Brief an D.

Gegen Glaubensseligkeit und Wissenschaftsfeindlichkeit


Lieber D.,

vielen Dank für Deine ausführliche Kritik an der Evolutionstheorie, die ich mit viel Sympathie gelesen habe – sind es doch zum großen Teil Argumente, die ich in gleicher Weise wie Du allzu wissenschaftsgläubigen "Szientisten" entgegenhalte. Auch ich sehe auf vielen Wissenschaftsfeldern ungelöste Fragen, etwa im Hinblick auf den "Urknall", auf die "Schwerkraft", auf die Entstehung von Leben. Insoweit würde ich Dich bitten, Dir einmal meinen kleinen Artikel "Irrtum des Sokrates" anzuschauen, mit dem die Dogmatik und Metaphysik innerhalb der Naturwissenschaften aufgegriffen wird.

Kompliment für Deine Zusammenstellung der verschiedenen kritischen Stimmen zur Evolutionstheorie – wie gesagt, teile ich diese Fragen (und gehe genau aus diesem Grunde nicht im einzelnen auf sie ein); aber eine objektive Haltung zu dieser Theorie müßte natürlich vor allem auch eine Gegenüberstellung enthalten, was alles für diese Theorie spricht. Nur die Argumente dagegen zu sammeln, um ablehnen zu können und dagegen einen leibhaftigen "Gott" einzutauschen – soweit geht nicht einmal der Papst! (s. meine Kritik zu Fides et Ratio auf der Homepage) Es ist tatsächlich eine "gefährliche" und jedenfalls einseitige Haltung (auch ich habe das lernen müssen ...) sich nur auf die fragwürdigen Seiten einer Theorie zu stürzen.

Persönlich lehne ich jede Dogmatik ab – und in diesem Wort steckt auch schon der Grund warum: Dogma sagt soviel wie "Meinung", und vor allem auch "Glauben"; das aber heißt eben gerade nicht Wissen, sondern eine Befestigung eines Standpunktes ohne sicheren Grund. Am allerwenigsten ein sicherer Grund scheint mir dabei der physiko-teleologische Gottesbeweis zu sein, den Du wie schon seit den alten Griechen vorträgst: der Schluß von der Uhr auf den Uhrmachermeister, von der Wohlgeordnetheit und Zweckmäßigkeit der Schöpfung auf den Schöpfer. Denn dabei wird übersehen, daß auf diese Weise der Mensch nur seine eigene Art zu handeln und zu denken in die "Gottheit" hineinverlegt – wie menschlich von Gott gedacht! Wenn ich Gott wäre, würde ich mir eine solche Denkweise meiner Geschöpfe von mir sehr verbitten.

Wie schon das Wort sagt, handelt es sich bei der Evolutionstheorie um eine Theorie – spätestens seit Popper aber wissen wir um das Wesen der Theorie und den Umgang mit einer solchen: daß sie stets hypothetisch bleibt, daß man alles versuchen sollte, sie sowohl zu bestätigen wie zu falsifizieren (Du "spezialisierst" Dich leider nur auf das letztere), und daß jede Theorie durch das Auftauchen ihres "schwarzen Schwanes" (ausgehend von einer Theorie etwa des Inhalts: "Alle Schwäne sind weiß.") als widerlegt gilt. Mit Wahrscheinlichkeitsargumenten allein kann aber die Evolutionstheorie ebenso wenig widerlegt werden wie sie damit als "feststehende Wahrheit" bewiesen werden kann.

Andererseits kann sich eine objektive und "phänomenologische" Betrachtung der Natur, wie sie unserer Vernunft zu eigen ist, dem evolutionären Zusammenhang dieser Natur nicht verschließen; etwa die Genetik, die Evolutionsbiologie, die evolutionäre Soziobiologie zwingen unserer derzeitigen Sehweise (mit der Betonung auf derzeitig) die Annahme einer Evolution des Lebendigen aus einer Wurzel auf. Die dazu theoretisch angenommenen Mechanismen (Mutation und Selektion) sind in der Anwendung auf Pflanzen, Kleinorganismen und in der Viehzucht, aber auch in der Genübertragung gut bewiesen und können nicht angezweifelt werden. Die Theorie selbst funktioniert, weist allerdings Lücken auf, was aber ihren derzeitigen Erklärungswert nicht mindert, der es uns erlaubt, eine rationale statt eine abergläubische Haltung zu unserer Welt einzunehmen. Das aber ist schon sehr viel! Selbst wenn diese Theorie in einzelnen Teilen falsch wäre, so müßte man sie dennoch zumindest vorläufig vorziehen, weil sie den Menschen zwingt, vorurteilsfrei über sich nachzudenken, statt sich die Welt und mit dieser sich selbst anthropozentrisch zu vergotten. Dabei ist ein nicht geringer Vorzug dieser Theorie, daß sie uns rational zu wissen gibt, was die religiöse Schau im Buddhismus (nicht aber im Christentum) vorweggenommen hat: den Zusammenhang und die Zusammengehörigkeit aller Dinge und aller Lebewesen in dieser Welt.

Zwar meine auch ich, daß die von der Evolutionstheorie postulierten Mechanismen allein noch nicht ausreichen, um die Evolution von Weltall, Natur und Mensch ausreichend zu erklären; deshalb ist es aber keinesfalls notwendig, Zuflucht zu einem Gott zu nehmen, auch nicht im Hinblick auf die Sinnfrage – sondern ganz im Gegenteil!

Sowohl was diese Sinnfrage wie was die Welterklärung durch die Evolutuionstheorie anbelangt, sind wir derzeit in der Sichtweise unserer Vernunft ebenso gefangen, wie dies einst auch schon bei den Erklärungsversuchen des Verstandes und seiner Mythen der Fall war. Wie einst aber über den Verstand hinaus die Vernunft eröffnet werden konnte, und so die Ethik (im Gegensatz zur Moral) und die monotheistischen Hochreligionen (im Gegensatz zu den polytheistischen Natur- und Volksreligionen) hervorgebracht werden konnten, warum soll es da nicht möglich sein, eine weitere "Öffnung" über diese Vernunft hinaus im Wege der kulturellen Evolution heraufzuführen? Der Gott, den Du Dir wünschst, ist ein Gott der Vernunft, ebenso wie die mythischen Götter unserer Vorfahren Götter des Verstandes waren – wie Feuerbach zu Recht feststellt, dem jeweiligen rationalen Vermögen entsprechende Projektionen des Menschen. (s. a. Ludwig Feuerbach "Das Wesen der Religion", insbes. 14. u. 15. Vorlesung).

Fehlendes Wissen kann jedenfalls kein Grund dafür sein, vorschnell einem Glauben zu verfallen, und dies womöglich in Form der heute noch bei den meisten Menschen vorherrschenden Vernunftreligionen und deren Verquickung mit dem Aberglauben, die soeben in der Reflexion der Vernunft endgültig abgewirtschaftet haben. Das scheint mir aber weniger ein Grund zur Resignation, denn einer zur Freude: gewinnt der Mensch doch so den "offenen Raum der Transzendenz" für sich selbst, für eigene Aktivität zurück, ohne sich über solche Popanze wie "Erbsünde" oder "Auferstehung" oder "Seele" ängsten zu müssen. So erst wird der Mensch frei zu eigener Verantwortung, zu deren Wahrnehmung er seine Vernunft hat.

Und diese Vernunft reicht schon jetzt, wenn sie auch noch nicht alles weiß, zumindest dazu aus, festzustellen, daß in dieser Welt alles mit natürlichen Dingen zugeht, daß es dazu eines Schöpfers, Wächters und Eingreifers so wenig bedarf wie es schon Epikur wußte; wir sollten unsere Wissensanstrengungen vor allem darauf richten, uns von falschen Vorurteilen in jeder Hinsicht zu befreien, von religiösen ebenso wie von sonstiger Metaphysik (die sich allzugerne gerade auch in der Naturwissenschaft versteckt) und uns freudig den "Wind des Nichtwissens" dort um die Ohren wehen lassen, wo die wirklich offenen Fragen sind, so bleibt uns immer genug zu tun, und wir werden gar keine Zeit dazu zu finden, an einer falsch gestellten Sinnfrage zu verzweifeln: weil wir es ja jederzeit selbst sind, die den Sinn stiften sollen und können.

Auch mir stellte sich einst die Sinnfrage einerseits vom Religiösen her, denn wir wachsen ja in einer christlich geprägten Umwelt auf (die bayer. Staatsregierung zwingt noch heute, wo immer es geht, alle Schüler unters "Kreuz") – wie auch vom Ethischen her, die Welt ist ja nach wie vor "herzlich schlecht" (man muß nur einen Blick auf den Kosovo werfen). Beides habe ich schließlich als Durchgangsstadien begriffen; die Welt hat keinen "prästabilierten" Sinn, umso weniger wir Menschen auf unserer kleinen Erde, außer dem, den wir uns selbst geben. Und selbst noch die verschiedenen Antworten auf die Sinnfrage unterliegen der kulturellen Evolution, je nachdem, welche sich in einer je vorhandenen Umwelt und in ihrem Zusammenstoß als tragfähig erweisen und in die menschliche Tradition eingehen; wie in der biologischen Evolution gibt es auch hierin keine vorgegebene Teleologie. Die einzige "Behauptung", die ich mir persönlich dabei erlaube, ist, daß wir es offenbar, einmal über das gesamte Leben einschließlich des Menschen hinweggegriffen, mit einer stetig zunehmenden Informationsverarbeitung zu tun haben, wenn jedenfalls die Evolutionsstränge nicht durch kosmische Ereignisse "gekappt" werden (was ja schon mehrmals geschah), weil zunächst Informationsvorteile auch Überlebensvorteile bieten. Daß daraus so etwas wie unser "Geist" herausmutierte, hat kein Gott vorhergesehen (sonst müßten wir Gott zum kosmischen "Schleuderer" erklären, denn erst die Vernichtung der Saurier ermöglichte das Heraufkommen der Säuger und damit unseres), das ist ein "Wunder" der Natur, dessen wir uns, indem wir dieses Wunder reflektieren, freuen dürfen. Die Natur spielt, seit es mehr gibt als jene "Singularität" (die wir ebenso wie das "Nichts" nicht einmal denken können, denn auch denken läßt sich nur im Verschiedenen), mittels Wechselwirkung des Verschiedenen mit sich selbst, und treibt damit hervor, was die Umstände "hergeben", und wir Menschen tun im Kleinen dasselbe als Teil dieser Natur. Werden die Wunder der Natur dadurch entwertet, daß dazu kein Gott gebraucht wird? Oder werden sie dadurch nicht noch viel bewundernswerter? Andersherum: was hätte man selbst als Mensch von einem solchen Schöpfer zu denken, der trotz seiner Allmacht und Allwissenheit X Anläufe braucht, um überhaupt erst mal so etwas wie "Geist" in den Menschen hervorzubringen, damit diese "seine" Natur überhaupt auf ihn aufmerksam werden kann? Und wo kommt das "Böse" in der Welt her, wenn nicht von einem Stümper, dem sein "Werk" entglitt? Nun, auf das Uraltproblem der Theodizee will ich hier natürlich nicht weiter eingehen – es ist gar zu blamabel für einen "Gott" ...

Ein Wort zu dem, was ich wohl für das von Dir angesprochene Grundploblem halten darf: Woher geistigen Halt nehmen in einer entgötterten Welt?

Zuerst ein "negatives" Argument: Halt gewinnt man sicherlich nicht dadurch, indem man versucht, der eigenen Anschauung widersprechende Ansichten wiederum zu widerlegen, und dies hauptsächlich damit, indem man Außenseitermeinungen bemüht, um die herrschende Meinung zu widerlegen. Dies wäre ein Verhalten nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Dies scheinen mir in Wirklichkeit Verteidigungsanstrengungen, um eine quasi sturmreif geschossene Bastion dennoch zu halten.

Belehren jedoch kann und will ich Dich natürlich keinesfalls – zu einer eigenen neuen Befestigung kannst Du nur ganz allein gelangen. Und mir will scheinen, daß Du auf Deine Art dazu bereits auf dem besten Wege bist; denn Du hast völlig recht, daß man zuerst einmal das, was einem wichtig, vielleicht "heilig" ist, nicht einfach und vorschnell fallen läßt wie eine heiße Kartoffel, sondern es zu verteidigen sucht – denn dazu ist die Sinnfrage zu wichtig, und wer hier (wirklich) auf Gott vertraut (hat), dem wird es sauer und ein hartes Stück Arbeit, hierin umzulernen.

Soviel aber wußte doch schon Luther, der das NT ernst nahm: einen geistigen Halt findet der Mensch nicht außerhalb seiner selbst, sondern nur in seinem Innern; das aber ist ja ganz natürlich, denn der Mensch ist das einzige Wesen in dieser Welt, das über so etwas wie "Geist" verfügt. Wo also sollte er "Geist" finden, wenn nicht in sich?

Wie aber wird der Geist des Individuums "fruchtbar", wo nimmt er sein Wissen her? Nicht von einer göttlichen Offenbarung in einem "Sondermedium", wie der Papst in "Fides et Ratio" uns glauben (sic) machen will, sondern aus dem Studium seiner eigenen innerweltlichen Tradition, die den Menschen instinktiv so wichtig ist, daß sie sich seit Jahrtausenden um deren Erhaltung, Weitergabe und Erweiterung bemühen. Der Mensch will und muß wissen, was er selbst ist; das erfährt er aber allein dadurch, daß er den Weg der menschlichen = kulturellen Entwicklung nachgeht von ihrem Beginn an bis zu sich selbst hin, indem er kritisch die vorhandene Tradition sichtet – womit er gleichzeitig per se ipsum quasi in einem Durchgang sowohl Erkenntniskritik als auch die Befreiung von eigenen falschen Vorurteilen leisten kann. Oder aber, was wohl der häufigere Fall ist, auf diesem Wege an irgendeiner, seinem eigenen Naturell entsprechenden "Punkte" stehenbleibt, weil er in der Tradition solche Aussagen gefunden hat, die seine Suche nach Sinn erfüllen. Die reiche menschlich-kulturelle Tradition hält hier für jedes möglich Individuum immer schon etwas parat, das zumindest auf Ansätze von Antworten hinweist und so Anstoß zu eigener Aktivität in Richtung auf die Sinnfrage sein kann – und genau daraus erwächst das, was Du als "geistigen Halt" bezeichnest.

Du siehst, diese Antwort läßt sich nicht inhaltlich geben, sondern nur funktionell: auf welchem Wege etwa ein solcher Halt gefunden werden könne; hier zum Schluß dazu noch ein Ratschlag, der einzige, den ich mir hier erlauben möchte:

Wenn Dir jemand, sei es aus der Tradtion. sei es unter den Mitlebenden, seinen eigenen "Sinn" aufdrängen möchte, sei es in Religion, Philosophie oder mittels Wissenschaft (hinter jeder bedeutsamen wissenschaftlichen Aussage, die sich als unumstößliche Wahrheit ausgibt, steht ja ein "metaphysischer Entschluß", die fälschliche "Zementierung" einer Hypothese!), so sei mißtrauisch. Was Du in Deinem Schreiben, für das ich mich nochmals sehr bedanke, bereits "wissenschaftskritisch" bewährst, diese kritische Bewegung muß sich vor allem auch gegen eigene und oft schwer ausrottbare Vorurteile in den eigenen Denkgewohnheiten wenden, und dazu taugen als Anstoß, wenn man sie nur recht versteht, jene beiden Sätze bei Sokrates, mit denen die eigentliche Philosophie und Metaphysik des Abendlandes beginnt (und vielleicht auch endet): "gnoti se auton" (erkenne dich selbst) – und: "ich weiß, daß ich nichts weiß" (s.a. zu Sokrates in "Was ist Dialektik" auf meiner Homepage).

In diesem Sinne wünsche ich Dir eine spannende und freudige "Suche nach Sinn" (denn auch hier ist der Weg das Ziel ...) – und sei sicher, jene Verzweiflung, die Dein Denken dabei anwandeln mag, ist nichts als ein notwendiges Stadium auf diesem Weg.


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