W a s   i s t   D i a l e k t i k ?  

von Helmut Walther (Nürnberg)

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Vorangestellt sei als „phänomenologische“ und damit eben nur deskriptive Definition diejenige aus dem „Philosophischen Wörterbuch“ von Heinrich Schmidt:

Dialektik (vom griech. dialektiké [téchne], „die Kunst der Unterredung“), die Kunst der Beweisführung, die Wissenschaft der Logik. Für Sokrates ist die D. die Kunst der Unterredung zur Klärung der Begriffe, für Platon die oberste Wissenschaft: das Verfahren zur Erkenntnis der Ideen; bei den Sophisten wurde die D. zum intellektuellen Werkzeug im Existenzkampf ... Vom MA. bis zum 18. Jh. war D. die Bez. für die übliche (Schul-) Logik.

Kant versteht unter D. ein Pseudophilosophieren, eine „D. des Scheins“, weil sie allein durch die Vernunft, ohne die notwendige Stützung auf die Erfahrung, zu Erkenntnissen (metaphysischer Art) gelangen möchte ...

Für Hegel ist die D. die „wissenschaftl. Anwendung der in der Natur des Denkens liegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich diese Gesetzmäßigkeit selbst“ ... Sie ist die Bewegung, die als eigentlich geistige Wirklichkeit allem zugrunde liegt, und zugleich die des menschl. Denkens, das als Spekulation an dieser Bewegung allumfassenden, absoluten Anteil hat. Die dialekt. Struktur des Absoluten (der mit dem All identischen Gottheit) wird in der Wissenschaft der Logik (d.h. der Ontologie) entwickelt. Natur und Geist sind nichts anderes als Entfremdung und Rückkehr dieses göttl. Logos. Alle Bewegung verläuft nach den „vernünftigen“ Gesetzen der D. Das Gesetz des beweglichen Denkens ist das der beweglichen (geisthaften) Welt.

Für den dialektischen Materialismus des Marxismus ist D. zunächst die innere Gesetzmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung und – da alles andere von ihr abhängt – des Weltgeschehens überhaupt. Im Gesetz der D. sieht der Marxismus die Garantie des Fortschritts in Richtung auf eine allg. Glückseligkeit des Menschen. Der große dialektische Dreischritt ist: Kapitalismus (Thesis) – Diktatur des Proletariats (Antithesis) – Klassenlose Gesellschaft und gleiches Glück für alle (Synthesis).“

Der Begriff der Dialektik wird hier in jeweils unterschiedlicher Weise gebraucht, ohne daß man jedoch erfährt, was sie denn nun an sich sei: wie kommt es dazu, daß der Mensch in Griechenland überhaupt auf das Dialektische stößt? Was ist Dialektik ihrem Wesen nach? Was für eine Veränderung geht in der neuronalen Anlage des Menschen, in seinem „Geist“ als Funktion vor sich, daß er auf einen „Umstand“ im Seienden, an dem er Jahrtausende vorbeiging, nun auf einmal aufmerksam wird?

Die Hypothese, die hier untermauert werden soll, lautet: Dialektik ist die Rezeptionsphase der Vernunft und in diesem Erbauen des ersten Halbkreises der Vernunft diese selbst, bis sie durch sich selbst in ihrer eigenen Reflexion durch sich selbst überschritten wird (seit Descartes) und damit ihren zweiten Halbkreis, ihre Reflexionsstufe auffüllt.

Zunächst wird tabellarisch ein Überblick über die hier in Frage kommenden Entwicklungsschritte gegeben: von der Sophistik zu Sokrates über Platon zu Aristoteles, dem Begründer der abendländischen Logik und Metaphysik. Dieser Überblick wird am Ende der Arbeit durch näheres Eingehen auf die Hauptautoren und deren Originalzitate vertieft.

Ziel Individuum Gesellschaft

Protagoras (481-411) Sophisten (antike „Aufklärung“)

areté als bürgerl.-politische Tüchtigkeit durch Bildung (paideía) Lebensbeherrschung durch Wissen (sophía) u. Rhetorik, im Denken, Reden und Handeln Naturrecht (des Stärkeren) auf Basis der rezipierenden und alles relativierenden Vernunft ohne Zentralwert. Sitte ist Satzung (nómos).
Sokrates (470-399)
der einzelne Mensch als Thema
eudaimonía durch areté als Sittlichkeit mittels Selbsterkenntnis der Seele Forschen nach dem Wahren = Guten – Wissen läutert, reguliert vom daimónion Pflichterfüllung gegenüber und Förderung der Gemeinschaft unter dem Vorbehalt des eigenen Gewissens
Platon (427-347)
Transzendenz der Idee als Wesen
tó agathón = Schau und Bestimmtwerden von und „Zeugen“ in der Idee des Guten – Dialektik und

Dihairese führen zur Realität der Ideen.

Überwindung der Sinnlichkeit und existentieller Aufstieg des Individuums durch Erkenntnis des wahren Wesens = Sein Von „Philosophenkönigen“ geordneter Staat zur Förderung aller Individuen entsprechend ihrer Begabung
Aristoteles (384-322)
Immanenz der Idee als Form
eudaimonía ist Folge der areté im Auffinden der rechten Mitte mittels der Vernunft. Begriff, Urteil und Schluß führen zur alétheia.
Der Hylemorphismus erkennt das Sein als ewiges Wesen im Seienden in Verbindung mit der Substanz, die ihre entelécheia ersehnt
Die sittliche Handlung als Entelechie des menschl. Wesens ist freie Wahlhandlung als Wissen um das Gewollte (dianoetische und ethische Tugenden).

Der Zweck des Staates ist die autarke Eudaimonie seiner Bürger als Ermöglichung von deren Vollkommenheit und Selbständigkeit unter Zugrundelegung von deren Verschiedenheit entsprechend Anlagen, Gewöhnung und Einsicht: Gleichheit gilt nur unter Gleichen.



Kategorieller Schritt

Sophisten

Anwendung der Rezeption der Vernunft ohne Zentralwert aus dieser; Maßstab ist der Nutzen (variierend in seiner Bestimmung durch Emotio, Verstand oder rezipierende Vernunft), Ziel ist eine entsprechende Bildung im Hinblick auf den jeweiligen Nutzen.

Sokrates

Die Erkenntnis der Haltlosigkeit der Sophisten erzwingt die Wendung zum Menschen, das Gewissen meldet sich als Wille der Vernunft. Die Innenwahrnehmung der sich als Selbst suchenden Vernunft versucht im Dialog, das Wahre zu finden und vom Wesen her Aussagen zu machen.

Platon

Erster rationaler Durchbruch zum existentiellen Ziel der Vernunft; Bestimmung des Wesens von Seiendem seitens der reflektierenden Vernunft, die mit dem kósmos noetós, dem Reich der Ideen, korrespondiert und das Gute als das Wahre der Vernunft entbirgt, um in der Teilhabe gezogen vom Eros sich diesem anzuähnlichen und sich dem wahren Sein anzunähern.

Aristoteles

Der erste rationale Mensch in unserem Sinne: die reflektierende Vernunft stellt sich auf sich selbst, und stellt sich das Lebendige gegenüber (Dualismen: Form und Substanz, Leib und Seele, erste [Sinnliches] und zweite Substanz [Wesen] ) und erkennt sich als nûs als das höchste. Erster Systematiker (Wissensammlungen) und Methodenlehrer (Erkenntniskritik): die Vernunft sucht sich ihres eigenen Wesens zu versichern, um die Wahrheit aus sich selbst heraus zu begründen (Syllogismus), um als alétheia die eigene entelécheia zu durchleuchten und durchleuchten zu lassen.

Allein schon am griechischen Stammwort dialégein und dessen Umschlag von einer aktiven Verwendung als „auslesen, auswählen“ hin zur übertragenen passivischen Bedeutung als „überlegen, erwägen; sich unterreden, sich unterhalten; verhandeln; vortragen, sagen “ läßt sich diese Bewegung zeigen, die hier als Eröffnung der Vernunft mittels und als Dialektik vor sich geht: es ist der Verstand des Menschen, der aktiv ins Umseiende ausgreifend auswählt, und es ist die rezipierende Stufe der Vernunft, die das vergleichend Angesammelte erwägt. Diese neue Innenwendung als eine Hemmung und vertikale (neuronale) Erhöhung des Verstandes erbaut und ist die „Plattform“ der Vernunft: die „Dialektik“ (diá – auseinander) ist die Durchsicht auf das Wesenswas des Seienden im Aufmerken auf die piktographische Struktur der Verstandeswahrnehmung, in der das „Wesen“ der Dinge schlummerte und nun durch die rezipierende Vernunft entborgen wird. Dieses „Wesen“ schlummert insofern bereits in der Wahrnehmung der Dinge durch den Verstand, als Sinneswahrnehmung immer zunächst Mustererkennung ist; diese Muster der Sinne setzt die Verstandeswahrnehmung immer sofort zusammen mit der aktuellen Wahrnehmung, sodaß unsere Wahrnehmung zunächst immer eine zusammengesetzte ist. Diese Zusammensetzung löst die Vernunft als erneute Hemmung des Verstandes auf und rekurriert allein auf die Muster, aus denen das Wesen gebildet und eigens erfaßt wird durch und als Vernunft.

Nicht umsonst heißt „Wahrheit“ im Griechischen alétheia Unverborgenheit: in diesem Wort schwingt das Bewußtsein davon mit (wie in dem „Wiedererinnern“ Platons), daß das „wahre Wesen“ immer schon vorhanden sei, und daß es durch die Vernunft in die Unverborgenheit gehoben werden müsse (Höhlengleichnis). Diese Erkenntnis stimmt nun zwar nicht für die „Wahrheit an sich“, sondern „nur“ für das psychologisch richtige Bewußtsein, daß bereits in der Wirklichkeit Liegendes, das Wesenswas, durch den nûs ins Licht des Bewußtsein gehoben wird – aber die Griechen durften noch völlig zu Recht ihre neue Wahrheit für die absolute halten, tat dies ein Hegel doch auch noch im Hinblick auf seine „Wahrheit“, obwohl letzterer sich doch schon im Stande der Reflexion befand, wo die Griechen erst die Welt der Vernunft zu offenbaren hatten.

Diesen Weg eröffnen die Vorsokratiker, indem sie die umgebende Welt „dialektisch“, das Gleiche im Verschiedenen ermittelnd beobachten, auswählen, sammeln und auf ein Prinzip zu bringen versuchen, das „Wesentliche“. Die Sophisten sind es, die diese Methode auf den Menschen und seine Stellung in der Welt und in der Gesellschaft übertragen. Da ihnen der neue Wert des Daseins notwendig noch fehlen mußte, ermittelten sie diesen aus dialektisch-technischen oder unbewußten Vorurteilen heraus auf der Basis des Verstandes mittels der vergleichenden Technik der Dialektik. Aus diesem Grunde kommt es in der Sophistik zu völlig gegensätzlichen und unvereinbaren Standpunkten, wie dies für die moderne Aufklärung aus dem gleichen Grunde gilt: bei den Griechen war der neue Zentralwert noch nicht geboren, den die moderne Aufklärung mittels Reflexion der Vernunft auflöste.

Sokrates ist es, der „dialektisch“ nach dem Wesen des einzelnen Menschen fragt und damit das „Individuum“ im abendländischen Sinne auf den Weg bringt; bei ihm wie dann in den daraus hervorgehenden Dialogen Platons ist die dialektische Methode klassisch ausgeprägt als das Aufeinandertreffen widersprechender Meinungen und als der Versuch der Überwindung der Widersprüche im Gespräch. Die Dialektik des Sokrates will als Epagoge („Herbeischaffen“) das Allgemeine im Besonderen, das Wesentliche als das Wahre auffinden, um schließlich umwendend nach der Erkenntnis das Besondere vom Allgemeinen her zu bestimmen (s.u. 2.): von daher bekommt das Wissen bei Sokrates diese Bedeutung, daß es identisch mit „Können“ wird wie die Weisheit mit der Tugend – es ist ein umstellendes Erkenntniswissen.

Wo Sokrates nur fragt und ansonsten auf sein lediglich verneinendes „Daimonion“ angewiesen ist, da stößt Platon als erster durch zum „reinen Wesen“ und damit zum neuen Wert der Vernunft: die „Idee“ als das Zentrum des „Schönen, Wahren, Guten“. Das von der Vernunft im Wege der Dialektik geschaute Wesen der Dinge muß (zunächst) wertmäßig höher stehen als das zufällige Sosein der realen Dinge. Platon gelingt es, die Umstellung durch Erkenntniswissen bewußt zu machen und auf den Begriff zu bringen als das Gegenstück zur Dialektik, als die „Dihairese“: aus der Teilhabe am wahren Sein ist es möglich, das Seiende vom „wahren Sein“ her zu bestimmen (s.u. 3.). Die „Ideenlehre“ ist Wesens-Lehre: alles Seiende muß sein „wahres Wesen“ von seiner „Idee“ her haben, weil das Wesen vor und über dem nur Seienden steht (urteilt die rezipierende Vernunft). Und Platons Lehre ist wesentlich eine Wert-Lehre, wie sich der ihrer selbst bewußt werdenden Vernunft die Welt zeigt.

Demgegenüber steht bei Aristoteles im Vordergrund das funktionale Vermögen Vernunft, dessen Weise er im Syllogismus auf den Begriff bringt (s.u. 4.). Der Syllogismus verbindet Dialektik und Dihairese, Verstand und Vernunft, die Logik ist geboren (nach Kants Worten haben wir ihr seither nichts wesentlich Neues hnzufügen können). Im Syllogismus wird eine allgemeinverbindliche Wesensaussage der Vernunft (Obersatz) mit einer empirischen Verstandesaussage (Untersatz) zusammengesetzt; die notwendige Evidenz des Syllogismus ist darin begründet, daß der allgemeine Gegenstand des Obersatzes als das Piktogramm des empirischen Gegenstands im Untersatz enthalten ist: alle Menschen sind sterblich – allgemeiner Gegenstand: Mensch. Sokrates ist ein Mensch – dies ist sein „Wesen“, sein „Piktogramm“. Mithin kann Sokrates in den Obersatz eingesetzt werden – und muß sterben ... Aristoteles ist damit der erste, der Verstand und Vernunft unterscheidet und in ein gehöriges Verhältnis zueinander weist (s.o.: Verstand als nûs pathetikós, Vernunft als nûs poietikós). Und er ist der erste, der die Gebiete der Vernunft aufteilt in Physik, Politik, Logik, Ethik und Metaphysik.

Das entscheidend Neue, mit dem dieses Dreigestirn das abendländische Denken begründet, ist die Wesensschau der Vernunft, die aus der Dialektik als der Eröffnung einer neuen neuronal-vertikalen Fähigkeit der selbständigen Konditionierung von Wesen und Definition hervorgeht.

An den Wandlungen des Begriffsgehalts der „Dialektik“ läßt sich in gewisser Weise auch der Weg der Entwicklung der Vernunft selbst ablesen: stehen die Sophisten mangels eines obersten Wertes noch in einem Nutzungsverhältnis zu ihr als „Werkzeug im Existenzkampf“, so ist sie für Sokrates ein Hilfsmittel zur Begriffsklärung um der „Tugend“ willen; für Platon wurde sie die Wissenschaft schlechthin als der Weg zu den „Ideen“: auf Stufen führt der Weg der Dialektik zur wahren Erkenntnis des Wesens (Symposion).

Aristoteles ist mit der Klärung des Verhältnisses von Verstand und Vernunft, dem Syllogismus und der Logik bereits über die Dialektik hinaus, er mißt als erster die Welt von der Vernunft her aus, wobei die Dialektik nur ein Mittel ist.

Kant mißversteht ganz offenbar den griechischen Begriff der Dialektik, wenn er ihn als Pseudophilosophieren ohne Stützung auf Erfahrung abweist, wie die unten angeführten Originalzitate beweisen: ganz im Gegenteil geht in allen Fällen die Dialektik von der Empirie des Verstandes aus, um von da aus das Allgemeine aufzusuchen. Kant hat also wohl den Dialektik-Begriff des MA und der Scholastik im Auge, die allerdings, aufbauend auf Aristoteles und diesen im christlichen Sinn ausdeutend, ihre „ Summen-Bildung“ im leeren Raum betrieb.

Hegel sieht die Sache schon sehr viel besser, aber er überträgt ein Prinzip, das dialektische, das die Vernunft als Vermögen des Menschen begründet, hinein in das Wirken der realen Dinge – und eben damit betreibt er selbst Metaphysik: es gibt keine zugrundeliegende geistige Wirklichkeit – das war schon der (damals notwendige) Irrtum Platons – zu der ein entfremdeter göttlicher Logos zurückkehren könnte. Das nämliche gilt für Marx, der insoweit Hegel lediglich auf den Kopf stellt und die dialektische Bewegung ins Materielle und die Zukunft verlegt, wo es bei Hegel um die Rückkehr zum „reinen Geist“ geht. In Marx’ Worten: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ Seiner Meinung nach faßte er „die Begriffe unseres Kopfes wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs, ...“ und so „ ...reduzierte sich die Dialektik auf die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens.“ Das Fehlerhafte der Übertragung des der menschlichen Vernunft angehörigen dialektischen Prinzips ins Materielle hat die Realität inzwischen nachgewiesen.

In der „Dialektik der Aufklärung“ wird der Begriff von Hegel herkommend verwendet und bezeichnet einen angeblich festzustellenden antithetischen Rücklauf der Vernunft in den Mythos. Auf den griechischen Begriff der Dialektik wird nicht weiter eingegangen, sondern vielmehr „Aufklärung“ mit der Entwicklung des menschlichen Geistes gleichgesetzt, der sich in dieser aus „rasender Angst“ der „Natur“ entfremde, um sich schließlich im Willen zur Macht der Vernunft gegen sich selbst zu wenden und unter Instrumentalisierung der Vernunft dem Mythos etwa in Form des Nationalsozialismus zu verfallen. Dieser antithetische Rückfall soll mit einer „kritischen Vernunft“ (was immer das sein mag), die sich dieser Rücklaufgeneigtheit bewußt wird, als Synthese überwunden werden.

Seit der Reflexion der Vernunft verwandelt sich mithin der Begriff „Dialektik“, der vormals eine formale Funktion und Bauweise als vernetzende Rezeptionsstufe der Vernunft war, in eine metaphysische Seifenblase dieser selben Vernunft: die Dialektik wird selbst zu einem „Etwas“, etwa zur „hölzernen Automatik“ Hegels, wie es jenem schon Kierkegaard vorwarf. Daher stammt es, daß der Begriff Dialektik heute so schwer zu fassen ist. Diese fehlerhafte Metaphysik ist es, die Kant dazu veranlaßt, die Dialektik als Scheinwissenschaft abzulehnen, weil auch er nicht in gehöriger Weise zwischen den Ergebnissen der Dialektik – in den Traditionsbestand eingegangene Metaphysik als Logik und Ethik aus der Wesensschau einerseits, fehlerhafte Metaphysik aus der Werte-Transzendenz andererseits – zu scheiden weiß. Diese Aufspaltung der metaphysischen Ergebnisse der Dialektik in ihre der Vernunft wesenhaft zugehörigen Bestandteile einerseits, und als fehlerhafte Transzendenz andererseits, bildet den Weg der Reflexion der Vernunft seit Descartes, wobei die Reflexion der Vernunft selbst beständig neue fehlerhafte Metaphysik gebiert: Utilitarismus, Spinozismus, Materialismus, Idealismus, Positivismus, Nihilismus, Existentialismus, schließlich in der weiter instrumentalisierenden Reflexion von Idealismus und Materialismus die Ideologien, insbesondere „dialektischen Materialismus“ und Kapitalismus, und schließlich den Faschismus.

In all diesen metaphysischen Systemen wird man die eigentümliche Dualität zwischen Materie und Geist nicht los, die zu einer Entscheidung für die eine oder andere Seite zu zwingen scheint – statt sie in einer regelgerechten Zusammenschau zu überwinden: aus der Phase der Dialektik als Rezeption sind wir längst herausgewachsen – und sie läßt sich schon gar nicht, etwa als „phänomenologische Fundamentalontologie“ (Heidegger) wiederholen. Das Verstehen des Wesens der Dialektik setzt uns vielmehr in die Lage, das Wesen unserer Vernunft und damit uns selbst zu erkennen.

Diesen Weg der Dialektik, mit dem die abendländische Vernunft sich auf den Weg macht, soll die folgende Zusammenstellung der wichtigsten antiken Autoren veranschaulichen:

1. Protagoras, Sophisten

[Die Redekunst kann] die schwächere Sache zur stärkeren machen

Wie alles einzelne mir erscheint, so ist es für mich, wie dir, so ist es für dich.

Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, und der nichtseienden, daß sie nicht sind.

Über die Götter habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind.

Der Sophist ist halb Philosoph und halb Politiker. (Prodikos)

Ich bin der Meinung, daß wir alle stammverwandt, zusammengehörig und Bürger eines Reiches sind, nicht nach der Sitte zwar, aber von Natur. Denn gleich und gleich ist von Natur stammverwandt; die Sitte aber, die die Menschen tyrannisiert, setzt mit Gewalt vieles Naturwidrige durch. (Hippias)

Das Sein ist etwas Unsichtbares, dem es nicht gelingt zu scheinen, das Scheinen etwas Schwaches, dem es nicht gelingt zu sein. (Gorgias)

Die Wirkung der Rede verhält sich zur Stimmung der Seele wie die Bestimmung der Gifte zur Natur des Körpers. Denn wie jedes Gift wieder andere Säfte aus dem Körper ausscheidet und das eine der Krankheit, das anderem dem Leben ein Ende macht, so bewirkt auch die Rede beim Zuhörer bald Trauer bald Freude, bald Furcht bald Zuversicht, manchmal aber vergiftet und verzaubert sie die Seele durch Verführung zum Bösen. (Gorgias)

Das Gesetz ist ein Vertrag, worin man sich gegenseitig das Recht verbürgt; aber es ist nicht imstande, die Bürger zur Sittlichkeit und Gerechtigkeit zu erziehen. (Lykophron)

Die Philosophie ist ein Angriffswerk gegen Gesetz und Brauch. (Alkidamas)

Gott hat alle Menschen freigelassen; die Natur hat niemand zum Sklaven gemacht. (Alkidamas)

Gesetz und Brauch stellen immer die schwachen Menschen und die Menge auf ... Denn sie, die Minderwertigen, sind freilich zufrieden, wenn sie gleiches Recht haben. (Kallikles)

Wohlleben, Ungebundenheit und Freiheit, wenn sie über genügend Hilfsquellen verfügt, das ist Tugend und Glück; alles andere ist Flitter, naturwidrige Konvention der Gesellschaft, Geschwätz und nichts wert. (Kallikles)

Gerechtigkeit ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren. (Thrasymachos)

Mehr Leute sind durch Schulung als durch Naturanlage tüchtig. (Kritias)

Das Wichtigste in der Welt ist nach meiner Meinung die Erziehung. (Antiphon)

2. Sokrates

Denken über den Menschen und dessen eudaimonía

epaktikoí lógoi

das Allgemeine auffindende Denken

horízesthai kathólu

das Einzelne mit Hilfe des Allgemeinen bestimmen
wesensentbergende Rezeption
epístasthai / verstehen =
sophós / wissend =
umkehrende Reflexion
dýnasthai / können
agathós / gut

Wie, mein Bester, du, ein Bürger der größten und durch Geistesbildung hervorragendsten Stadt, schämst dich nicht, für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um sittliches Urteil, Wahrheit und Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir darüber keine Sorgen? (Platon, Apologie)

Ich kann mich nicht ‘selbst erkennen’, wie der Delphische Spruch sagt, da erscheint es mir lächerlich, solange ich hierüber noch in Unkenntnis bin, das Fremde zu betrachten. (Platon, Phaidros 229e)

Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube. (Platon, Apologie 21d)

... daß mir etwas Göttliches und Daimonisches widerfährt ... eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie. (Platon, Apologie 31d)

Ich werde der Gottheit mehr gehorchen als euch. (Platon, Apologie)

Er brachte viele (von ihren Lastern) ab, indem er bei ihnen das Verlangen nach Tugend erweckte und ihnen Hoffnungen machte, wenn sie für ihr wahres Selbst Sorge trügen, sittlich gute Menschen zu werden. (Xenophon)

Wie aber dieser Mensch ist in seinem wunderbaren Wesen, er selbst wie seine Reden, dafür würde niemand auch nur eine entfernte Ähnlichkeit finden können, wenn er auch suchte. (Platon, Symposion)

Platon

Denken über den Kosmos, dessen Teil der Mensch ist.

Rezeption:

Reflexion:

dialégein = aus den eídola der sinnlichen Scheinwelt durch Vergleichen und Entgegensetzen auswählen
(vom Einzelnen – tópos horatós – zum Allgemeinen)
dihaireîn = das wahre Wesen vom eîdos aná tón lógon her bestimmen
(vom Allgemeinen – kósmos noetós – zum Einzelnen)
Stufenleiter: aeí epaniénai hósper epanabasmoîs chrómenon – Zunahme der Seinsqualität durch zunehmende parusía und méthexis des lógos (Symposion, Phaidon) Teilhabe am óntos ón: metéchein toû kaloû / tíktein alethê als dem erastón pánkalon
stéresis (privatio) des malum als Nichtseiendes: Einschränkung des Seins auf das Ideale


Die menschliche Seele und die Grundtugenden ihrer Teile

Sittliches Handeln folgt aus der Aktualisierung der eingeborenen Ideen im Wiedererinnern des wahren Seins – die Umwendung der Seele durch dies Urwissen läßt nur noch rechtes Handeln zu: Wissen ist Tugend, Freiheit ist identisch mit innerer Notwendigkeit.

Gerechtigkeit – dikaiosýne

Vermittlung von

Seele:

Begierde - epithymetikón -- Wille - thymoeidés -- Vernunft - logistikón

Haltung:

sophrosýne -- andreía -- phrónesis, sophía

(Selbstbeherrschung -- Tapferkeit -- Einsicht, Weisheit)

Staat:

Nährstand -- Wächter -- Regenten

... Gerechtigkeit scheint zu sein, daß jeder das Seinige verrichtet. (Staat 433b)

Denn das seelische Auge der großen Masse ist nicht in der Lage, den Anblick des Göttlichen zu ertragen. (Sophist 254a)

Mir scheint nämlich, wenn irgend etwas anderen schön ist außer jedem Schönen an sich, es wegen gar nichts anderem schön sei, als weil es Teil habe an jenem Schönen, und ebenso sage ich von allem. (Phaidon 100c)

Denn der Mensch muß nach Gattungen ausgedrücktes begreifen, welches als Eines hervorgeht aus vielen durch den Verstand zusammengefaßten Wahrnehmungen. Und dies ist Erinnerung von jenem, was einst unsere Seele gesehen. (Phaidros 249b,c)

Wenn sie [die Seele] aber durch sich selbst betrachtet, dann geht sie zu dem reinen immer seienden unsterblichen und sich stets gleichen, und als diesem verwandt hält sie sich stets zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt wird, und dann hat sie Ruhe vom Irren, und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie eben solches berührt, und diesen ihren Zustand nennt man eben Vernünftigkeit. (Phaidon 79d)

Die größte aber und bei weitem schönste Weisheit ... ist die, welche in der Staaten und des Hauswesens Anordnung sich zeigt, deren Namen Besonnenheit ist und Gerechtigkeit. (Symposion 209a)

... niemals aber soll man Gewalt anwenden zum Umsturz der Verfassung, falls es nicht möglich ist, ohne Verbannung und Niedermetzelung von Mitmenschen die beste Verfassung einzurichten, sondern in diesem Fall soll sich der Weise ruhig verhalten und sich und die Stadt den Göttern anbefehlen. (7. Brief, 331d)

Der Hüter und Pfleger des Alls hat alles zu Erhaltung und Vollkommenheit des Ganzen angeordnet, und zwar so, daß auch jeder einzelne Teil nach Möglichkeit das ihm Zukommende leidet und tut ... Auch das Teilchen, das du darstellst, ist immer mit seinem Blick, so winzig es ist, auf das All hin gerichtet. Du aber bemerkst es gar nicht, daß alles Werden um jenes willen da ist, auf daß dem Leben des Alls selige Wesenheit eigne, aber nicht um deinetwillen; nein, du wirst um seinetwillen (Gesetze 903).

... denn das läßt sich nicht in Worte fassen wie andere Wissenschaften, sondern aus dem Zusammensein in ständiger Bemühung um das Problem und aus dem Zusammenleben entsteht es plötzlich wie ein Licht, das von einem springenden Funken entfacht wird, in der Seele und nährt sich dann weiter. (7. Brief 341 c,d)

Alle Wahrheit ist einfach. (7. Brief, 344e)

Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt von den Göttern geliebt zu werden, und wenn irgend einem anderen Menschen dann gewiß ihm auch unsterblich zu sein? (Symposion 212a)

4. Aristoteles

Denken über den Menschen als vernunftbegabtes Wesen im Kosmos

Die Sinne führen dem Verstand sein Material zu. Angewandter Verstand bildet die Begriffe aus. Der aktive Nous stellt aus seinem eigenen Licht Definition und Urteil her (apheleîn).


umwendende Anwendung im Schluß


nûs pathetikóseîdos aisthetón, phántasma

eîdos epistetón


nûs poietikóslógos tês usías



tó tí ên eînai : das „Wesenswas“ héxis apodeiktiké – a-létheia als beseligende

Rezeption des Verstandes


Reflexion des Verstandes


Rezeption der Vernunft



Selbstbewußtsein der Vernunft



Der Syllogismus


a) Der Begriff ist Wesensenthüllung in der Aufdeckung des Wesenswas der Dinge.

Klassifikation: 10 Kategorien als Aussage-Schemata


Wesenheit

Akzidentien

Substanz, das „Ding an sich“


Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Sichverhalten, Tun, Leiden


b) Das Urteil ist Sachverhaltsdarstellung als kunstgerechte Definition des Begriffs unter Aufdeckung des Seinszusammenhangs. Es gibt Qualitäts-, Quantitäts- und Modalitätsurteile (Tatsachen-, Notwendigkeits- und Möglichkeitsurteile). Urteilssubjekt ist das Allgemeine (zweite Substanz, Wesenheit), das Urteil muß aber immer im Hinblick auf das Wirkliche und Einzelne (erste Substanz) erfolgen. Der Logos ist der Weg zum Wirklichen, nicht das Wirkliche selbst.

c) Der Syllogismus ist Seinsgrundlegung, „ ... eine Gedankenverbindung, in der, wenn etwas gesetzt ist, etwas anderes als das Gesetzte notwendig folgt, und zwar dadurch, daß das Gesetzte ist.“ (Anal. pr. 24 b 18)

Aus den Prämissen

Obersatz:

„Alle Menschen sind sterblich.“


Untersatz:

„Sokrates ist ein Mensch.“

folgt der


Schluß (Conclusio)

„Also ist Sokrates sterblich.“

Der Schluß ist immer Deduktion als Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen; alle anderen „Schluß“-Formen (Induktion, Paradigma, Indizien, Wahrscheinlichkeit, Sachverständigenmeinung) sind nicht beweiskräftig und damit nicht wissenschaftlich. Die denknotwendige Beweiskraft des Syllogismus folgt daraus, daß die Wesenheit (etwa als Gattung „Mensch“) ihrer Natur nach früher (próteron tê phýsei) ist als das Einzelne (das nur vom sinnlichen Verstand aus als das Frühere gesehen wird: próteron prós hemâs). Der Beweis folgt mithin aus der Teilhabe an der meta-physischen Wesenheit, die sich dem reinen und aktiven Nous in ihrer Erkenntnis als seinsbegründend öffnet. Wahrheit, a-létheia, ist das Durchleuchten des Wesen des Seienden ins Unverborgene.


Denn Verwunderung war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens ... (Met. 982 b 11)


Wie sich nämlich die Augen der Fledermäuse gegen das Tageslicht verhalten, so verhält sich die Vernunft unserer Seele zu dem, was seiner Natur nach unter allem am offenbarsten ist ... Richtig ist es jedenfalls auch, die Philosophie Wissenschaft der Wahrheit zu nennen.

Grundprinzipien:

... die Ursachen werden vierfach genannt, von denen die eine das Wesen und das Sosein ist (denn das Warum wird zuletzt auf den Begriff der Sache zurückgeführt, Ursache aber und Prinzip ist das erste Warum), eine andere der Stoff und das Substrat, eine dritte die, woher der Anfang der Bewegung kommt, eine vierte aber die dieser entgegengesetzte, nämlich das Weswegen und das Gute (denn dieses ist das Ziel aller Entstehung und Bewegung). (Met. 983 a 24)

Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr. (Met. 1011 b 26)

Da er [Platon] nämlich von Jugend auf mit dem Kratylos und den Ansichten der Herakliteer bekannt geworden war, daß alles Sinnliche in beständigem Flusse sei, und daß es keine Wissenschaft davon gebe, so blieb er auch später bei dieser Annahme. Und da sich nun Sokrates mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf die Definitionen richtete, brachte dies den Platon, der seine Ansichten aufnahm, zu der Annahme, daß die Definition auf etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes gehe; denn unmöglich könne es eine allgemeine Definition von irgendeinem sinnlichen Gegenstand geben, da diese sich in ständiger Veränderung befänden. Was nun von dem Seienden solcher Art war, nannte er Ideen; das Sinnliche aber sei neben diesem und werde nach ihm benannt; denn durch die Teilhabe an den Ideen existiere die Vielheit des den Ideen Gleichnamigen. (Met. 987 b 9)

In solchem Sinne also heißt dies früher und später, anderes heißt so der Natur oder dem Wesen nach; früher nämlich heißt dann etwas, was ohne anderes sein kann, während dies nicht ohne jenes; eine Unterscheidung, deren sich Platon bediente. Da nun das Sein in mehreren Bedeutungen ausgesagt wird, so ist zuerst das Zugrundeliegende früher, und deshalb ist das Wesen früher, hierauf in anderer Weise das der Möglichkeit nach und das der Verwirklichung nach sein Sein hat. (Met. 1019 a 1)

So wie bei den Syllogismen ist Grundprinzip von allem das Wesen. (Met. 1034 a 31)

Es ist offenkundig, daß wir das Allererste mit Hilfe der Erfahrung erkennen müssen. (Anal. post. 100 b 4)

Das Allgemeine ergibt sich immer aus den einzelnen Dingen. Dieses Einzelne muß durch Wahrnehmung erfaßt werden, und dies ist eben der Geist. (Eth. Nik. 1143 b 4)

Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes (insofern es ist) untersucht und das ihm wesenhaft Zukommende. (Met. 1003 a 21)

Das Prinzip nämlich und das Erste von allem Seienden ist unbewegt, sowohl an sich wie auch in akzidentieller Weise, aber es bringt die erste, ewige und einige Bewegung hervor. (Met. 1073 a 23)

... so muß es auch es auch etwas geben, das ohne bewegt zu werden selbst bewegt, das ewig und Wesen und Wirklichkeit ist ... Jenes [Unbewegte] bewegt wie ein Geliebtes, und mit dem [dadurch] Bewegten bewegt das übrige ... Von solch einem Prinzip also hängen der Himmel und die Natur ab. Seine Lebensweise aber ist die beste, was für uns nur kurze Zeit möglich ist. Denn so ist jenes immerwährend (für uns jedoch ist dies nicht möglich), und sodann ist seine Wirkmacht zugleich Lust. Und deshalb ist Wachen, Wahrnehmen, Vernunfttätigkeit das Angenehmste, und durch diese erst Hoffnungen und Erinnerungen. Die Vernunfttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst erkennt die Vernunft in der Teilnahme am Intellegiblen; denn intellegibel wird sie selbst, den Gegenstand berührend und erfassend, sodaß Vernunft und Intellegibles dasselbe sind. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für das Intellegible und das Wesen. Dies festhaltend wirkt sie [ihre Wirklichkeit]. So ist jenes [Intellegible und sein Wesen] größer als das, was die Vernunft Göttliches zu haben scheint, und die Betrachtung ist das Angenehmste und Beste. Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, der Gott immer verhält, so ist er bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewundernswerter. So verhält es sich in der Tat. Auch ist er gewiß Leben; denn der Vernunft wirkende Tätigkeit ist Leben, jener aber ist die wirkende Tätigkeit, seine wirkende Tätigkeit an sich ist bestes und ewiges Leben. Wir sagen, daß der Gott das beste und ewige Lebewesen sei, daher kommt dem Gott Leben und ununterbrochene und ewige Zeitdauer zu: denn dies ist der Gott. Alle diejenigen aber, ...die annehmen, das Schönste und Beste sei nicht im Prinzip enthalten, ...haben keine richtige Ansicht; denn der Same geht aus anderem, ihm selbst vorausgehenden Vollendeten hervor, und das erste ist nicht der Same, sondern das Vollendete. So würde man etwa vom Menschen sagen, daß er früher sei als der Same, nämlich nicht von dem Menschen, der aus diesem Samen wird, sondern von einem anderen, aus welchem der Same hervorgegangen ist. Daß es also ein ewiges, unbewegtes, von dem Sinnlichen getrennt selbständig existierendes Wesen gibt, ist aus dem Gesagten klar ... Das erste Wesenswas hat aber keinen Stoff, denn es ist wirkende Vollendung ... Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis ist Erkenntnis ihrer Erkenntnis ... So verhält sich die Vernunfterkenntnis ihrer selbst (der göttlichen Vernunft) die ganze Ewigkeit hindurch. Denn das Werk ist Zweck, die Wirklichkeit aber ist das Werk. Daher ist auch der Name Wirklichkeit von Werk abgeleitet und zielt hin auf Vollendung. (Met. 1050 a 21)

Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt ... Wenn es aber ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen; wenn wir also nicht alles um eines andern willen erstreben (denn so ginge es ins Unbegrenzte, und das Streben wäre leer und sinnlos), dann ist es klar, daß jenes das Gute und das Beste ist. (Nik. Eth. 1094 a 1+18)

Da nun das Ziel Gegenstand des Wollens ist und die Dinge, für die man sich als Mittel zum Ziele entscheidet, Gegenstand des Überlegens, so erfolgen die entsprechenden Taten durch Entscheidung und freiwillig. Und darauf beziehen sich die Tätigkeiten der Tugenden. Also ist die Tugend in unserer Macht und ebenso die Schlechtigkeit ... Wenn es also an uns ist, das Schöne und das Schändliche zu tun und ebenso auch wieder nicht zu tun, und wenn eben darin das Gut- und Schlechtsein besteht, so ergibt sich, daß es bei uns steht, anständig oder gemein zu sein. (Nik. Eth. 1113 b 2)

Daß nun einem jeden so viel an Glückseligkeit zufällt, als er Tugend und Einsicht und das Handeln danach besitzt, das stehe für uns fest, und dazu nehmen wir auch die Gottheit zum Zeugen, die selig und glücklich ist, aber nicht durch irgendeines der äußeren Güter, sondern durch sich selbst, und dadurch daß ihre Natur so bestimmt ist; darum ist das Glückhaben auch notwendigerweise von der Glückseligkeit verschieden. Denn die äußeren Güter werden von selbst und durch den Zufall zustande gebracht, aber gerecht und besonnen ist keiner vom Zufall her oder durch ein Werk des Zufalls. (Pol. 1323 b 21)

Die Tugend ist also ein Verhalten der Entscheidung, begründet in der Mitte im Bezug auf uns, einer Mitte, die durch die Vernunft bestimmt wird und danach, wie sie der Verständige bestimmen würde. Die Mitte liegt aber zwischen zwei Schlechtigkeiten, dem Übermaß und dem Mangel. Während die Schlechtigkeiten in den Leidenschaften und Handlungen hinter dem Gesollten zurückbleiben oder über es hinausgehen, besteht die Tugend darin, die Mitte zu finden und zu wählen. Darum ist Tugend hinsichtlich ihres Wesens und der Bestimmung ihres Was-Seins eine Mitte, nach der Vorzüglichkeit und Vollkommenheit aber das Höchste. (Nik. Eth. 1106 b 36)



Worterklärungen:


tó agathón das Gute
aeí epaniénai hósper epanabasmoîs chrómenon –
wörtlich: immer hinaufsteigen gleichsam von Treppenstufen Gebrauch machend
alétheia Wahrheit, Wirklichkeit
areté Tugend, Tüchtigkeit
apheleîn ableiten
daimónion Gottheit, Schutzgeist, Dämon
dianoetisch, dianóemai nachdenken, überlegen
Dihairese, dihaireîn trennen, (ein)teilen, auslegen
eídola Bild, Trugbild
eîdos aisthetón empfindendes Schauen
eîdos epistetón verständiges Schauen
entelécheia auf Vollendung als Ziel angelegt sein
epaktikoí lógoi frei: weiterführende Reden
erastón pánkalon das liebenswerte All-Schöne
eudaimonía Glück, Wohlstand
héxis apodeiktiké beweisende Haltung
Hylemorphismus hylé Stoff morphé Gestalt
horízesthai kathólu vom Ganzen her bestimmen
lógos Rede, Wort, Denken, Vernunft, Rechnung, Grund, Bedeutung
lógos tês usías Denken des Seins/Wesens
malum (lat.) das Böse, Schlimme
méthexis Teilnahme
nûs pathetikós "erleidender" (=rezipierender) Geist
nûs poietikós "schaffender" (=aktiver) Geist
óntos ón: metéchein toû kaloû / tíktein alethê
wirkliches Sein: teilhaben am Schönen, das Wahre erzeugen
paideía Erziehung, Bildung
parusía Gegenwart, Anwesenheit
phántasma Erscheinung, Trugbild
privatio (lat.) Befreiung
stéresis Beraubung
tó tí ên eînai das, was etwas an sich ist