ein Mehr an Sicherheit zu gewinnen, um sich damit gegen das immer drohende Unheil zu wappnen? Dies wäre wiederum nichts anderes als ein typischer Schluß der Ratio, welche durch Vorwegnahme aller denkbaren Situationen sich zu sichern hofft – und eben damit ein Anzeichen für Befangenheit in der Vernunftkategorie. Auch dies wäre noch immer ein Abgrenzen, wo alles auf das Sich-Einlassen ankommt. Die wahre Stellung gewährt ausschließlich erkennende Liebe/liebende Erkenntnis: diese sucht die Offenheit (Unfestgestelltheit) nicht gewaltsam abzutrennen, um sich rückwärtsgewandt innerhalb eines angeblichen Ordnungssystems der Vernunft in scheinbarer Sicherheit zu bewegen, sondern nimmt in der Konzentration des Individuums in einem Punkte alles, was war, ist und sein wird, alles, was hinter, unter, neben und über ihm ist, (be-) lassend, gelassen und bejahend an. Dies ist die Liebe zu jenem Einen, dem ja doch alles Seiende entstammt – und das Seiende, dies ist nichts anderes als "Offenbarungen" ehemals Nicht-Seienden seitens dieses Einen; und dies ist auch die eine Hälfte des eigenen Seins, deren andere jene Offenheit ist, welche die Grundlage aller ferneren "Offenbarung" ist, zu welcher es sich daher existentiell zu verhalten gilt. Und nur auf dieses Neue, im Dunklen liegende Transzendente darf sich die Unbedingtheit der Liebe richten, muß sie sich richten. Als und in Offenheit zu existieren, darauf muß der Schwerpunkt in der Doppelreflexion beziehungsweise im Bezug zur Transzendenz kommen, wenn das Erkennen dieser Lage nicht nur ein rationales im Medium der Phantasie sein soll, das sich ansonsten mit den gegebenen Irditäten zufrieden gibt. Für die Notwendigkeit dieser Spannung hin zur Offenheit hier zwei Zeugnisse, welche diese Spannung auszudrücken vermögen: Hölderlins "Nur einen Sommer gebt, ihr Parzen" ebenso wie Nietzsches "auf eine Sekunde den Übermenschen erreichen" – beide Worte wollen am Grunde nichts anderes ausdrücken, als daß jene Spannung zum Transzendenten hin wahr- und angenommen wird, um mit dem Einsatz der ganzen Person sich dieser Offenheit zu stellen, und ihr eben damit ein Stück Dunkel abzuringen, Neues ans Licht zu ziehen. Akzeption und Ausdruck dieser Spannung zur Offenheit sind nun aber erst das Eine, ein Anderes ist die Einung selbst, das Finden des wahrhaften Bezuges zum Numinosen und das Schließen dieses Bundes mit der Transzendenz in der Immanenz. Denn diese beiden Stellungen zum und im Heil beziehungsweise Unheil sind nicht identisch; erstere wäre zu fassen als die Transzendenz der Vernunft in der Doppelreflexion, die zweite als das einlösende und einende Finden des Bezuges zur Transzendenz unter gleichzeitiger Bewegung über die Vernunft hinaus, womit das objektive und subjektive Heil des Individuums zusammenfällt ...

Diese Bewegung bezeugen uns die Religionsstifter Jesus und Buddha selbst, aber etwa auch ein Eckehart, wobei uns letzterer für unseren heutigen Weg nähersteht, insofern sein "Durchbruch" zum Numinosen eine erheblich weitere Strecke von der eigenen Reflexion begleitet ist, sich von der mythischen Bildhaftigkeit der Aussagen über die Innerlichkeit bereits zu lösen vermag. Deshalb kann er uns als Verbindung zu jener frühen und direkten Durchbrechensweise dienen wie auch als Hinweis darauf, daß es ein Fehler ist, mittels der Reflexion der Vernunft nicht nur jene Bilder, sondern vor allem den Bezug zur Transzendenz selbst aufzulösen, wie dies in der Aufklärung und im Idealismus geschah und bis heute geschieht: daß man mit diesen Bildern zugleich auch den einzigen Zugang zum Heil verwirft, der als eine notwendige Funktion der geistigen Existenz des Menschen seitens seiner inneren Lebendigkeit und deren Unfestgestelltheit hinter diesen Bildern verborgen war: sich gegenüber der Offenheit des menschlichen Existierens verhalten zu müssen und zu wollen. Daher muß zunächst von und für unsere Ratio erst einmal wieder ein Bewußtsein davon hergestellt werden, daß hier überhaupt eine Fragestellung vorliegt; sowie ein Bewußtsein davon, daß es hier Fragestellungen geben könne, die über das Gebiet dieser Ratio hinausgehen. Die Akzeption mittels Ratio, daß diese bis hin zum Ausdruck des Offenen durchzudringen vermag, nicht aber darüberhinaus; daß sie über diese Spitze der Doppelreflexion nicht hinweg kann, sondern die Einung ein anderes ist – diese Akzeption hätte auch den Vorzug, unserer Ratio quasi nebenbei ihre Beschränktheit existentiell aufzuweisen und ihr ein wenig mehr Bescheidenheit angelegen sein zu lassen. Das Höchste, das auf diesem Wege der Mensch aus sich selbst zu bewirken vermag, ist die Erkenntnis seines Un-Heils – Erkennen hier genommen, wie es im Gegensatz zum Wissen gefaßt werden muß: als existentielles. Solange die Einung mit dem Ewigen nicht gelingt, gleicht der Mensch jenem unglücklichen Liehbaber Kierkegaards – sein Unglück wird zu seinem Glück: er wendet sich nicht ab, versucht sein Glück nicht an andrer Stelle, nein, auf dieser Spitze seines Unglücks muß er stehenbleiben. Daß die Liebe des Menschen auf dieser Spitze nicht glücklich, fündig wird, dafür können zwei unterschiedliche Gründe verantwortlich sein: entweder, er vermag sich nicht völlig hinzugeben, loszulassen – was ja in immanenten Bezügen auch dämonisch wäre, hier aber die conditio sine qua non ist. Oder aber, er kann sich das Ziel seiner Liebe nicht aus eigener Kraft zugänglich machen – mithin das Problem der Gnade.

c) Die Überwindung des Unheils durch "Gnade"?

Wie können wir das Wesen der Gnade ohne Anbindung an Religion, also funktional, verstehen? Am ehesten vielleicht eben gerade dadurch, daß wir es innerhalb von Religion zu verstehen suchen, um vom Bild auf die dahinter verborgene Lebenstatsache zu schließen. Im Christentum wird der "Vorgang" der Begnadung deutlicher, aber eben auch bildhafter ausgesprochen als etwa im Buddhismus: der Mensch wird auf die Mittler-Rolle Jesus’ verwiesen, in welchem die Gnade als Möglichkeit für das ganze Geschlecht von Gott her bereits bereitstehe, wenn sich der Mensch nur soweit selbst loslassen wolle und hinwende, um im Medium des heiligen Geistes diese Möglichkeit in wahre Erfahrung zu verwandeln. Daraus wird auch des Wesen der Trinität ersichtlich; die menschliche Erfahrung zerlegt notwendig die Einheit Gottes in die drei "Personen" und hält dennoch deren Einheit aufrecht, weil der Weg der Begnadung dieser Dreiheit von Erfahrungstatsachen entspricht: die Vermittlung (nicht aus sich selbst), das Medium (außerhalb von Raum und Zeit) und das Ziel (das numinose "A und O"). Wenn der suchend ausgestreckte Finger Adams die dargebotene Hand Gottes findet, so liegt die Gnade im Umschlagen der Berührung von ihrer Möglichkeit in Wirklichkeit, und mit dem Finden erfolgt die Wende vom Unheil zum Heil; diese Berührung löst die lebendige Umstellung des Individuums in die Ganzheit aus, von der Dualität in die Einheit. Wie ließe sich nun diese Erfahrung der Gnade, welche im Buddhismus mit Erleuchtung bezeichnet wird, analogisieren – oder handelt es sich auch in diesen religiösen Erfahrungen nur um Fehlinterpretationen, wie sie in gröberer Art und Weise den Religionen des Verstandes zugrundelagen? Eine Fehlinterpretation, die sich womöglich notwendig aus der kausalen Feststellungsfunktion unserer Ratio ergibt? Muß das Bewußtsein, sobald es sich über das verwandelt findende eigene Selbst nach der Erleuchtung klar werden will, mittels dieser Ratio nicht schließen, daß durch die erlebte Erleuchtung "etwas" ins Individuum hineingekommen sei, was vorher noch nicht "da" war (s. etwa Augustin)? Es ist diese nicht sich selbst und schon gar nicht der eigenen Ratio zurechenbare Verwandlung des eigenen Selbst, welche ebendieselbe Ratio zwingt, ein qualitativ anderes und höheres Gegenüber anzunehmen, welchem in einem anderen als dem normalen Erfahrungsmedium jene Erleuchtung entströmt – ein ähnlicher, jedoch umfassenderer "Reflex" der Ratio, wie man ihn an sich selbst in jener "Geneigtheit" feststellen kann, existentielle Erkenntnisse "dankbar nach oben zu verrechnen", welches Phänomen selbst noch auf dem Gebiet wissenschaftlicher Erkenntnis zu finden ist. (7) Anders ausgedrückt: mit Gnade wird in der dieser Erfahrung zukommenden Demut bezeichnet, daß das Individuum ohne konkret angebbares eigenes Verdienst eine zwar in ihm selbst liegende, aber sowohl in der Weise wie im Weg ihm selbst völlig unbekannte neue "Potenz" ergriffen hat (von dieser ergriffen worden ist), daß in ihm eine kategorieller "Verwandlung" in zentrierender Aufwärtsbewegung stattgehabt hat.

Eine ähnliche Bewegung ist bei den dazu veranlagten Individuen etwa zwischen dem 17. und 20. Lebensjahr zu beobachten; denn in diesem Alter "erwacht" in der Rezeption der Vernunft jener ethische Idealismus, der in seiner Unbedingtheit das Vorrecht der Jugend ist – und eine notwendige Durchgangsstufe auf dem Weg durch die Kategorien. Dieses "Erwachen" ist aber nichts anderes als das Frei-Werden einer neuen Potenz in einer neuen vertikalen Vernetzung – neu für das sich wandelnde Individuum –, welche nur deshalb nicht so sehr als neu erlebt wird, weil das Ethische aus einer durch dieses Ethische mitgestalteten Umwelt bereits entgegenkommt, so daß diese Umwandlung lediglich als der Nachvollzug einer bereits vorhandenen Potenz erscheint.

Diese Verwandlung des Individuums in der Gnade weg von der Vernetzung der existentillen Innerlichkeit mit Emotio oder Ratio hin zur Transzendenz wird in den Hochreligionen durch eine Bilderwelt angegeben, etwa im Pfingstfest: "der Herr" sendet seinen "Heiligen Geist" aus – i.e. die Aktivität von einer unbekannten Seite her –, durch welchen dann die auf jenen wartende Gemeinde – das sind jene Individuen, die sich durch eigene existentielle Vorbereitung aufnahmebereit gemacht haben – be-geiste(r)t werden, worin sich die existentielle Umwandlung im Individuum ausdrückt. Diese Bilder aber werden in einer dazu unterkategoriellen Umwelt allzu leicht nicht als in der Eigenexistenz nachzuvollziehende Erfahrungen angesehen, die das eigentlich Unaussprechliche bloß anzudeuten vermögen, sondern als empirische Tatsachen genommen, als welche sie in die Lehre eingehen und in der Erstarrung zur Dogmatik beziehungsweise gar zum Aberglauben verkommen. Wo diese als äußerliche Tatsachen genommenen Bilder ihre unterkategoriellen Anhänger des Heils in der Immanenz versichern sollen (denn selbst deren Jenseits-Vorstellung ist bei genauer Betrachtung durchaus immanent: etwa in einer wie auch immer ausgestalteten "Mitnahme" der eigenen Individualität in dieses Jenseits), dort drücken diese Bilder in Wirklichkeit die Erkenntnis der Unvollkommenheit und das Un-Heil der diesseitigen Welt aus, welche ausschließlich in einer rational nicht definierbaren, überrational-innerlichen Jenseitigkeit aufgehoben werden kann, wozu das gesamte diesseitige Leben Lehr- und Vorbereitungszeit sei. Es ist Augustin, dem die Übertragung und Verschmelzung dieses Bildes vom Einzelnen auf die Gattung gelingt: der diesseitigen civitas terrena stellt er die civitas dei gegenüber, welche die Erfüllung der Schöpfung sei. Die Verbindung zwischen diesen beiden "Gefilden", zwischen der Gemeinschaft der Heiligen und dem diesseitigen Einzelnen, wird hergestellt durch die Gnade, in der Erfahrung der Möglichkeit des Heils im Kontakt mit der Transzendenz. Dieses "Heil" der Gattung wie des Einzelnen ist nichts, was sich in einer immanenten Zukunft durch Eigentätigkeit des Menschen einzustellen vermöchte, wie uns dies alle Idealisten und Ideologen vorgeben, sondern es ist die schon immer und auf ewig gegebene Möglichkeit des Heils im individuellen Kontakt mit dem Heiligen in der Gegenwart. Dies aber bedeutet für die Masse, die als solche, als Vielzahl, aber auch bedingt durch ihre kategorielle Stellung, mit dem Heiligen in keinen direkten Kontakt gelangt, hier der Vermittlung durch den wahren Heiligen zu bedürfen – der Fall Jesu beziehungsweise des Buddha.

d) Das Heil und der Lehrer

Diese Notwendigkeit der Vermittlung und deren Koppelung an eine "Lehre", Bilder für den Verstand der Masse, in welchen das Heil und die Vermittlung ausgesprochen wird, verweist auf ein Problem, das nicht nur religionsspezifisch ist. Denn wenn man den Blickwinkel einmal auf das gesamte Leben erweitert, so läßt sich die schichtende Entwicklung der pflanzlichen und tierischen Organismen als ein Aufeinanderhäufen von Lehren und deren genetische Tradierung auffassen, wie dieser Umstand natürlich seit dem Erscheinen des menschlichen Bewußtseins von noch erheblich größerer Bedeutung ist, als dieses Bewußtsein selbst nichts anderes als ein Produkt aus Lernen und Tradition im Weg schichtender Rezeption und Reflexion ist. Dann haben wir aber doch zu fragen: woher kommen die Lehren? Durch welchen Akt lernt das Leben wie der Mensch, wenn alle Arten einschließlich der Spezies Mensch nichts anderes sind als "festgestellte Lern-Tatbestände"?

Der Gläubige sieht hier natürlich seinen Gott am Werke, man denke etwa an den in Amerika wieder in Mode gekommenen Kreationismus, welcher sicherlich auch nur ein Teil jener global zu beobachtenden fundamentalistischen Strömung ist, in welcher sich die von der Rationalität im Stiche gelassenen, von deren Folgen bedroht fühlenden Menschen auf ehemals wirksame Lehren zurück-be-sinnen wollen. Was aber ist für die Vernunft dieser "Schöpfer", wie läßt sich das Wesen der Offenbarung denken? Denn jede neue "Lehre", also jedes neue Lebewesen in der Reihe der Arten wie jede kategorielle Umformung innerhalb der Spezies Mensch, alles dies sind Offenbarungen eines vorher nicht Vorhandenen. Jede neue "Lehre", auf welcher Ebene des Lebens auch immer, wird hervorgebracht durch ein einzelnes innovatives Lebewesen. Diesem steht im Wege der kombinatorischen Genetik (beim Menschen vor allem aber eine individuelle "Epigenese" der neuronalen Gehirnvernetzung in Wechselwirkung mit der Konditionierung durch Tradition) eine besondere und andere Ausstattung zur Verfügung, die in einer besonderen und anderen als der herkömmlichen Art und Weise durch die vorgefundene Umwelt ausgestaltbar sein muß. Das gilt auch und gerade für den menschlich-geistigen Bereich, auf welchen die Innovationsfähigkeit der Natur (derzeit?) als kulturelle Evolution übergegangen ist. Nicht umsonst sehen wir auf allen Gebieten des Geistes Schulen: in jeder Richtung von Natur- und Geisteswissenschaften beruft sich jeweils eine ganze Hierarchie von Lernenden auf ein bislang erreichtes Maximum im jeweiligen Wissenszweig, welches Maximum immer mit dem Namen eines genialen Lehrers verbunden ist. Und erst die wenigen ganz großen Geister des Menschengeschlechts, sie prägten sich der Tradition mit einer Wirksamkeit gar über Jahrtausende ein – und noch heute ist der Überlieferung die Kraft anzumerken, die von jenen Individuen ausging, mit welcher sie auf ihre eigene Zeit, aber auch bis zu uns herauf zu wirken vermochten, mit welcher Kraft sie ein neues "Licht", eine neue "Farbe" in den geistigen Bestand des Menschlichen einbrachten.

Diese nämliche Bewegung und Verbindung zwischen Innovation und Tradition ist ebenso wie auf dem geistigen auch auf dem religiösen Sektor zu beobachten; neben der Mittlerrolle ist die Hauptfunktion jedes der drei großen Religionsstifter Jesus, Buddha und Mohammed die des Lehrers, zu dessen Lehre die "Gläubigen" sich hinflüchten, zu dem sie als Stellvertreter aufblicken, wo ihnen ihre eigene geistige Kraft die Einsicht nicht erlaubt, so daß die "religiöse Lücke" (hinter welcher die Unfestgestelltheit der Art verborgen ist) durch diesen Glauben an die Lehre des stellvertretenden Innovators geschlossen wird. Diese Unselbständigkeit der meisten Individuen ist nicht nur ein Tatbestand im Religiösen, nein, sie ist auf allen Wissens- und Lebensgebieten gang und gäbe – von den emotionalen Konditionierungen über die Wissenschaft zur Ethik bis in die Religionen. In diesem unselbständigen Anhängen an einer Lehre wird das Heil geradeso indirekt wie das Unheil uneigentlich ist – was in besonderer Weise die katholische Kirche verkörpert: in ihrer doppelten Stellvertreter-Konstruktion – der Papst als Stellvertreter Jesu, welcher wiederum stellvertretend für alle Individuen die "Schuld der Welt" auf seine Schultern nahm – wird diese Unselbständigkeit der Individuen zum Prinzip erhoben und nach Möglichkeit auf ewig festgeschrieben. Es wird nicht auf den lebendigen Glauben des Einzelnen, auf dessen vereinzelte Stellung vor Gott abgehoben, sondern darauf, daß nur derjenige "rechtgläubig" sei, welcher sich im Rahmen der Lehrmeinung des Papstes bewege, über welchen allein die Verbindung zu Jesus und hierüber wieder zu Gott führe. Wer aber sich dieser Dogmatik entgegenzustellen suchte, weil er gegen diese Indirektheit des Heils aufbegehren mußte, weil er das Un-Heil als eigentlich erfahren hatte, wurde verfolgt – von Eckehart über Hus und Luther bis heute etwa zu Küng und Drewermann.

Ist es aber eine unumstößliche Erkenntnis, daß solche innovativen Lehren auf dem religiösen Sektor innerhalb der Immanenz durch "heilige" Lehrer hervorgebracht wurden – heilig hier deshalb, als der Begriff "genial" nur für Kunst und Wissenschaft, für die Vernunft selbst taugt, während im Begriff heilig auf die andere Qualität solcher kategorie-umstoßenden Innovation gewiesen wird. Ist es weiter richtig, daß der Mensch bezogen auf seine geistigen Fähigkeiten (als das Procedere in den Kategorien dieses Geistes) das "nichtfestgestellte Tier" ist, so können auch diese innovativen religiösen Lehren nur endlicher und vorübergehender Natur sein; was sich denn auch am Weg der Religion durch die Kategorien nachweisen läßt: von den Natur- über die Volks- zu den Hochreligionen. Das heißt aber, daß Lehrer und Lehren vorübergehende geschichtliche Erscheinungen sind, welche das dem menschlichen Geist jeweils maximal Mögliche an Einsicht an den Kategoriebruchstellen vorausschauend erfaßten und das Bedürfen des Geistes, welches aus eben diesen neuen Fähigkeiten erwächst, das Bedürfen nach dem Heil: die Sehnsucht nach Ganzheit in einer Teleologie, welche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenschließt, einzulösen vermochten.

3. Das Heil und der "echte Ethiker"

Die unterschiedliche Verhaltensweise eines Jesus im Verhältnis zu den ihm nachfolgenden Märtyrern legt den Verdacht nahe, daß jene es ein Stück auf dies Märtyrertum anlegten und durchaus nicht in einem wirklichen Bezug zur Transzendenz existierten, sondern vielmehr als Idealisten alles auf die Eine Karte des Glaubens setzten. Wäre alles andere nicht auch verwunderlich? Kann doch ein solcher Vorgriff (Jesus) und dessen "kongeniale" Vermittlung (Paulus) nicht urplötzlich als ein "allgemein-zugängliches" Phänomen auftreten. Überzeugte jene Lehre sowie das appellierende Vor-Leben derselben durch die begeisterten Anhänger insbesondere im Kontrast zur abgelebten und verwirrten Existenzhaltung der Antike nicht vielmehr die Vernunft jener Märtyrer und vollendete diese Vernunft durch ihre eigene Leitungsübernahme?

Diese Vermutung wird vor allem dadurch bestärkt, daß der Märtyrer (ähnlich etwa wie die Helden in Schillers, noch stärker in Kleists Dramen) nicht so sehr durchdrungen erscheint (wie etwa ein Jesus in Bezug auf die Transzendenz) als vielmehr fixiert – fixiert auf diese Lehre als ein Ideal. Hinter der märtyrisierenden "Sturheit" scheint ein Eigenwille auf, Kennzeichen des Auf-Sich-Selbst-Stehens, in welchem das Ich seinen Wert in das (der Ratio eigentlich gegenüberstehende) Ideal hineinverlegt: dieses Ideal will das Ich werden und es festhalten auch gegen alle Welt – die Übersteigerung einer solchen Haltung ergibt den Kohlhaas-Typ. Andrerseits kennt jedoch das wahre Durchdrungen-Sein in der Transzendenz kein Gegen und keinen Gegner!? Diese Überlegungen sollen helfen, dem "echten Ethiker" auf die Spur zu kommen, dessen existentielle Möglichkeit zweifelhaft scheint – jedenfalls zumindest insoweit, ob eine solche ethische Existenz im heute erreichten Stand der Reflexion "richtig" sein könne. Der Status als echter Ethiker setzt das Eintreten der Existentialität in die Vernunft voraus, seine Betroffenheitssphäre muß sich dabei mit einem bestimmten und durch Ort und Zeit, also außerhalb seiner selbst konkretisierten Ideal verbinden, wenn jenes denn in die Realität hineingetragen werden soll. Denn das "allgemeine Gute" bleibt immer unverbindlich und/oder emotional, so daß sich eine täglich-konkrete Existenz daran gar nicht ausrichten läßt. Aber mit der Auswahl eines konkreten Ideals wird das Ethische überspannt und unzulänglich, weil dieses Ideal zur Kollision mit anderen Idealen führen muß, wenn es einseitig durch die individuelle Betroffenheitssphäre hochgehalten wird (Kohlhaas). Eine solche "echt-ethische" Grundhaltung muß also mit dem Selbstwiderspruch leben, daß die einzelne rationale Real-Konkretisierung des Ideals in Kollision zum "Über-Ideal", dem "Allgemeinen-Guten" (in Wirklichkeit zum Absoluten) geraten kann, wie auch die verschiedenen Real-Konkretisierungen untereinander. Dies aber verweist auf Beschränkung wie Beschränktheit der rein ethischen Perspektive.

Funktional gilt für den Ethiker, daß er nicht nur die Rezeptionsphase des neueren, vertikalen Neuronenkreises, welche beim Mischtyp zwischen Verstand und Vernunft zu den intellektuellen Grenzwerten führt, sondern auch die Reflexion absolviert hat – und zwar mindestens soweit, daß sich Betroffenheit und "Wert" seines Ich nicht mehr aus dem Emotional-Zentrum bestimmen (welch letzteres vielmehr dienend wird). Weiter muß er die Betroffenheit in den Zuständigkeitsbereich der Ratio überführt haben, was bewirkt, daß die Wertebildung nunmehr von der Vernunft abhängen soll. Woraus und wie werden aber nun hier die Werte gebildet? Der einfachste und normale Weg ist die Übernahme von Idealen aus der Tradition – was aber das apriorische Vorhandensein solcher Ideale bereits voraussetzt. Der Modus der Wertebildung wie der -übernahme ist das rational-vertikale Vergleichen auf der abstrakten Ebene. Auf diesem Wege "nach oben" kommt es zu einer Sublimierung des "Angenehm-Nützlichen" der Emotio zum "Einzig-Richtigen" der Ratio. Die Bestimmung dieses "Einzig-Richtigen" wird sich immer danach richten, wieviel an Fakten und Perspektiven die entsprechende Ratio in sich aufzunehmen vermochte. Dies so gebildete "Wahre" ist also keineswegs "absolut", sondern vom Wissen abhängig. Da aber das Wissen erstens objektiv unvollendbar ist, zweitens das subjektive Bewußtsein für die Aufnahme des vorhandenen Wissens gar nicht ausreicht, so bleibt dies "Einzig-Richtige" immer relativ – ein paradoxer Selbstwiderspruch! Wäre dies nicht der bislang eher erspürte und von daher gesuchte Beweis für die objektive Unmöglichkeit des Ethikers?

Andrerseits liegt die subjektive Wahrheit und Existenzberechtigung des Ethikers darin, daß es offenbar "genügt", das vorgefundene Selbst, wie es aus Anlage und Umwelt geworden ist, durchzureflektieren, um die Vertikalität der Vernunft zu schließen und die Existentialität in diese überzuführen, um damit eine existentiell tragfähige Vernetzung des Subjekts im ethischen Bereich herzustellen. Die subjektive Berechtigung dieses Typs ergibt sich zwangsläufig daraus, daß die Befähigung zur Reflexion als Potenz anlagebedingt ist, für die tatsächliche Durchführung dazu noch meist des Konflikts mit der Umwelt bedarf. Dann steht es aber weder im Belieben des Individuums noch könnte es gar als "Pflicht" gefordert werden, auch noch über das Ethische hinaus zu reflektieren – wenn dies eben sein Feststellungspunkt ist, sein "Heil". Das Grundproblem ist hier wieder, daß Phylogenese und Ontogenese sich nicht decken, sondern daß innerhalb einer Generation immer der ganze Bestand der Phylogenese ausgeschüttet wird. Dabei werden sich die Fähigkeiten und damit auch diejenige der Reflexion in der Generation entsprechend den Mendel’schen Gesetzen verteilen: daß das "Mittlere" gegenüber den Extremen – somit auch gegenüber der Überschreitung der Kategoriegrenze "Ratio" – weit in der Überzahl sein wird. So daß sich die Spezies Mensch zu über 90 % aus phylogenetisch überholten Typen beziehungsweise "Wiederholungen" zusammensetzen wird. Unter diese ist noch auch jener echte Ethiker zu zählen; andererseits tut diese Überholung seiner subjektiven Wahrheit keinen Abbruch. Phylogenetisch gesehen ist also eine objektive Unmöglichkeit des Ethikers als solchen zu konstatieren, nicht aber die subjektive Möglichkeit zu leugnen; denn die durch Anlage begrenzte funktionale Vernetzung wird immer wieder jenen Typus hervorbringen, der gerade hierin seine Seinskonstellation findet, daß er durch seine lebendigen Anstrengungen in Verbindung mit seinem Wissensstand zu einer ethischen Idealbildung und Existentialität gelangt, welche ihm Leitstern für seine Existenz wird. Dieser Weg zum Ethiker ist natürlich nichts Geplantes oder ein rationaler Entschluß: bis hierher und nicht weiter – sondern dies ist die lebendige Entwicklung des "Erwachsen-Werdens", welche je nach Veranlagung mit der "Reife" endet – was sich neutral als Feststellung und negativ als Entwicklungsstillstand auffassen läßt. Daß nämlich die Reflexion als das bewußte Ergreifen der Rezeption nur bis zu einem bestimmten Punkt durchgeführt wird, und dann stehenbleibt; und daß an dieser Stelle sich dieses Ich in einer Wechselwirkung aus soseiender Umwelt, eigener Neuronenvernetzung, eigenem Wissensstand und Traditionsübernahme gefunden zu haben meint. An diesem Punkt ist wieder jenes bedeutsame Faktum zu konstatieren: ein Zusammenhang und Aufeinanderwirken von geistigen Objekten auf eine lebendig-werdende Ausdifferenzierung in funktional-leiblicher Hinsicht abhängig vom Wissen (=Epigenese). Ist nun dieses Wissen auf der objektiven Seite unvollendbar, so kommt es offenbar auf die Art und Qualität dieses Wissens an, durch welche darüber entschieden wird, ob einer als Ethiker stehenbleibt oder in einer neuen Rezeptionsphase zur Doppelreflexion des Ich-Ich beziehungsweise in Richtung auf Transzendenz weitergeht. Entscheidend wird also sein, ob es sich bei diesem Wissen um ein Erlernen oder um existentielles Erkennen handelt.

a) Ist der Modus der Aufnahme des Wissens das Erlernen, so handelt es sich um rationale und zweckgerichtete Traditionsübernahme aus der Außenrealität zum Zwecke des Handelns im Dienste von Emotio beziehungsweise Ratio. Das Ich ist dabei ein "Nicht-Ich", als es den eigentlichen Zweck seines Handelns sich entweder unbewußt emotional oder rational-ethisch vom Außen setzen läßt. So sagt etwa der Ethiker, daß die Gemeinschaft mehr sei als er als Individuum – und kann doch den Widerspruch nicht auflösen, daß auch noch die Gemeinschaft nichts anderes ist als eine Ansammlung von Individuen.

Geschieht die Übernahme des Wissens durch Erkennen, so wird hierdurch eine existentielle Anverwandlung des inneren Sinngehaltes dieses Wissens bewirkt, so daß jede eigentliche Erkenntnis per se ipsum eine existentielle Bewegung auslöst.

b) Wenn das objektive Wissen unvollendbar ist, aber eine Einheit des Individuums im Ich-Ich möglich sein soll (was der Durchreflektierung der ethischen Kategorie in geistiger wie in neuronaler Hinsicht gleichzusetzen ist), so wird das erkennend aufzunehmende Wissen durch und bei der Reflexion in bestimmter Weise beschränkt werden müssen:

α) Nach Außen hin kommt es auf die Freiheit von Aberglauben an – d.h., dies Individuum muß die natürliche Ursachenverkettung in ihrer Kontinuität bis zu ihm selbst hin als widerspruchsfrei möglich erkannt haben. Daraus folgt, daß es sich mit den Naturwissenschaften beschäftigend mit deren Ergebnissen in Einklang sein muß, ohne daß letztere allerdings bis in die letzten Einzelheiten verfolgt werden müßten, weil dies objektiv unmöglich ist. Weiter muß das Individuum dadurch den Aufbau des Seienden in seiner Kontinuität und insbesondere auf der Innenseite des Werdens mit seiner Vernunft schematisch verstanden und aufgenommen haben.

β) Nach Innen kommt es auf das Selbstverstδndnis des Menschen in phylo- wie ontogenetischer, in objektiver wie subjektiver Hinsicht an: Die Instinkt-, Emotio- und Ratio-bedingten Funktionsschichten samt ihren sich verselbständigenden Hervorbringungen an Traditionsbestand, aus dem heraus wiederum die Individuen konditioniert werden, müssen als solche erkannt werden: daß diese Schichten die Geschichte und Schichtung des Einzelnen wie der Art ausmachen.

Neben dem objektiven Wissen kommt es demnach auf das Erkennen an sich und das Erkennen des Menschen seiner selbst an: was die Individuen im allgemeinen und dieses Individuum im besonderen bedingt, daß es an demjenigen Punkte steht, wo es gerade steht. Also nicht nur auf die conditio humana als solche, sondern auch noch als in sich differenzierte in einem doppelten Sinn: daß diese conditio humana selbst einem Wandel unterworfen ist, und daß diese Differenzierung im Individuum selbst bis hin zum erkennenden Subjekt des Ich-Ich statthat. Die subjektive Reflexion, das Erkennen der individuellen Bedingtheit in objektiver wie subjektiver Hinsicht und die völlige Reflexion dieser Bedingtheit ist die Voraussetzung für ein Fortschreiten der neuronalen Vernetzung, als nur dadurch das lebendige und existentielle Betroffenheit auslösende Erleben aus den vorherigen Regulationszentren herausgelöst werden kann. Bei unvollständiger Reflexion zersplittert sich das Erleben zwischen Alt- und Neuzentrum und bildet so die Mischtypen aus. Daher denn auch der Drang des Denkers zur Vollständigkeit, zum "System", welches allein erst die Schließung der Reflexion erlaubt und gleichzeitig schon das Umkippen und die Zerstörung des eben geschaffenen Systems in sich trägt, als es entweder fälschlich nach unten, oder richtig nach oben sich neue Wege erschließt, so daß direkt mit und durch das Schließen, mit der Bestätigung und Einlösung der Reflexion sofort eine neue Rezeption beginnt, die den Keim der Aufhebung der eben bestätigten Schließung bereits in sich trägt.

Nach neuen Meeren

Dorthin – will ich, und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,
Mittag schläft auf Raum und Zeit – :
Nur dein Auge – ungeheuer
Blickt mich an, Unendlichkeit!

Friedrich Nietzsche


Anmerkungen

(1) Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 744

(2) Dazu lesen wir bereits in der Nr. 42 von "Menschliches Allzumenschliches": "Ein niedriges Gut ... einem höher geschätzten ... vorzuziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorzuziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maßstabe einer früheren Kultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch." "...in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird bei einem Rückblick all unser Handeln und Urteilen so beschränkt und übereilt erescheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urteilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt." aaO, Nr. 107

(3) Daß auch Nietzsche schon auf die physischen und psychischen Voraussetzungen des "Glücks" in ganz vergleichbarer Weise zu den heutigen "Kognitionswissenschaften" aufmerksam wurde, belegt aaO, Erstes Hauptstrück Nr. 1: "Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen..."

(4) Nietzsche überschrieb aus diesem Grunde aaO, Nr. 33 seines Ersten Hauptstücks aus diesem Grunde: "Der Irrtum über das Leben zum Leben notwendig."

(5) Natürlich handelt es sich dabei um nichts "Metaphysisches", sondern um die Wechselwirkung von sich gegenseitig beeinflussenden Regelkreisen, die mittels dieser "Kommunikation" zu einer "labilen Feststellung" des Seienden führen, welche von der Vernunft als "Naturgesetze" entlang der Wiederholung unter gleichbleibenden Bedingungen (=Kausalität) beschrieben werden.

(6) und sei es im Theater: so lächerlich ist das gar nicht, denn die Fähigkeit zur Reflexion bringt es per se ipsum mit sich, auch noch dem Druck der Ideale ausweichen zu können! – sprich, sie aus der Wirklichkeit in die Phantasie zu verlegen; und deshalb waren es die Griechen, die das Theater "erfanden".

(7) Nach einer neuen Umfrage glauben 40 % der Physiker an Gott (1998).


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