Die Überwindung von Mythos und Metaphysik

Zur "Dialektik der Aufklärung"

Helmut Walther (Nürnberg)

Die disparaten Fragmente der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno wollen einerseits konkret den Weg zeigen, wie es zu den modernen Phänomenen der Instrumentalisierung der Vernunft kam bis hin zu den industrialisierten Verbrechen des Dritten Reichs; wie auch ganz allgemein, wie dieses Phänomen Ratio des Menschen insgesamt einzuordnen sei, das nach ihrer Meinung den Menschen aus der Natur ihn dieser entfremdend herausstelle.

Die Ratio als Produkt der Angst

Dabei bleibt zunächst unklar, in welchem Sinn der beim Bildungsbürger vorbesetzte Begriff Aufklärung von den Autoren gebraucht wird: als der französische etwa mit La Rochefoucauld und Voltaire, oder der Kantische? In Wirklichkeit setzen sie offenbar die Entwicklung der menschlichen Ratio und Aufklärung gleich (Dialektik der Aufklärung, Fischer TB, S. 9: "Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen ... Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.") – und kommen doch nicht an der Klippe vorbei, daß dann trotz aller das Denken denunzierenden Bemühungen die Vernunft, mit der diese Kritik ihrer selbst geleistet wird, an die höchste Stelle gesetzt bleibt, obwohl sie nichts anders als leere Kritik zu liefern vermag – und gerade deshalb, in der Denunzierung ihrer selbst durch sich selbst, dem Mythos Tür und Tor noch mehr öffnet. Mit diesem Ansatz bleiben die Autoren in einem circulus vitiosus hängen, ohne die Aufklärung in die geistige Geschichtung des Menschen einordnen zu können als Reflexion von Vernunft, Verstand und Emotio mittels Vernunft, die bis heute jedenfalls in der Breite noch gar nicht abgeschlossen ist. Daß Vernunft ihren eigenen Rücklauf etwa in den Mythos im Keim bereits in sich enthalte, wird zwar gesehen, nicht aber warum: weil die Autoren selbst auf ihrer Vernunft stehen und die Zwangsläufigkeit von deren Instrumentalisierung nicht sehen, wenn man auf ihrer eigentlichen Leere stehen bleibt. Auch sie wollen die Vernunft und deren Rücklauf mittels Vernunft transzendieren – Heideggern nicht unähnlich. Allerdings hatte letzterer wenigstens ein Bewußtsein des Endes der Metaphysik, wo sich Adorno und Horkheimer in die "kritische Vernunft" zurückwenden – daher denn auch das Nichtvorhandensein eines positiven e.v.-Gehaltes und -Tones: Vernunft vermag eben nichts anderes als negative Kritik zu leisten, und genauso "klingt" die Vorrede. In ihr schwingt der Ton eines verzweifelten "Trotzdem", obwohl es doch gerade diese Verzweiflung an der Vernunft ist, welche die grauenhaften "Mythen" etwa eines Dritten Reiches ermöglichte. Hier war doch niemand am Werke, der einen Mythos extra zu einem von ihm selbst gewollten Zweck ersonnen hat, sondern dieser "Mythos" erfaßte die Menschen mit einer gewissen Notwendigkeit, weil hier ein angeblicher "Sinn" (als Mythos) die Leer-Stelle der Vernunft aufzufüllen versprach! Die Autoren laufen auf diese Weise Gefahr, selbst wieder nur einen neuen Vernunftmythos zu gebären: den Mythos der über ihre Verzweiflung trauernden Vernunft, die in dieser Trauer ihre eigene e.v.-Bewegung zu finden meint. Was Wunder, daß die Menschen irgendwann einen solchen "Mythos" satt haben, die Nacktheit des traurigen Kaisers Vernunft durchschauen und sich angenehmeren Dingen zuwenden – so wird auch gerade dieser Mythos der trauernden Vernunft zur Bedingung des Rückfalls in deren Instrumentalisierung zu anderen Zwecken. Denn es kann auf diese Weise nicht gelingen, den e.v. der Masse lebendig nach vorne einzubinden, und so wird sie sich ent-täuscht von solchem Intellektuellen-Mythos ab- und unterkategoriellen Antrieben zuwenden.

Im übrigen ist der Buchtitel irreführend, denn die Aufklärung ist nicht dialektisch, wie dies die Autoren wohl aus der angenommenen Rückfallbewegung glauben entnehmen zu dürfen. Offenbar verstehen sie die "echte" Aufklärung (etwa die Franzosen, Lessing, Kant) als These, zu der die Rücklaufbewegung der Vernunft in den Mythos in Antithese stehe. Synthese sei dann die Aufnahme dieses Wissens um die Antithese in die Erkenntnis der Vernunft von sich selbst, um "es dann besser zu machen ..." Mithin: wo Heidegger eine erneute Rezeption der Vernunft als Fundamentalontologie fordert, wollen die Autoren "die Aufklärung" wiederholen – ohne uns zu sagen, was diese eigentlich sei und bedeute. Das "Neue" dieser Wiederholung soll dann darin liegen, daß die Vernunft sich selbst gegenüber kritisch und sich ihrer Rücklaufgeneigtheit bewußt bleibt. Das "Positive" wird wohl in der "theoretischen Bildung" gesehen, hinter welchem Wort sich der ethische Idealismus verbirgt, den doch schon der Aufklärer Voltaire karikiert hatte. Ein Kennzeichen für die Haltung der Autoren dürfte auch die ganz bewußt antiquierende und sich Bedeutung gebende Satzstellung sein (etwa in der unüblichen Setzung von "sich"): damit soll ein künstliches Vernunftpathos erzeugt werden, weil echtes Pathos fehlt. Die Vorsicht gegenüber der Vorrede erweist sich im folgenden als richtig, denn die Autoren setzen im Prinzip ihren Begriff "Aufklärung" mit der Auswicklung der menschlichen Vernunft gleich, und behaupten als deren Ursprungsgrund eine "radikal gewordene, mythische Angst." Damit ist aber der eigentliche Ansatzpunkt doppelt verfehlt:

a) Angst als Ursprungsgrund der Aufklärung anzusetzen ist armselig und eine ähnlich einseitige Erklärung wie etwa der Wille zur Macht Nietzsches. Als hätte Natur eine solche Innovation, wie Vernunft sie ist, jemals aus dem Motiv der Angst heraus geschaffen! Angst hat nicht die Natur, sondern die Autoren! Sie sehen nur die sichern sollende Potenz von Verstand und Vernunft (die sie an dieser Stelle nicht zu scheiden wissen, ihnen ist alles "Aufklärung") und motivieren diese Funktion der Vorwegnahme a posteriori mit Angst. Diese Interpretation ist sowohl einseitig, denn die synthetische Vorwegnahme in all ihren Formen dient auf allen Stufen des Seienden der aktiven und passiven Kommunikation, also der Aneignung und dem Schutz; und eine solche Interpretation zäumt das Pferd von hinten auf: diese Angst ist nicht das Motiv der Aufklärung, sondern ihr Produkt. Erst muß der Mensch soweit "aufgeklärt" sein, daß er "etwas" sieht, was ihm Angst machen könnte, und dann kann er sich vielleicht bewußt werden, daß er Angst hat, um Anstrengungen gegen die Angst zu unternehmen.

b) Die Verwendung des Begriffs "Aufklärung" ist erschlichen und irreführend, weil die Autoren darunter etwas völlig anderes verstehen, als wofür dieser Begriff im eigentlichen Sinn steht. Sie meinen nichts geringeres damit geben zu sollen als eine "kleine Geschichte des menschlichen Geistes", der in seiner angstgeborenen Subjekt-Objekt-Spaltung die Natur und sich selbst gefährdet, indem er feststellend das Lebendige aus der Welt vertreibt, sich alles zu seinen angstgeborenen Zwecken unterwirft. Das bedeutet, daß sie die migratio des e.v. und die Lebendigkeit auch noch von Verstand und Vernunft nicht sehen, sondern den e.v. einseitig hinter und unterhalb dieser menschlichen Funktionen gelten lassen wollen. Auch darin ist wieder das alte "Zurück" enthalten, wie es bei Rousseau und Nietzsche anklingt. Und doch wollen sie mit dieser Vernunft die Lebendigkeit in der Welt retten – welch ein Selbstwiderspruch! Die Autoren sind offenbar den leidigen Dualismus noch nicht losgeworden, der auf der einen Seite die angebliche lebendige Einheit des Seienden, auf der anderen Seite die zerlegende Funktionalität der Vernunft als Aufklärung ansetzt – flacher ausgedrückt: Vernunft contra Gefühl.

Der Buchtitel "Dialektik der Aufklärung" klingt zwar gut, führt aber auch noch in anderer Weise in die Irre: "Dialektik" soll an Hegel erinnern, an dessen These und Antithese, deren Synthese offenbar für die Aufklärung die Autoren liefern wollen. Wie in den "Kategorien der Innerlichkeit" schon gezeigt, ist dieser Blick auf die Vernunft jedoch verkehrt; sie arbeitet nicht dialektisch, sondern in den Stufen der Rezeption und Reflexion. Diese Reflexion ist es, welche den angeblichen "Rücklauf" der Vernunft in der Auflösung der Werte veranlaßt. Die Autoren sehen damit zwar etwas Richtiges, aber sie sehen es schief. Daher stammt denn auch bei ihnen die ständige Automatik 17">des Schaffensgeschehens genau wie bei Hegel selbst – in ihrem geistesgeschichtlichen Excurs sind sie ihren Stammvater nicht losgeworden. Diese Hegelsche Verwirrtheit ist es, welche die Autoren in ihrem Rückgriff auf den Mythos selbst wieder einen Mythos gebären läßt, den Mythos der Angst der Vernunft.

Schließlich wird der Aufklärung offenbar im Umschlagen von der Angst und unter Anleihen bei Nietzsche zugeschrieben, daß sie identisch mit dem Machtstreben der Vernunft sei, mit welchem Streben die Aufklärung Herr über Natur, Mitmensch, schließlich Sprache und selbst noch Gott werden wolle. Die Interpretation erinnert stark an die Decadence und das Ressentiment Nietzsches, nur daß jener weniger die Vernunft selbst als deren Metaphysik dabei im Auge hatte, welche das Mittel der Schwachen sei, um über die eigentlich Starken Herr zu werden. Ursprungsgrund ist für Adorno und Horkheimer aber nicht die Schwäche der zersplitterten Instinkte, sondern die Angst der Ratio, die sich im Machtwillen sichern will. Dieses angebliche Herrschaftsprinzip der Vernunft wird nun in einem weitläufigen Excurs überall aufzufinden gesucht und der Aufklärung unterschoben, die zuletzt ihre eigenen Begriffe und sich selbst übermächtigt, weil dies unbedingte Machtstreben aus radikaler Angst vor nichts halt mache, auch vor keiner Verfestigung der Eigen-Macht der Aufklärung selbst, sodaß sie sich am Ende selbst aufhebe und in den Mythos zurücklaufe. Soviele richtige Einsichten hier einfließen (wie auch schon bei Nietzsche), so schief ist dennoch die Optik: dieses angebliche Herrschaftsprinzip der Vernunft erscheint bei deren Erwachen wie ein deus ex machina, fadenscheinig oder vielmehr gar nicht begründet mit "mythischer Angst". Denn wenn dies eine wirkliche Begründung hätte sein sollen, wäre zuallererst diese Angst selbst und ihre Bedingungen im Stadium des Erwachens der Aufklärung zu untersuchen gewesen. Hier behelfen sich die Autoren zwar ein wenig mit der Entwicklung des Religiösen und des heiligen Schauders, aber dies bleibt Stückwerk ohne inneren Leitfaden, der schließlich diese Angst zu motivieren wüßte. Dies konnte aber auch gar nicht gelingen, weil ein Herrschaftsprinzip der Aufklärung und Angst dazu nicht taugen. Beide Prinzipien wären erst noch zu besehen gewesen, wo sie herstammen, bevor man sie voraussetzungslos der Vernunft zuschreibt und diese damit der Natur entgegensetzt. Vielmehr gehören beide Prinzipien als Funktionen dem Leben selbst zu und werden von der Vernunft lediglich sublimiert. Verstand und Vernunft verhalten sich in dieser Funktion in einem nahtlosen Übergang wie Natur selbst! Wenn man von diesem Vernunftprinzip der Aufklärung alles Schlechte in der sonst guten Natur erwartet (Rousseau), so müßte man in Wirklichkeit das Leben selbst und dessen Arbeitsweise (Evolution) verwerfen, anstatt die Vernunft zu verteufeln. Eine solche Auffassung enthält eine "negative Anthropozentrik". Die angebliche Voraussetzungslosigkeit der genannten Prinzipien ist es, die die Autoren zwingt, selbst einen neuen Mythos der Vernunft zu gebären: weil sie Mensch und Natur nicht in rechter Weise zu verbinden wissen. Damit erweist sich ein weiteres Mal diese Nahtstelle als ausschlaggebender Punkt, wie auch schon bei Nietzsche und Heidegger. Werden Mensch und Natur nicht als ein regelgerechtes Ineinander und Zueinander gesehen im Übergang vom Tier zum Menschen, sondern werden an dieser Stelle in den Menschen ihn der Natur entgegensetzende "Prinzipien" hineinfabuliert, so folgt daraus notwendig eine fehlerhafte Auffassung des Menschen wie der Natur. "Schuld" daran aber ist nicht die Aufklärung, Verstand und Vernunft in ihrer Auswicklung im Wege der Rezeption und Reflexion, sondern vielmehr die jeweilige Stellung des e.v. bei solchen Systementwerfern, durch welche Stellung sie a priori zu einer ganz bestimmten Sicht in der Doppelreflexion gezwungen sind, welche Sicht sie als allererstes Prinzip ihrem System zugrundelegen.

Der Mythos des Odysseus sollte nicht nur für Adorno und Horkheimer, sondern auch für die hiesige Auffassung ein facettenreiches Beispiel für die "Befreiung" des Menschen aus dem Mythos abgeben. Einmal im Blick auf das 20">Individuum selbst als die Beständigung des vernunftrezipierenden Ich gegenüber seinen Trieben, womit das Emotionale freigesetzt wird, die Gefühle als selbständige – und nicht nur als Begleiter der Triebe (s. etwa die neue griechische Musik). Zum andern könnte die Odyssee aus der Perspektive des Homer stehen für das organisierende Schaffen der Beständigung des Ich in die Breite in der Tradierung eines Mythos der Vernunft. Ein Mythos, in dem die gesamte griechische Nation ihre Geistesart gespiegelt und in der Tradition gespeichert findet: daher die ungeheuere Bedeutung des homerischen Mythos über 2500 Jahre bis hinein in die deutsche Klassik. Denn es ist die Geisteshaltung der Vernunft, welche aus diesem Mythos auf die jeweils lebende Generation zurückwirkt und daraus von ihr entnommen werden kann. Homer ist ein Gefäß, in dem ein Teil der Genese des Menschen zuerst organisiert und tradiert wurde. Ein Mythos, der das Bewußtsein hat, daß er ein Mythos ist. Vernunft hat vor ihrer Reflexion noch gar kein anderes Gefäß als den vom Himmel auf die Erde geholten Mythos, in dem sie ihre rezipierten Ergebnisse als ihr eigenes Wesen bildhaft sich selbst erlebend einträgt. Waren es früher Götter und Halbgötter, die im Mythos dem Menschen des Verstandes die Einheit der und die Eingebundenheit in die Welt verbürgten, so ist es nun der Mensch selbst, mit dem sich der Mythos verbindet. So gesehen schließt sich auch hier wieder ein Kreis, von Homer zu Wagner: letzterer gibt in seinem "Ring" den Mythos der Vernunft selbst, die all ihr Hervorbringen als uneigentliche und leidbedingende Verselbständigungen erkennt, und über sich hinaus will. Die Beständigung des homerischen Willens zum Ich ist nunmehr zur Gegenständigung des Willens der Vernunft geworden. Dieser Gegen-Stand, Gegnerstand führt zu einer verkrusteten Weise des Ich als Vernunft, und nicht mehr als e.v. und Liebe, wo sie am Beginn des Vernunftmythos das Ich des Verstandes zum Ich der Vernunft erhöhte. Hier am Beginn war alles noch Neuland, alles Bewegung, ein berechtigtes Herrwerden der Vernunft über die vorliegenden Schichten des Ich – und damit neue Schichten ausbildend. Doch alles Ausgebildete verselbständigte sich und wendete sich so gegen den lebendigen e.v. und die Liebe: Götterdämmerung der Vernunft. Wotan trägt nur die Maske eines Gottes; in Wirklichkeit ist er das Sinnbild des durchreflektierten Menschen, der seines eigenen Selbstbetruges überdrüssig wird.

Der homerische Mythos der Rezeption der Vernunft, in dem der Mensch seine Herkunft aus dem Verstand mythisch spiegelt, wird abgelöst von der Religion der Reflexion, dem sich a posteriori wiederum als Mythos darstellenden Christentum. Ebenso, wie das Christentum ohne das "Individuum" Jesus nicht denkbar ist, geradeso der Mythos des Odysseus: nur die zwingend formende Individualität eines Einzelnen, geboren aus einer im eigentlichen unbewußten Gesamtschau, die dem apriorischen Sein dieses Individuums entspricht, vermag dies viel Vereinzelte und über Generationen Zusammengetragene und Tradierte zusammen- und umzuschmelzen. Worin der Mensch sein "Spirituelles", seine Essenz für die Existenz, aufbewahrt, das wird a posteriori immer ein Mythos sein; der Unterschied zwischen den verschiedenen Formen des Mythos liegt darin, ob es sich dabei um einen Mythos der Rezeptions- oder der Reflexionsstufe handelt; denn nur die e.v.-migratio in der neuronalen Funktionsübertragung bringt in der Mitte einer Kategorie Religion hervor. Die Gleichsetzung von Epos (Homer) und Roman (der Romantik) durch die Autoren der "Dialektik der Aufklärung" scheint so gesehen oberflächlich: Inhalt und Funktion sind völlig verschieden. Das Epos rezipiert tastend und quasi danebenstehend, wo der Roman emotional und willensbewegt reflektiert. Das Epos weiß nicht eigentlich, was in ihm geschieht, wo jeder Roman aus seiner aposteriorischen Reflexion lebt. Das Epos ergreift die Welt, sucht die Geschehnisse und die darin sich zeigenden Verhaltensmöglichkeiten des Menschen damit in Übereinstimmung zu bringen; der Roman konstatiert die Tragik der Nichtübereinstimmung. Die jeweils zu verschiedenen Zeitpunkten einsetzenden Mythen und Sagen der 22">einzelnen Völker sind Nachläufer dieses einen Mythos, der mit Homer gesetzt war, aber mit der Genese jedes einzelnen Volkes für dieses neu gesetzt werden mußte – weil erst darin dessen Identifikation und Tradition gesichert war, ausgesetzt allerdings dem "Vor-Weben" des Vorbildes Homer wie dem einsetzenden und überholenden Christentum. So gesehen spricht es für die germanische Überlieferung und deren Eigenheit und Eigenständigkeit, wenn sich bis hin zu Wagner ein eigener Mythos erhalten konnte.

Entsagung der Natur

Durch die gesamte Philosophie der zweiten Kategorie als Metaphysik zieht sich seit Descartes (res cogitans und res extensa, die sich unvermittelt gegenüberstehen) der unheilvolle Dualismus zwischen Geist und Natur, sei es "positiv", daß der Geist als das höhere, sei es "negativ" als das niedrigere, als Gegner oder als nichts Eigenständiges gesehen wird – all dies hat die Dualität am Grunde. Diese aber ist psychologisch daraus verständlich, daß sich Vernunft in ihrer Rezeption und Reflexion in ihrer Neuheit und e.v.-Verbindung als etwas Eigenes und Selbständiges erlebt und sich so dem Vor-Gegebenen als entgegengesetzt erfährt. "Duale Systeme" der Neuzeit sind sowohl alle materialistischen, empiristischen, idealistischen, voluntaristischen, psychologischen und existentialistischen Systeme, denn sie alle bringen es nicht zu einem gegründeten Ineinander von Natur und Geist, sondern haben an ihrer Wurzel die Entgegensetzung beider, die sie entweder auf Kosten des einen oder anderen lösen beziehungsweise beide gewaltsam "vereinen". Neuere Beispiele sind etwa Bergsons Philosophie des Élan vital (Vernunft als "entartetes Kind" der Natur – von dem dieser Begriff "e.v." in einem eigenen Sinn übernommen wurde), Heidegger (Geist als "Sondermedium", indem sich das "Sein" angeblich "lichtet", völlig unverbunden mit der Natur unter Vermischung von Verstand und Vernunft) und Adorno/Horkheimer ("Dialektik der Aufklärung": Geist als Entsagung der Natur, als sich gegenüberstellendes Abringen).

Jedes derartige Ent-Sagen des "Geistes" setzt als Los-Sagen das Sagen immer schon voraus. Dieses Entsagen ist jedoch kein Verzicht, wie uns die "Dialektik der Aufklärung" weismachen will, sondern eine Befreiung: eine Befreiung von der Dumpfheit des Empfindens und des Triebes – nicht im Verzicht auf diese Vermögen, sondern in deren Beherrschung als Selbst-Beherrschung. Der "Verzicht" auf diese angebliche und dumpfe "Einheit (mit) der Natur" ist kein Weniger, sondern ein Mehr. Das Sagen des Menschen ist kein Entsagen, sondern ein Freisagen. Dieses Freisagen richtet sich nicht gegen die Einheit der Natur, sondern geschieht innerhalb und als Natur. Und was für die Eroberung des Verstandes als Menschsein gilt, bleibt natürlich ebenso gültig für die Rezeption der Vernunft in der Überwindung des Mythos durch Odysseus. Gilt doch auch völlig das Gleiche nicht nur für Verstand und Vernunft, sondern auch schon für das Empfinden der Tiere. Emp-Findung ist kein Ent-Finden (selbst aber ein Ent-Finden wäre durchaus noch positiv zu sehen als ein Heraus-Finden), sondern im Er-Finden ein Frei-Finden. Freifinden von der vorliegenden Natur, wie sie sich bis zum Instinkt hin schichtet. In der Optik der "Dialektik der Aufklärung" hätten bereits sämtliche Tiere sich der Einheit der Natur entfremdet, weil sie sich nach empfindender Eigenbeurteilung des tierischen Einzelwesens verhielten (Emotio-Potentiometer). So hat denn diese Dualität zwischen Geist und Natur auch ein ganz anderes Vor-Urteil am Grunde: das Unbehagen der Vernunft an sich selbst, weil sie sieht, daß ihre uneingeschränkte Anwendung zur De-Naturierung, Widernatur und Weltzerstörung führt – insgesamt "Herrschaft" benannt. Aber auch schon Empfinden allein bildet Herrschaft aus, allerdings ohne Bewußtsein davon. Dennoch scheint es merkwürdig, daß wir die Innovation "Empfindung" ausschließlich als steigerndes Wunder des Lebens ansehen, obwohl der Bestand der Natur dadurch ebenso umgewälzt wurde, wie durch die Innovation "Geist"! Das liegt sicherlich daran, daß gerade durch uns mit der Innovation "Geist" das Empfinden der Tiere festgestellt wurde und uns nun als festgestellte Ordnung erscheint. Dieses Entsagungsgerede der Vernunft ist relativ banal und altbekannt, wird in der "Dialektik der Aufklärung" nur unter eine neue Optik gebracht: Vernunft als entsagender Herrschaftswille, die in diesem Willen ihren Träger verklärt. Dies wird als notwendige Gesetzlichkeit des menschlichen Geistes gesetzt. Was ist das anderes, als die seit Schopenhauer bekannte Resignation der Vernunft an sich selbst, die sich, ausgehend von den Zeitumständen Adornos und Horkheimers (Zweiter Weltkrieg) als Möglichkeit des totalen Herrschaftswillens begreift, statt zu sehen, daß dies nur eine Variante ihrer eigenen Möglichkeiten ist. Und statt weiter zu sehen, daß das Eigentliche etwas ganz anderes sei: sich als Vernunft als Vermögen unter anderen zu begreifen, das von demselben e.v. getrieben wird wie alles Seiende, sublimiert auf ihre eigene Ebene und sich mit diesem verwechselnd. Erst diese Verwechslung gibt der Vernunft ihre Totalität und ermöglicht ihren Mißbrauch.

Der falsche Ansatz ist: Vernunft wird unter dem Stichwort "Aufklärung als Herrschaftswille" bereits unter einen Wert gebracht ganz ähnlich dem Willen zur Macht Nietzsches oder Schopenhauers blind drängendem Willen. Dieser vorgebliche und unhinterfragte Wert ist die angebliche "Einheit der Natur", gedacht als Harmonie alles Seienden, welche die Vernunft in der Entsagung dieser Einheit zerstöre. Diese Zerstörungsoptik basiert, wie schon Nietzsche richtig gesehen hat, auf der Nichtfestgestelltheit und Offenheit des Geistes, und so sehnt sich die Vernunft beunruhigt über die eigene Wirkungsmacht am Ende selbst nach ihrer eigenen Festgestelltheit – als Vernunft! Ganz abgesehen davon, daß auch dies immer noch Wille der Vernunft ist, so führt hier Resignation anstelle der Aufnahme der Innerlichkeit des e.v. das Wort. Lieber das Nichts wollen als nichts wollen, lieber rückwärtsgewandte Feststellung einer vorgeblichen Harmonie als ein neues Darüberhinaus.

Eine neutrale und nichtwertende Stellung gegenüber unserer eigenen Vernunft zeigt uns, daß diese, wie alle anderen Vermögen des Lebens auch, eine wertfreie Funktion ist – es kommt immer darauf an, was die Lebewesen in der Kommunikation mit diesen Vermögen anfangen. Wertneutral ist der Grund der Entstehung jedes Vermögens und damit anwendungsbegründend das Entgrenzen des Grenzens alles Seienden, das Wesen der Freiheit. Herrschaft selbst ist wiederum ein zunächst wertfreier Begriff, insofern er nichts anderes beinhaltet als einen Spezialfall der Kommunikation. Beherrschen als Bezugsfunktion nach außen wie als Beherrschen der Bezugsmethode ist je schon die eine Seite der Kommunikation: die aktive Bezogenheit alles Seienden auf Umseiendes. Ohne diese aktive Bezogenheit würde und könnte Seiendes überhaupt nicht existieren, es wäre gar nicht ins Dasein gerufen worden. Was steckt dann aber in Wirklichkeit hinter der Denunziation der Vernunft als Herrschaftswille? Man will ganz offenbar mit dieser Vernunft den herrschaftsfreien "Raum", obwohl es gerade diese Vernunft ist, welche notwendig jene herrschaftliche Repression hervorbringt: "Wasche mir den Pelz, aber mache mich nicht naß!" Will man das "Herrschen" abschaffen, wie Vernunft es ihrer Natur gemäß als Funktion und Methode ausübt, so muß man schon die Vernunft abschaffen. Hier herrscht (!) der nämliche Widerspruch wie bei Schopenhauer, wo der 39">Schwanz mit dem Hund wackeln will, wenn die höchste Vernunft darin bestehen soll, dem alles durchherrschenden Willen zu entsagen, dessen bloßes Anhängsel die Vernunft doch nur sei.

Man kann das Gesamt des Menschlichen dem Gesamt des Natürlich-Vormenschlichen vergleichen; so, wie alle Arten des Seienden untereinander kommunizierend verwoben sind, ist noch das mächstigste Wesen im Tierreich abhängig von seiner natürlichen Bezogenheit und deren Basis trotz und gerade wegen seiner "Herrschaft". Ebenso beim Menschen: auch die vorgeschrittensten Industrienationen und deren Führer sind gerade in ihrer Beherrschung des menschlichen Existierens abhängig und zurückgebunden auch noch an die "untersten" Schichten des Menschen; nur zusammen in ihrer gegenseitigen Bezogenheit vermögen sie sich zu erhalten. Herrschen ist zwar stets auch Benutzen des Beherrschten, vor allem aber Angewiesensein auf das Beherrschte. Dies gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis ist in gröberer Form in der Organisation des Tierreiches bereits vorgebildet, und der Mensch verhält sich damit durchaus im natürlichen Rahmen. Dies selbstverständlich allein schon aus dem völlig natürlichen Grund, als die "Herrschaft" nicht auf einem dunklen Geschick, auf einer "entsagenden Abkehr" beruht, sondern sich streng aus der genetischen Bevorzugung beziehungsweise Benachteiligung ergibt, mit welcher Mutter Natur auch bereits in Fauna und Flora die "Hackordnung" vor Individualität regelt. Einen "repressionsfreien Raum" kann es auf der ganzen Welt nicht geben, weil es sonst diese Welt nicht gäbe. "Repressionsfrei" ist allein "Gott" in seiner Alleinheit, All-Einheit, Singularität: das Nichts ...

Das Problem der Herrschaft als Vernunft liegt weniger im Tatbestand des Beherrschens als vielmehr darin, daß die Vernunft auf dem Wege der qualitativen Veränderung im Sinne eines Höher der Existenz aller Menschen ihre Innovationskraft verloren hat, nichtsdestoweniger aber nach wie vor ihre quantitative Aktivität freisetzt, die, weil nicht mehr von qualitativer Erhöhung getrieben und geführt, in der rein funktionalen Anwendung zu quantitativen oder niedrigeren Zwecken und damit zur einseitigen Steigerung der Macht der Macher beiträgt, derjenigen, die die Machenschaften der Technik mittels Vernunft am besten beherrschen und eben damit herrschen. In diesem Stadium gelangen die "Funktionalisten" nach oben, nicht diejenigen, welche das Leben über die Vernunft hinaus zu steigern vermöchten; es tritt jene Verknöcherung ein, wie sie bei allen Verselbständigungen wirksam wird. Mit eben dieser "Verhärtung" wurden im Tierreich einst die Arten festgestellt, wohingegen sich im menschlichen Bereich aus diesen Feststellungen die ontogenetischen Typen im Rahmen der phylogenetischen Möglichkeiten ausbilden. Die Menschheit hat mit der Vernunft nicht einer mythischen Einheit entsagt – das ist nur eine metaphysische Seifenblase der Vernunft aus Resignation mittels ihrer selbst über sich selbst; vielmehr hat sie den zentralen Wert der Vernunft, die Einheit von deren Welterkenntnis mittels Reflexion ausgehöhlt und verloren. Das Bewußtsein des Endes der eigenen lebendigen Innovationstätigkeit dieser Vernunft läßt diese in ihrer Selbstverwechslung mit e.v. darauf schließen, daß die Menschheit überhaupt des Lebendigen verlustig gegangen sei, sie sieht sich mangels qualitativer Perspektiven quantitativ auf sich selbst und auf das vor ihr liegende Natürliche zurückgeworfen. Dabei verkommen die ehemals lebendigen und Erkenntnisgewinn abwerfenden metaphysischen Systeme der Rezeption und Reflexion der Vernunft zu Dogmen, zur nur noch absichernden Tradition, wie dies ebenso einst dem Mythos erging. Die Tatsache, daß noch alle Philosophie einschließlich derjenigen des 20. Jh. bodenlose Metaphysik am Grunde hat, scheint darauf hinzuweisen, daß der Mensch der Vernunft in ebensolcher Weise an dieser seiner Metaphysik hängt wie der Mensch des Verstandes am Mythos.

Wenn wir die Metaphysik auflösen, sie bestehen lassen und doch an ihr vorbeifahren, wie Odysseus "listig" neben dem Mythos des Verstandes mittels der Vernunft die "Heimat" fand, indem er mit der Abstraktion die erratischeDirektbedeutung der Vorstellungen und Namen auflöste, können nicht auch wir ebenso an den Denkgewohnheiten der Vernunft vorbei und darüberhinaus gelangen, indem wir diese zwar nicht verwerfen, sie vielmehr als Basis mitnehmen, unser inneres Auge aber daran zu gewöhnen suchen, jenes Andere und Mehrdeutige am Seienden wahrzunehmen, das uns eben durch die erstarrten Denkgewohnheiten der Vernunft verstellt ist? In der Auswicklung der Vernunft als Metaphysik hat sich der Mensch die Welt in neuer Weise erschließend mit Begriffen öffnend umstellt, mit dem Ergebnis, daß ihn diese Begriffe nun selbst begrenzend umstellen – und so ist es wiederum am Lebendigen im Menschen, sich selbst umzustellen, die Selbstfeststellung der Vernunft ebenso aufzuheben wie einst Odysseus auf dem Weg zwischen Scylla und Charibdis, zwischen Verstand und Mythos hindurch.

Dieser Widerstreit zwischen der Resignation der Vernunft als Sehnsucht nach "Harmonie" mit allem Seienden und dem Darüberhinausdrängen des e.v. ins Unbekannte der Transzendenz läßt sich vielleicht auch schon in der ersten Kategorie zeigen; denn die Vollausreflektierung des Verstandes mußte in analoger Weise die Resignation desselben wie den Willen zum Darüberhinaus mit sich bringen – Ägypten und Echnaton. Natürlich muß hier die apriorische Sehweise Echnatons von unserer aposteriorischen Einordnung in die Geistesgeschichte geschieden werden; aber soviel läßt sich wohl sagen: in diesem vorauseilenden Versprechen, in dem in rational und innerlich stimmiger Weise im Sonnengott der Monotheismus das Herkommen transzendiert, mit dem der Mensch in Liebe kommuniziert und Ansätze einer völlig neuen Seinsweise ausprägt, und damit zu einer ganz anderen, "unpraktischen" und unkriegerischen Lebenseinstellung gelangt, blitzen zum ersten Mal in der Weltgeschichte, wenn auch zur "Unzeit", neue Möglichkeiten des Menschen auf; und es sind die Funktionalisten und Resignierten wie heute auch, die jenem Versprechen im Festhalten des Verstandes an sich selbst in dessen Selbstverwechslung mit e.v. in einem gewaltsamen Zurück das Ende setzten, und setzen konnten, weil ganz offenbar die Zeit noch nicht reif war. Jene sahen dort nichts, wo es erst den Griechen bestimmt war, das Licht der Vernunft zu entzünden, und so suchten sie Harmonie und Einheit hinter sich selbst – stehenbleibend im Mythischen wie heute im Metaphysischen, die Machenschaften des Verstandes ebenso unfruchtbar freisetzend wie wir Heutigen diejenigen der Vernunft. Da ebenso wie heute hierin keine erhöhende Führung mehr vorhanden war, trat an deren Stelle die Funktionalität an sich und damit der vernichtende Wettbewerb zwischen und in den Völkern. Es ist dann nicht mehr die innere lebendige (e.v.-) Kraft eines Volkes, das sein Wesen und seine Stellung innerhalb der Völker bestimmt, sondern die bestmögliche Anwendung der Machenschaften des jeweiligen "Vermögens" (Verstand beziehungsweise Vernunft) – die "Technik" wird zum maßgeblichen Faktor, nicht die innere Kraft. Eine solche Verfaßtheit wird notwendig die entsprechenden Individuen nach oben bringen, rational-funktionale Egoisten werden als "Macher" zur herrschenden Schicht aufsteigen, die Führungsrolle zwischen den Völkern wird einstweilen nach der "technischen Effizienz" vergeben. Daß diese "technische Effizienz" in ihrer blanken Funktionalität trotz all ihrer Effizienz der inneren Kraft, die aus jenem Darüberhinaus stammt, das einst Echnaton versprach, nicht standzuhalten vermag, zeigten die Griechen gegenüber den Nachfolgern der Ägypter in Sachen festgestellter Effizienz, den Persern, auf: im weltgeschichtlichen Widerstreit der Kategorien besiegte das kleine Häuflein der Vernunft die Weltmacht des Verstandes! Es ist arm- und mühselig (und mehr verdeckend als erhellend), wenn heute die Siege der Griechen auf Waffentechnik und Strategie zurückgeführt werden (direkt angemessen aber der Festgestelltheit der heutigen Vernunft), anstatt die Überlegenheit in der inneren Kraft und dem unbedingten Willen zu sehen, der als Rezeption der Vernunft freigesetzt war, und in der innneren Eroberung von Neuland ebenso das äußere sich untertan machte.

Mithin ist es nicht die "Aufklärung" an sich als Entwicklung des Geistes des Menschen, welche "zwangsläufig" zu einer gegenseitigen "Knecht-" und "Herrschaft" zwischen Mensch und Mensch beziehungsweise Mensch und Natur führt, wie dies die "Dialektik der Aufklärung" behauptet, sondern ganz im Gegenteil ist es das dogmatische und/oder resignierte Beenden dieser Aufklärung als die "Verweigerung des weiteren Entbergens der Wahrheit des Seins", welche die Machenschaften als solche freisetzt. Es ist die funktionale Sattheit und Arroganz der Reflexion des Verstandes und der damit verbundene Mangel an innerer Kraft und Konzentration, weshalb der griechische David den persischen Goliath stürzt – woher wird einst unser David erwachsen?

Die Feststellung des Mythos durch Homer zeigt dessen Ende an, an und in ihm ist nichts mehr Lebendiges zu schaffen – und dies Ende fällt zeitlich genau zusammen mit der Rezeption der Vernunft. Der homerische Mythos stellt in Griechenland das Ende der Reflexion des Verstandes dar; dazu ließe sich heute als Parallele aufsuchen am Ende der Reflexion der Vernunft der Wagner’sche Mythos im Ring und Parsifal, in welchem das metaphysische Denken im mythischen Gewand einherkommt. So, wie im Homer die erwachende Vernunft die mythischen Wege des Verstandes reflektiert (s. etwa die Lotophagen, die Verwandlungsgeschichten, Polyphem, die Sirenen), ebenso die rückblickende Vernunft am Ende ihres Weges im "Ring". In der Odyssee kann dies natürlich noch nicht entwicklungsgeschichtlich gesehen werden, das Zeit- und Weltgefühl des Verstandes ist noch zweidimensional und statisch, und so findet dieser Mythos seinen Höhepunkt in der Heimkehr des "listigen" Odysseus, der auf diesem Heimweg zu sich selbst mit den aufsteigenden mythischen Vorstellungen des Verstandes konfrontiert wird, um sich schließlich als selbstgerechte Vernunft in Wotan zu verwandeln, der, indem er ein Auge für einen Trank aus dem Quell der Weisheit opfert, das für den äußeren Schein der Wirklichkeit erblindet und nun Einblick in das innere Wesen der Welt gibt, in der Weltesche das Wesen der Welt als Organismus erkennt, und in seinen Speer aus einem Ast dieser Weltesche die neuen, vernunftgeprägten Vertragsrunen einritzt.

Andrerseits steht der Wagner’sche Mythos zwar am Ende der zweiten Kategorie, aber doch ganz anders als die Odyssee am Ende der ersten Kategorie – und deshalb bekämpft Nietzsche Wagnern zu Recht: anders als der listige Odysseus führt Wagner nicht "neben" dem Mythos über diesen hinaus, sondern die List Wagners will verführen, mit den Mitteln der eben beendeten Kategorie und noch älteren. Auf das Fühlen als e.v. wirkt er, wo die Transzendenz anzugehen war. Verbrauchte Ethik (Parsifal) preist er an, wo der "durch Mitleid Wissende" doppelt zum Toren wird: ob die Ent-Sagung mit Schopenhauer, christlich oder im Sinne der "Dialektik der Aufklärung" gedacht und als "positives Ziel" gesetzt wird – ein solcher e.v. ergreift nicht neu die Transzendenz in ermächtigender Kommunikation mit dem Sein, sondern bleibt resignativ in der Vernunft gefangen, gefangen samt einem verzweifelten e.v. innerhalb dieser Vernunft, der diese Verzweiflung nicht als Abstoß zu neuen Ufern nimmt, sondern sich mit der Vernunft nihilistisch in die Verzweiflung verbohrt.

"Auf eine Sekunde den Übermenschen erreichen" – dieser Satz gilt in übertragenem Sinne ebenso schon für die Vergottung der Pharaonen am Umschlagpunkt der ersten Kategorie wie für die Vergottung Christi an demjenigen der zweiten. In diesen Umschlagpunkten erlebt sich der Mensch zu Recht über sich selbst hinaus, weil das Umschlagen eine neue Ermächtigung und damit "Macht" mit sich bringt, die entsprechend der Kategorie gedeutet wird. Wir Heutigen stehen allerdings funktional am Kategorieumbruch und damit an der entgegengesetzten Stelle wie die e.v.-migratio im Kategoriemittelpunkt; aus diesem Grund ist die zitierte Selbstvergottung Nietzsches an diesem Punkt ein Mißgriff. Im übrigen hat sowohl die erst- wie auch die zweitkategorielle "Vergottung" in der e.v.-migratio nichts mit dem Individuum zu tun, sondern überindividuelle Bedeutung für die Stellung des Menschen zur Transzendenz und daraus rückwirkend in der Welt.

Die eigentlichen und ehemals lebendigen Mythen der Vernunft sind die Hochreligionen am Schnittpunkt der e.v.-migratio. Diese Tatsache legt es nahe, daß der homerische Mythos nicht identisch ist mit den einst lebendigen Mythen des Verstandes, sondern dasjenige ausmacht, was der reflektierende Verstand am Ende seiner Auswicklung als ehemaligen Bestand festgestellt hat. Denjenigen Mythos, wie er einst lebendig aus der e.v.-migratio in den Verstand hervorgegangen ist, kennen wir wohl gar nicht – und ob wir ihn erkennen könnten? Würden wir ihn doch als noch gröberen Irrglauben bezeichnen müssen, als wir jetzt die Bilder unserer zweitkategoriellen Hochreligionen als solchen zu sehen gezwungen sind.

Die Mythen des Verstandes bilden sich auf ein viel engeres Feld begrenzt aus als die der Vernunft: als Religion eines Volksstammes, der sich kulturell bereits über den eigentlichen räumlich begrenzten Stamm hinaus erhebt, weil er die Gleichartigkeit der Stämme in der Gleichartigkeit der Mythen identifiziert. Ebendiesselbe Wirkung hatten wiederum die Religionsmythen der Vernunft, jedenfalls als Christentum und Islam (im Gegensatz zum weltabgewandten Buddhismus): auch hier bildete der Mythos die Zusammengehörigkeit der "Kulturkreise" bis heute gültig aus als "Orient" und "Occident", "Abendland" und "Morgenland". Für das abendländische Denken sind es auch bei dieser Bewegung wiederum die Griechen, die hier eine Art Rezeption durchführen, indem die verschiedenen Volksstämme sich in einem Mythos, dem homerischen, als zusammengehörig erkennen und so ein stämmeübergreifendes Zusammengehörigkeitsbewußtsein ausbilden (s. etwa die Olympischen Spiele). Dabei fungiert der homerische Mythos als End- und Ausgangspunkt, indem er die gemeinsamen mythischen Vorstellungen des Verstandes feststellt und damit zur Basis einer neuen kulturellen Gemeinsamkeit macht. Im Gegensatz dazu stehen die erstkategoriell verbleibenden Völker, denen eine umschmelzende Erhöhung nicht gelingt, und die deshalb über das Nebeneinander und Gegeneinander nicht hinausgelangen. Diese Verschiedenartigkeit zwischen "Alter Welt" der ersten Kategorie und den Griechen als dem einen "Ursprungsvolk" der zweiten Kategorie zeigt im übrigen den Verschmelzungsversuch Alexanders, als er Griechen und Perser, symbolisiert in seiner Heirat, vereinend ineinander aufgehen lassen will, als einen Fehlgriff, allein aus machtpolitischen Motiven initiiert – aber Alexander ist von Haus aus Mazedone ... und so will er gewaltsam die im hellenistischen Bereich gelungene kulturelle Vereinigung auf die erstkategorielle Verfaßtheit der Unterworfenen und den politischen Bereich übertragen. Deshalb wirkt auch heute noch dieser Versuch so "eigenartig", um nicht zu sagen "unmöglich".

Was ist der eigentliche Grund der "Listigkeit" des Odysseus? Er sieht sich auf sich allein gestellt; nicht er hat seine Götter, seine Götter haben ihn verlassen! Er muß einen Ausweg suchen, wo die mythische Orthodoxie keinen Weg mehr zeigen kann. Denn er steht am Ende der ersten Kategorie (wie wir am Ende der zweiten), wo die Götter keine Antwort mehr geben! Deshalb schaut er zurück bis zu den Lotophagen, die in tierisches Vergessen sinken (wie manche Heutige sich mit Rauschmitteln zudröhnen). Er muß "an den Mythen vorbei", sich "neben" ihnen, als auf sich gestellt, vorbeiarbeiten, wie wir auch. Odysseus hat darin so wenig eine Wahl, wie wir auch: niemand zieht sich Kleider an, die ihm zu klein sind, um sich besser bewegen zu können ... Auch wir Heutigen sind ja doch "listig"; "vernünftig über die Vernunft hinaus", mit der Vernunft, und sie doch fahrenlassend, ebenso wie sich Odysseus verständig verhielt über den Verstand hinaus. Versuchen wir nicht, wie es jedenfalls die Religionen sagen würden, uns mit "Vernünfteln" an "Gott" "vorbeizudrücken"?! Und damit "Gott" ebenso aus der Welt zu drücken wie einst Odysseus die Götter? Was jener Heimatlose als Platon/Jesus später fand, das war "Gott", der Gott der Vernunft – was werden die Menschen nach uns finden? Scylla und Charibdis, das ist jener Flaschenhals von Meerenge, der als Orthodoxie nur dasjenige Heimatlose durchziehen läßt, das sich in seinem konzentrierten Sehnen als stärker erweist; nicht, indem es wie Alexander im Übermut den Gordischen Knoten durchschlägt, sondern weil es bereits anders ist.


Sie sind der  Counter. Besucher seit dem 09.02.2001.
Dank für diesen Counter an   http://www.digits.net/